Beitrag im Newsletter Nr. 10 vom 20.5.2020

Religiöser Pluralismus und Bürgerschaftliches Engagement aus der Bahá'í-Perspektive

T. P.

Inhalt

Das Prinzip der Einheit in Vielfalt
Bürgerschaftliches Engagement
Autorin
Redaktion

Der Bahá'í-Glaube ist die jüngste Weltreligion. Der weltweit verbreitete Bahá'í-Glaube geht auf den Gottesoffenbarer Bahá'u'lláh (1817-1892) zurück und hat Anhänger verschiedenster kultureller Hintergründe. Ziel des Bahá'í-Glaubens ist die geistige Erneuerung der Menschheit hin zum Bewusstsein über ihre Einheit, welche letztlich zu einer friedlichen und gerechten Weltordnung führen soll.

Das Prinzip der Einheit in Vielfalt

Die »Einheit der Menschheit in Vielfalt« ist nicht nur die zentrale eschatologische Erwartung des Bahá'í-Glaubens, sondern ein Ziel, dessen Erreichung sich Bahá'í auf allen Erdteilen widmen. Wie ist dieses Prinzip auf die Frage des religiösen Pluralismus anzuwenden?

Im Bewusstsein darüber, dass es sich bei der »Einheit in Vielfalt« um ein komplexes und vielschichtiges Konzept handelt, gilt es eine differenzierte Sichtweise darzustellen. »Einheit« und »Vielfalt« ist ein kontradiktorisches Begriffspaar, sodass es erforderlich ist, die beiden Prinzipien im Sinne einer praktischen Konkordanz im Lichte voneinander auszulegen.

Ausgangspunkt beim Bahá'í-Verständnis des Konzepts der Vielfalt ist zunächst das Gebot der »eigenständigen Suche nach Wahrheit«. Der einzelne Mensch wird als mündiges Wesen verstanden, das etwa in Fragen der religiösen Zugehörigkeit zu jedem Zeitpunkt frei über seine Überzeugung entscheidet. Dieses Prinzip spiegelt sich auch darin wider, dass die religiöse Zugehörigkeit zum Bahá'í-Glauben nicht qua Geburt erworben wird, sondern der Beitritt erst mit dem 15. Lebensjahr, dem sog. »Alter der Reife«, gestattet ist. Das Prinzip drückt sich zudem darin aus, dass es im Bahá'í-Glauben keine Geistlichen oder kirchenähnliche Strukturen gibt. Somit trägt das Prinzip der »eigenständigen Suche nach Wahrheit« zum Nährboden bei, aus dem grundsätzlich eine religiös plurale Gesellschaft wachsen kann.

Das Prinzip der Einheit findet sich unter anderem wieder in den Konzepten der Einheit Gottes, der Einheit der Menschheit und der Einheit der Religionen. Die Einheit der Religonen bedeutet für Bahá'í, dass es nur einen Gott gibt, der sich zu verschiedenen Zeiten immer wieder durch Gottesboten offenbart. So haben alle Religionen denselben göttlichen Ursprung und der Kern einer jeden Religion ist derselbe. Da die menschliche Zivilisation jedoch immer weiter fortschreitet und zu verschiedenen Zeiten unterschiedliche Bedürfnisse vorherrschen, bedarf es von Zeitalter zu Zeitalter der Erneuerung einiger Prinzipien und Praktiken. In zahlreichen mystischen und apologetischen Schriften hat Bahá'u'lláh das Prinzip der Einheit der Religionen und der fortschreitenden Gottesoffenbarung dargelegt. Er schreibt: »O ihr streitenden Völker und Geschlechter der Erde! Wendet euer Angesicht der Einheit zu und laßt euch vom Glanz ihres Lichtes bescheinen. Versammelt euch, und beschließt um Gottes willen, alles auszurotten, was die Quelle des Streites unter euch ist. Dann werden die Strahlen dieses mächtigen Lichtkörpers die ganze Erde umhüllen, ihre Bewohner werden zu Bürgern einer Stadt werden und auf demselben Thron sitzen. […] Ohne Zweifel verdanken die Völker der Welt, welcher Rasse oder Religion sie auch angehören, ihre Erleuchtung derselben himmlischen Quelle und sind einem einzigen Gott untertan. Unterschiede der Regeln und Riten, denen sie unterstehen, müssen den wechselnden Anforderungen und Bedürfnissen der Zeitalter zugeschrieben werden, in denen sie offenbart wurden.«

Bahá'í glauben, dass das Reifezeitalter der Menschheit begonnen hat, was soviel bedeutet wie eine geistige Aufklärung. Sie erkennen Bahá'u'lláh als die Manifestation Gottes für die heutige Zeit an, welcher der Menschheit verdeutlicht hat, dass dieser Reifeprozess in der Einheit der Menschheit und dem Weltfrieden münden muss. Vor diesem Hintergrund vertreten sie die Überzeugung der Einheit der Religion(en) und bemühen sich dieses Verständnis an andere zu vermitteln. Da die Bahá'í die Einheit der Religion(en) jedoch immer im Zusammenhang mit der eigenständigen Suche nach Wahrheit des einzelnen und der kulturellen Vielfalt der Menschheit verstehen, sind sie davon überzeugt, dass diese Einheit nur durch eine Wandlung des Bewusstseins, insbesondere durch die Hinwendung zu Geistigkeit, zu verwirklichen ist, nicht jedoch durch Zwang. Bahá'u'lláh hat die Verbreitung des Glaubens durch Gewalt und Zwang explizit verboten.

Vielfalt muss jedoch von einem blinden Streben nach Pluralismus um jeden Preis unterschieden werden. So schrieb Abdu'l-Bahá (der Sohn und Nachfolger Bahá'u'lláhs): »dass diese Verschiedenheiten von zweierlei Art sind. Die eine führt zur Zerstörung; sie entspricht dem Streit zwischen kriegführenden Völkern und wetteifernden Nationen, die sich gegenseitig zerstören, Familien ausrotten, sich aller Ruhe und allen Wohlergehens berauben und in Blutvergießen und Roheit versinken. Dies ist tadelnswert. Die andere Art von Verschiedenheit ist Mannigfaltigkeit. Sie ist reine Vollkommenheit und läßt göttliche Gnade erscheinen. Betrachtet die Blumen eines Gartens. Obgleich sie verschiedener Art, Farbe, Form und Erscheinung sind, trinken sie doch dasselbe Wasser, werden vom gleichen Windhauch berührt und wachsen durch die Wärme und das Licht derselben Sonne; diese Mannigfaltigkeit und Verschiedenheit führen jedoch dazu, daß jede die Schönheit und Herrlichkeit der anderen steigert.«

Im Bahá'í-Glauben werden einige Schranken für das Streben nach religiösem Pluralismus definiert. So hat Abdu'l-Bahá gesagt, dass: »wenn die Religion zur Ursache von Abneigung, Haß und Spaltung wird, so wäre es besser, ohne sie zu sein, und sich von einer solchen Religion zurückzuziehen wäre ein wahrhaft religiöser Schritt«. Eine fragmentierte Gemeinschaft, mangelnde Zivilcourage und Engagement können Ausflüsse von zu starker Abgrenzung sein. Zudem entsteht so der Nährboden für Vorurteile, welche nach der Bahá'í-Anschauung als schlimmes Übel angesehen werden: »Rassische, vaterländische, religiöse und Klassenvorurteile waren und sind die Ursache für den Niedergang der Menschheit (Abdu'l-Bahá).«

Daher müsste, nach Auffassung der Autorin, gesellschaftlicher Pluralismus durch bürgerschaftliches Engagement und staatliche Maßnahmen flankiert werden, die den offenen Kontakt zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Akteuren ermutigen: »[...] verkehre mit den Anhängern aller Religionen im Geist des Wohlwollens und der Verbundenheit (Bahá'u'lláh)«, »In größter Einigkeit und Harmonie müssen sie in den Gotteshäusern der anderen Gott verehren und den Fanatismus ablegen (Abdu'l-Bahá).«

Bürgerschaftliches Engagement

»Sei wie eine Lampe für die, so im Dunkeln gehen, eine Freude den Betrübten, ein Meer für die Dürstenden, ein schützender Port für die Bedrängten, Stütze und Verteidiger für das Opfer der Unterdrückung. Laß Lauterkeit und Redlichkeit all dein Handeln auszeichnen. Sei ein Heim dem Fremdling, ein Balsam dem Leidenden, dem Flüchtling ein starker Turm. Sei dem Blinden Auge und ein Licht der Führung für den Fuß des Irrenden (Bahá'u'lláh)«

Bürgerschaftliches Engagement ist in der Glaubenspraxis der Bahá'í fest verankert, indem der Dienst an den Mitmenschen in den Mittelpunkt ihrer Bemühungen gestellt wird: »Der ist wirklich ein Mensch, der sich heute dem Dienst am ganzen Menschengeschlecht hingibt. (Bahá'u'lláh)« Dienst bedeutet für Bahá'í, in Gebetshaltung und mit reiner Absicht auf Bedürfnisse der Mitmenschen einzugehen und zu handeln. Bahá'í werden insbesondere in ihren Nachbarschaften aktiv. Sie bemühen sich die gesellschaftliche Realität ihres direkten Umfeldes zu erkennen, die Nöte der Zeit im Blick zu haben und die Menschen zu vernetzen. Dabei soll die weltumfassende Perspektive nie außer Acht gelassen werden. Abdu'l-Bahá forderte dazu auf: »die ganze Menschheit als ein einziges Lebewesen, sich selbst als ein Glied dieses großen Körpers zu erkennen und in der Gewissheit zu wirken, dass jede Not, jede Wunde, die irgend einen Teil dieses Körpers trifft, unweigerlich alle übrigen Glieder in Mitleidenschaft zieht.«

Konkret richten die Bahá'í ihre Bemühungen weltweit auf einige sog. Kernaktivitäten. Dazu zählen Kinderklassen und Juniorjugendgruppen. In beiden werden jungen Menschen ethische Grundsätze vermittelt, wobei in den Juniorjugendgruppen der Fokus auf bürgerschaftlichem Engagement liegt. Die Jugendlichen lernen, wie sie zusammen Dienstprojekte planen und umsetzen können, z.B. Müll sammeln, Besuche im Seniorenheim, Aushelfen bei der Tafel etc.

Eine weitere Kernaktivität sind Institutskurse, bei denen in Gruppen parallel Texte über geistige Themen studiert werden und praktisch gelernt wird, wie z.B. eine Kinderklasse oder Juniorjugendgruppe gegründet und betreut werden kann. Durch die Institutskurse werden einzelne – ob Bahá'í oder nicht – ermutigt sich selbst als ProtagonistInnen zu sehen und wirkungsvoll für die Gesellschaft einzubringen.

Zudem engagieren sich Bahá'í bei interreligiösen Veranstaltungen auf lokaler, regionaler, bundesweiter und globaler Ebene, so etwa bei Podiumsdiskussionen, Friedensgebeten, im Projekt »House of One« in Berlin, auf Ebene der Vereinten Nationen etc. für Themen wie Frieden, Gleichberechtigung der Geschlechter, ein Recht auf Bildung und vieles mehr.


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Für den Inhalt sind die Autor*innen des jeweiligen Beitrags verantwortlich.

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Autorin

T. P. ist Mitglied der Bahá’í-Gemeinde Wiesbaden. Sie referiert regelmäßig bei Konferenzen und Podiumsdiskussionen zu Themen wie Europa, Integration und Religion.

Weitere Informationen: www.bahai.de


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