Beitrag im Newsletter Nr. 10 vom 20.5.2020

Religiöse Vielfalt und Zivilgesellschaft: Die Muslimische Jugend in Deutschland e.V.

Tasnim El-Naggar

Inhalt

Über die Muslimische Jugend in Deutschland
Muslimische Jugendliche ehrenamtlich aktiv
Solidarität und ein selbstverständliches Miteinander durch Kooperationen und Bündnisse
Gegen (antimuslimischen) Rassismus und Diskriminierung!
Wohin geht die Reise?
Autorin
Redaktion

Über die Muslimische Jugend in Deutschland

Die Muslimische Jugend in Deutschland e.V. (MJD) wurde 1994 gegründet und gehört somit zu den ältesten muslimischen Jugendverbänden in Deutschland. Anlass der Gründung war vor allem, jenseits von Moscheen und Erwachsenenverbänden, die auch heute noch häufig entlang herkunftsethnischer Linien organisiert und geprägt sind, eine unabhängige muslimische Organisation von Jugendlichen für Jugendliche verschiedener Hintergründe zu ermöglichen. Fokus ist dabei eine gesunde Identitätsentwicklung als muslimische und zugleich deutsche Jugendliche, was durch verschiedene Angebote gefördert wird. Die Vereinbarkeit von Muslimsein und Deutschsein bildet eines der Schwerpunktthemen der MJD. So sollen Jugendliche aktiv erleben, dass ein religiöses Bewusstsein sehr gut mit verschiedenen Lebensweisen vereinbar ist und sie selbstverständlicher Teil dieser Gesellschaft mit ihren Pflichten und Rechten sind. Die Säulen der Muslimischen Jugend sind ein in die hiesige Gesellschaft eingebettetes Islamverständnis, Stärkung der Demokratie und der Zugehörigkeit zu Deutschland, ehrenamtliches Engagement und Geschlechtergerechtigkeit.

Muslimische Jugendliche ehrenamtlich aktiv

Die Muslimische Jugend ist ein Verein, der auf ehrenamtlicher Arbeit basiert. Mit viel Leidenschaft investieren Jugendliche ihre Zeit und Fähigkeiten, um für sich selbst, andere muslimische Jugendliche und auch die Gesellschaft etwas zu bewegen. Zum einen erfolgt dies aus dem Antrieb heraus, für diese Welt etwas Gutes zu tun, zum anderen aus der Chance heraus, eigene Talente und Fähigkeiten frei von Be- und Verurteilungen im »Safer Space« zu entdecken und einzubringen und natürlich auch – wie in anderen Jugendvereinen – mit der Absicht, eine gute Zeit in einer vertrauten »Wohlfühlumgebung« mit Freund*innen zu haben.

Ob Lokalkreise, Qualifizierungsworkshops, Winterakademie, Summer School, regionale Meetings, Herbstfreizeiten, das Jahres- oder Ostertreffen, Maßnahmen der politischen und zivilgesellschaftlichen Bildung oder auch Reisen – die muslimischen Jugendlichen organisieren eigenständig vielfältige und ausgewogene Angebote und dürfen die Erfahrung machen: Mein Beitrag ist wertvoll und erwünscht.

Oft stehen auch mitmenschliche Aspekte im Vordergrund, etwa bei Spendenaktionen wie »MJD macht Schule« oder »MJD baut Brunnen«, bei Blutspenden- oder Stammzellregistrierungs-Aktionen, bei der Verteilung von Care-Paketen an Obdachlose oder Geschenken in Altenheimen, oder bei Müllsammelaktionen im Rahmen von »Ramadan – Segen für Deutschland« – eine Kampagne, die 2016 den Publikumspreis der Buntblick-Verleihung des Landesjugendrings NRW erhielt. Ziel ist es, als »segenbringender« Teil der Gesellschaft Gutes zu tun, und dabei vielleicht auch diejenigen zu erreichen, die sonst eher wenig mit jungen Muslim*innen zu tun haben. Die wunderbaren und liebevollen Gespräche in der Begegnung mit diesen Menschen ist Zeugnis davon, dass sie über die Anwesenheit der jungen Menschen erfreut und dankbar sind und dabei – ganz nebenbei – einen Teil ihrer Stereotype ablegen können.

Solidarität und ein selbstverständliches Miteinander durch Kooperationen und Bündnisse

Seit den Anfängen der Muslimischen Jugend sind Kooperationen und Dialog ein wichtiger Schwerpunkt der Arbeit. Nur so ist es möglich, sich kennenzulernen, ein friedliches und selbstverständliches Miteinander zu schaffen, Vertrauen ineinander zu haben und vorhandene Vorurteile abzubauen. Die Kooperationspartner bestehen u.a. aus religiösen Organisationen wie der Arbeitsgemeinschaft der evangelischen Jugend, mit der eine verlässliche und seit vielen Jahren vertraute Partnerschaft besteht, der evangelischen Jugend, verschiedenen Kirchengemeinden oder den christlichen Pfadfindern. Hier ist es der Glaube an Gott, der Christ*innen und Muslim*innen verbindet. Mit Perspektive auf Teile der Gesamtgesellschaft kann das aber auch bedeuten: belächelt werden dafür, dass man an Gott glaubt und danach lebt. So ist auch diese Erfahrung - über ebenfalls selbstverständlich vorhandene Unterschiede hinweg - etwas Verbindendes und Solidaritätsstiftendes.

Auch Kooperationen mit nicht-religiösen, politischen oder wissenschaftlichen Organisationen bestehen seit Langem, geprägt von positiven Erfahrungen und Eindrücken. Darunter sind beispielsweise verschiedene Landes- oder Stadtjugendringe in Nordrhein-Westfalen, Berlin, Hessen oder Niedersachsen, Antirassismus-Verbänden wie IDA e.V. oder Projekte der politischen Bildung mit Schwerpunkt etwa auf Demokratie und Partizipation wie das »Projekt P«, »Extrem gegen Extrem« oder »Alle anders – alle gleich«. Ebenso beteiligt sich die MJD an wissenschaftlichen Studien und Fachforen etwa der Universität Hildesheim oder der Universität Frankfurt (Oder).

Eine der erfolgreich durchgeführten Kampagnen der MJD war das Projekt »Teegegnung« (2015/2016) unter Schirmherrschaft der ehemaligen Familienministerin Manuela Schwesig. Idee war es, dass muslimische Jugendliche und ihre Familien nichtmuslimische Nachbar*innen, Bekannte und Interessierte zu sich nach Hause einladen, um miteinander gemütlich Tee zu trinken, sich über Gott und die Welt zu unterhalten und mehr voneinander zu erfahren. Das Projekt schloss mit einer Fachtagung zum Thema »Junge Muslime zwischen Radikalisierung und Ausgrenzung« ab. Andere Formate waren verschiedene Bildungsreisen, etwa Abgeordnetenfahrten oder Gedenkstättenfahrten nach Auschwitz, sowie Dialogreisen ins Ausland wie etwa nach Bosnien, Marokko oder Griechenland.

Mit »Junge Muslime als Partner« (2015-2019), gefördert im Rahmen von »Demokratie leben!«, wurden verschiedene Kooperationen zwischen evangelischen und muslimischen Jugendorganisationen in unterschiedlichen Städten initiiert. Vor Ort wurden gemeinsame Projekte realisiert, wie etwa eine gemeinsame interreligiöse/interkulturelle JuLeiCa-Schulung oder Bildungs-/Freizeitaktivitäten wie Dialogrunden, Jugend-Fastenbrechen, Gottesdienste, eine Fahrradtour durch die Stadt oder gegenseitige Einladungen zu regulären Veranstaltungen der Organisationen. Mit dem Projekt »JETZT erst recht!« (2018-2020), ebenfalls gefördert durch »Demokratie leben!« und die EKD, bei dem muslimische und christliche Jugendorganisationen gemeinsam Projekte für Geflüchtete ins Leben rufen, konnte für die Muslimische Jugend auch eine erste hauptamtliche Stelle geschaffen werden. Ziel dieser Projekte ist es, die Etablierung muslimischer Jugendverbände zu unterstützen, ihre Arbeit sichtbarer zu machen und den Dialog zu fördern.

Gegen (antimuslimischen) Rassismus und Diskriminierung!

Mit zunehmender Erstarkung des Rechtspopulismus und auch rechtsextremer Gewalt in Deutschland wird es umso wichtiger, dem entschieden etwas entgegenzusetzen – und zwar gesamtgesellschaftlich und unabhängig davon, ob selbst betroffen oder nicht.

Zum einen ist das Anliegen der MJD dabei ein Empowerment betroffener Menschen und das Schaffen von »Own Agency«, also einem eigenen Schaffensraum, der jenseits von politischen Debatten und fremdbestimmten, problemorientierten Zuschreibungen besteht. Das bezieht sich einerseits auf Jugendliche, die an der MJD teilhaben und speziell von antimuslimischem Rassismus betroffen sind. Dabei sind die Aktivitäten der MJD selbst Programm, denn sie alle bieten einen Safer Space für Betroffene ohne Angst vor Hass und Gewalt und bieten Raum für Austausch. Darüber hinaus sorgen sie nicht zuletzt für die Aktivierung von Selbstheilungskräften und neuer positiver Energie durch die Verbindung in der Gemeinschaft und die Selbstvergewisserung durch Realisierung von Aktivitäten: Ich kann etwas geben, etwas bewegen!

Darüber hinaus ist es der MJD aber auch ein großes Anliegen, mit anderen (intersektional) Betroffenen von Rassismus wie Schwarzen oder Sint*ezza und Rom*nja oder von weiteren Diskriminierungsformen wie Sexismus, Klassismus, Ableismus Betroffenen solidarisch zu sein, wann immer dies erforderlich ist.

Zum anderen möchte die muslimische Jugend vor allem im politischen Raum, aber auch in der Arbeit mit Dialogpartner*innen, Aufklärungsarbeit leisten und mit starker Stimme deutlich machen: Wir sind real von antimuslimischem Rassismus betroffen – nicht, um eine Opferhaltung einzunehmen, sondern vielmehr, um ein Bewusstsein für diese gesellschaftlich bedenkliche Entwicklung zu schaffen, eine Begegnung mit Betroffenen zu ermöglichen und weil es Teil eines demokratischen Staates ist, Gerechtigkeit und Solidarität einzufordern. So betrifft antimuslimischer Rassismus sowohl die individuelle als auch die institutionelle Ebene. Wegen des Kopftuches und trotz guter Qualifikation nur schwer Arbeit zu bekommen, eine Wohnung etc. zu finden oder wegen eines Vollbarts regelmäßig von Racial Profiling betroffen zu sein ist eine Seite der Medaille. Die andere betrifft die MJD als Institution: Die zeitweise Beobachtung durch den Verfassungsschutz stigmatisierte. Sie erschwerte vielfach das Engagement und die Begegnung auf Augenhöhe mit anderen Akteur*innen der Zivilgesellschaft, die Mitgliedschaft in Bündnissen und nicht zuletzt auch den Zugang zu Fördermitteln. Sie entzog Privilegien, die selbstverständlich sein sollten. Die in den Berichten geäußerten Vorwürfe zu entkräften hat einige Jahre und viel Kraft gekostet, die dadurch weniger in gesellschaftliches Engagement investiert werden konnte.

Von Glück zu reden ist daher einerseits von den jungen Muslim*innen, die sich unermüdlich und trotz der teilweise auch emotional sehr herausfordernden Erfahrungen mit antimuslimischem Rassismus für ihre Rechte, den Abbau von Stereotypen und Sensibilisierung für Rassismus und offenen Dialog einsetzen. Andererseits sind da die starken und furchtlosen Bündnispartner*innen an der Seite der MJD, die sie in all den Jahren bestärkt und nach Kräften unterstützt haben - ungeachtet der politischen Meinung, Ressentiments, zweifelhaften Debatten - und sich um Augenhöhe bemüht haben und dies nach wie vor tun. Das »Kompetenznetzwerk Muslim- und Islamfeindlichkeit« (2020-2024), an dem die MJD sich aktiv beteiligt, greift all das auf und möchte z.B. durch Bildungsangebote, verschiedene Veranstaltungsformate, Stärkung der Beratungsstrukturen und Bündnisse sowie Forschung antimuslimischem Rassismus entgegentreten und auf eine ambiguitätstolerante Gesellschaft hinwirken.

Wohin geht die Reise?

Muslimische (Jugend-)Organisationen gehören zur deutschen Vereinslandschaft genauso wie alle anderen Institutionen. Ihre Stimme ist ein wertvoller Beitrag, der neue Perspektiven auf Lebensrealitäten und den Blick über den Tellerrand unserer längst bestehenden Einwanderungsgesellschaft bietet. Muslimische (Jugend-)Organisationen haben das Recht, in der Begegnung ihre Stimme und ihre Interessen zum Ausdruck zu bringen und ihre Privilegien zu nutzen – so wie auch andere Organisationen selbstverständlich das Recht dazu haben.

In der Praxis bedeutet das für das Bewegen im öffentlichen Raum gemeinsam mit anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen in unserer pluralen, diversen und demokratischen Gesellschaft: Aushandlungsprozesse als Teil des Weges annehmen und gestalten und dabei ein Gespür für das Gegenüber, die Umgebung und die gesellschaftliche/politische Stimmung behalten. Rückblickend auf das 26-jährige Bestehen der MJD kann man getrost von einer Berg- und Talfahrt sprechen, gesäumt von zahlreichen gesellschaftlichen Entwicklungen und Ereignissen, von vielen Errungenschaften und Verlusten und von der Erkenntnis, dass sich »Weitermachen« auf jeden Fall lohnt.

Denn: Diese Gesellschaft gehört uns allen, und wir als MJD möchten gemeinsam daran arbeiten, sie für alle Bürger*innen noch besser, gerechter, friedlicher und solidarischer zu machen.


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Für den Inhalt sind die Autor*innen des jeweiligen Beitrags verantwortlich.

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Autorin

Tasnim El-Naggar (36) lebt in Hannover und ist seit ihrer Jugend in der Muslimischen Jugend aktiv. Ihre deutsch-muslimische Identität hat sie dort gefunden und ist auch heute noch sehr dankbar dafür. Sie möchte dabei unterstützen, dies auch anderen jungen Muslim*innen zu ermöglichen, sie zu empowern und die Stimme junger Muslim*innen in der Öffentlichkeit stark zu machen. Sie studierte Politikwissenschaft, war als Redakteurin tätig und ist als erste Hauptamtliche in der MJD im Projekt »JETZT erst recht!« und im neu initiierten Kompetenznetzwerk gegen Muslim- und Islamfeindlichkeit aktiv.

Kontakt: tasnim.e@muslimischejugend.de

Mehr zur Muslimischen Jugend in Deutschland e.V. hier:

www.muslimischejugend.de

https://www.facebook.com/MJD.Jahresmeeting/

https://www.instagram.com/mjd_e.v/


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