Beitrag im Newsletter Nr. 24 vom 14.12.2023

PD Dr. habil. Tuuli-Marja Kleiner

»Faktencheck: Bürgerschaftliches Engagement in ländlichen Räumen«

Inhalt

Was heißt eigentlich »ländlich«?
Bürgerschaftliche Engagement am Land und in der Stadt
Diversität und soziale Ungleichheiten: Wer engagiert sich in ländlichen Räumen – und wer nicht?
Der Engagementbereich Kultur
Bürgerschaftliches Engagement und sozialer Zusammenhalt im ländlichen Raum
Handlungsempfehlungen
Autorin
Literatur
Redaktion

Was heißt eigentlich »ländlich«?

Die ländlichen Gebiete Deutschlands zeichnen sich durch eine hohe Vielfalt in Bezug auf Siedlungsstruktur, geografische Lage und sozioökonomische Situation aus (Küpper/Milbert 2020: 88). Das Institut für Lebensverhältnisse in ländlichen Räumen hat daher eine vierstufige Typologie entwickelt. Diese identifiziert ländliche Räume nach zwei Dimensionen: Ländlichkeit (eher ländliche und sehr ländliche Räume) und sozioökonomische Lage (gute und weniger gute sozioökonomische Lage). Danach ist eine Region umso ländlicher, je geringer die Siedlungsdichte, je höher ihr Anteil an land- und forstwirtschaftlicher Fläche, je höher der Anteil der Ein- und Zweifamilienhäuser, je geringer die Bevölkerungszahl im Umkreis besiedelter Flächen und je abgelegener die Region von großen Zentren ist (Küpper/Milbert 2020: 91f.). So gelten 267 von 361 deutschen Kreisregionen als ländlich, was etwa 91 Prozent der Bundesfläche und 57 Prozent der Bevölkerung entspricht. Davon werden 98 Kreisregionen als »sehr ländlich« eingestuft und weisen eine »weniger gute sozioökonomische Lage« auf.

Bürgerschaftliche Engagement am Land und in der Stadt

Für diese peripheren, strukturarmen Räume hat bürgerschaftliches Engagement eine ganz besondere Bedeutung. Ohne die zahlreichen Freiwilligen könnten Regionen mit eingeschränkten finanziellen Gestaltungsspielräumen Angebote in Sport, Kultur und Freizeit kaum aufrechterhalten. Darin sind sich die meisten Forscher*innen einig (Kausmann et al. 2019). Empirisch zeigt sich tatsächlich ein höheres Niveau bürgerschaftlichen Engagements in ländlichen im Vergleich zu nicht-ländlichen Räumen. Je ländlicher eine Region ist, desto eher engagieren sich die Menschen (Kleiner/Kühn 2023:19). Andererseits steigt das Engagement mit der sozioökonomischen Stärke einer Region (Kleiner/Kühn 2023:22). Engagement entsteht also nicht automatisch in strukturschwachen Räumen aufgrund eines Mangels an Angeboten. Die Unterschiede zwischen ländlichen und nicht-ländlichen Räumen gehen vor allem auf eine Überrepräsentation von Engagierten in den Bereichen Sport und Bewegung, Kultur und Musik, Freizeit und Geselligkeit, Religion und Kirche sowie Unfall-/Rettungsdienst/Feuerwehr zurück (Kleiner/Kühn 2023:12). In all diesen Bereichen scheint eine gewisse Kompensation in ländlichen Räumen plausibel zu sein, da kommerzielle Angebote dort vergleichsweise rar sind (Priemer et al. 2017). Geringe Unterschiede zwischen ländlichen und nicht-ländlichen Räumen finden sich hingegen in den Bereichen Soziales, Schule und Kindergarten, Jugendarbeit und Erwachsenenbildung, berufliche Interessenvertretung, Gesundheit sowie Justiz und Kriminalität.

Diversität und soziale Ungleichheiten: Wer engagiert sich in ländlichen Räumen – und wer nicht?

Weniger Einigkeit herrscht dagegen in der Frage, ob ein hohes Maß an freiwilligem Engagement in Vereinen generell sozial integrierend wirkt. Die meisten politischen Eliten und einige Engagementforscher*innen glauben, dass Freiwilligenarbeit eng mit einer glücklichen und sozial integrierten Bevölkerung verbunden sei (Roth 2004; Stricker 2006; Roßteutscher 2009). Freiwilligenvereinigungen werden aus dieser Perspektive als Instrumente zur Überwindung sozialer Gräben gesehen, die Konflikte, Ungleichheiten und Misstrauen reduzieren (Babchuk und Edwards 1965; Gabriel et al. 2002; Olson 1982; Putnam 2000; Wiertz 2015). Auf der Grundlage dieser Annahmen erklären westliche Regierungen bürgerschaftliche Selbstorganisation gerne zum Fundament demokratischer Kultur und sozialer Integration (van Deth 2010; Roßteutscher 2002; Salemink und Strijker 2018; Uitermark 2015). Die ausführliche Behandlung freiwilligen Engagements im Dritten Bericht der Bundesregierung zur Entwicklung ländlicher Räume (BMEL 2020) und nicht zuletzt die Gründung der Deutschen Stiftung für Engagement und Ehrenamt (DSEE) im Juli 2020 zeugen von diesen Zuschreibungen. Empirisch betrachtet führt bürgerschaftliches Engagement in der Tat zu einer besseren Vernetzung der Engagierten, zu mehr Zusammenhalt und damit zu mehr Vertrauen unter den Assoziationsmitgliedern. Ob Vereinigungen jedoch auch die ihnen zugeschriebenen spill-over Effekte zeigen, das heißt, ob Nicht-Engagierte ebenfalls von den positiven Wirkungen des Engagements profitieren, ist dagegen umstritten. Denn Freiwilligenorganisationen können auch als Kontexte betrachtet werden, in denen Menschen bevorzugt mit sozial ähnlichen anderen interagieren und somit die Entwicklung von Bindungen zu sozial ähnlichen Personen fördern, anstatt soziale Gräben zu überbrücken (Feld 1982; Marsden 1987; McPherson et al. 1992; Pollack 2004; Popielarz und McPherson 1995). Jüngere empirische Studien zeigen, dass sich in den letzten Jahren die soziale Ungleichheit innerhalb des Dritten Sektors erheblich verstärkt hat. Einkommens-, Bildungs- und Klassenunterschiede spiegeln sich in Engagementunterschieden wider, wobei höhere soziale Klassen sich deutlich häufiger engagieren als niedrigere (Kleiner 2022a, b). Höhere Klassen besetzen auch häufiger statusrelevante Positionen innerhalb von Vereinen und Initiativen (Kleiner 2022b). Die hierarchischen Strukturen der Gesellschaft reproduzieren sich demnach im bürgerschaftlichen Engagement.

Der Engagementbereich Kultur

Abbildung 1 zeigt beispielhaft die relativen Häufigkeiten bürgerschaftlichen Engagements im Bereich Kultur und Musik aufgeschlüsselt nach Bildung der Befragten für ländliche und nicht-ländliche Räume. Es zeigt sich eine eindeutige Tendenz: Je höher der Bildungsabschluss, desto höher die Wahrscheinlichkeit sich in diesem Bereich zu engagieren. So sind in ländlichen Räumen etwa 3,7°Prozent der Personen ohne Bildungsabschluss engagiert, im Vergleich zu 16,1°Prozent der Personen mit Hochschulabschluss. Personen mit Berufsausbildung liegen mit 8,5°Prozent dazwischen. Für nicht-ländliche Räume ergibt sich ein sehr ähnliches Bild. Auch hier steigt mit dem Bildungsstand die Wahrscheinlichkeit zum Engagement statistisch signifikant an. Eine Prüfung dieses Zusammenhangs für weitere Bereiche zeigt immer wieder eine ähnliche Verteilung, selbst im Sportbereich.

Abb. 1: Engagement im Bereich Kultur & Musik nach Bildung (2019)
Anmerkung: Eigene Berechnung auf Grundlage des Deutschen Freiwilligensurveys 2019, gewichtet. Basis bilden alle gültigen Werte (Engagement n=21.751). Dargestellt sind die Anteile an Engagierten innerhalb der verschiedenen Bildungsgruppen. Lesebeispiel: Im Jahr 2019 gaben 16,1°Prozent der Befragten in ländlichen Räumen mit Hochschulabschluss an, sich zu engagieren.

Bürgerschaftliches Engagement und sozialer Zusammenhalt im ländlichen Raum

Diese bildungsmäßige Ungleichverteilung ist gesellschaftlich betrachtet durchaus problematisch. Schließlich erbringen Engagierte nicht nur Leistungen für die Gemeinde, die andere konsumieren. Vielmehr gestalten Engagierte aktiv ihr Gemeinschaftsleben; sie tragen Verantwortung, können aber auch ihre Interessen und Vorstellungen in die Deutungsdiskurse ihrer lokalen Lebensumwelt einbringen und diese mitgestalten. Nicht-Engagierte sind dagegen aus diesen Prozessen eher ausgeschlossen. Dies kann zu Frustrationen und Unzufriedenheiten führen und gegebenenfalls sogar den Boden für die Entfremdung von der (politischen) Gemeinschaft bereiten (Kleiner/Kühn 2023: 81).

Handlungsempfehlungen

Um soziale Ungleichheiten im Engagement abzumildern, können Vereine, Verbände und Freiwilligenorganisationen verschiedene Maßnahmen ergreifen. Bei der Rekrutierung von Nachwuchs sollten sie zunächst sensibel für das Thema soziale Ungleichheit sein. Personen, die im Habitus von dem anderen Engagierten abweichen, sollten respektiert, gleichbehandelt und bei der Auswahl relevanter Positionen gleichermaßen berücksichtigt werden. Auch kann eine gezielte Ansprache bisher unterrepräsentierter Gruppen dazu beitragen, Ungleichheiten auszugleichen und bislang ungenutztes Potential zu heben. Um Zugangshürden zu minimieren, sollten niedrigschwellige Informationsangebote geschaffen werden, beispielsweise über Engagementmöglichkeiten an Haupt-, Real- und Förderschulen (Kleiner und Kühn 2023). Schließlich sollten die Bedürfnisse und Partizipationswünsche aller sozialen Teilgruppen von Vereinsvorständen gleichermaßen berücksichtigt werden, während nicht-funktionale Hierarchien innerhalb der Organisationen abgebaut werden sollten. Insbesondere jüngere Engagierte wollen von Anfang an auf Augenhöhe mitwirken und nicht ähnlichen hierarchischen Verhältnissen wie in der Arbeitswelt ausgesetzt sein.


Beitrag im Newsletter Nr. 24 vom 14.12.2023
Für den Inhalt sind die Autor\*innen des jeweiligen Beitrags verantwortlich.

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Autorin

PD Dr. habil. Tuuli-Marja Kleiner ist Senior Researcher am Thünen-Institut für Ländliche Räume, Privatdozentin an der Goethe-Universität in Frankfurt/Main und Mitglied des Sprecherteams der AG Zivilgesellschaftsforschung des BBE.

Kontakt t.kleiner@thuenen.de


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