Ein Jahr Demokratie und Bürgerbeteiligung im Zeichen von COVID-19 – Profil einer verfehlten Pandemiepolitik
Roland Roth
Inhalt
Vorbemerkung
I. Die Corona-Pandemie als »weißer Schwan«
II. Internationale Trends
III. Pandemiepolitik in Deutschland
IV. Bürgerbeteiligung unter Bedingungen von Quarantäne und Lockdown
V. Bürgerbeteiligung an der Pandemiepolitik
VI. Herausforderungen für eine starke und politisch einflussreiche Zivilgesellschaft in Corona- und Post-Corona-Zeiten
Endnoten
Literatur
Autor
Redaktion
Vorbemerkung
Müssen Engagierte und Protagonisten der Bürgerbeteiligung nicht einfach mal Ruhe geben, die Beine stillhalten und im Hausarrest warten, bis die Pandemie vorüber ist – und ansonsten auf Intensivmedizin, auf Tests und Impfungen vertrauen? Tragen wir nicht unfreiwillig zur Leugnung des Virus bei, wenn wir Partizipation und die Stärkung einer aktiven Zivilgesellschaft in Zeiten von COVID-19 einfordern? Ich möchte mit ein paar Gegenargumenten verdeutlichen, warum wir keine gefährlichen Geisterfahrer sind, wenn wir mehr Bürgerbeteiligung in Zeiten der Pandemie einklagen. Ohne eine aktive Bürgerschaft wird es keine guten Wege aus der aktuellen Pandemie und keine angemessene Vorsorge für kommende Krisen geben[1].
I. Die Corona-Pandemie als »weißer Schwan«
COVID-19 war und ist keine unvorhersehbare Naturkatastrophe, die aus heiterem Himmel kam. Weltweit hat die Pandemiehäufigkeit, vor allem durch Zoonosen, in den letzten Jahrzehnten in Folge von Globalisierungsprozessen, Naturzerstörungen etc. deutlich zugenommen. Aus der Perspektive der globalen Gesundheitsforschung war es nur eine Frage der Zeit, bis auch die OECD-Welt davon betroffen sein würde. Corona-Viren galten dabei als heiße Anwärter. Eine Pandemie war also durchaus erwartbar und kein unvorhersehbares Ereignis, kein »schwarzer Schwan«[2].
Entsprechend hat die Weltgesundheitsorganisation gemeinsam mit ihren Mitgliedsstaaten bereits 2005 Internationale Gesundheitsvorschriften (International Health Regulations – IHR) zur Pandemievorsorge entwickelt, die 2007 von der Bundesrepublik übernommen und im März 2013 in einem weiteren Durchführungsgesetz konkretisiert wurden. Ein zentrales Motiv für die Exportnation Deutschland war sicherlich die Sorge um wirtschaftsverträgliche Maßnahmen bei der internationalen Seuchenbekämpfung. Trotz entsprechender Übungen und Pläne haben es die Bundesregierung und die zuständigen Behörden versäumt, eine den eingegangenen Verpflichtungen entsprechende Pandemie-Vorsorge zu betreiben, zu der nicht zuletzt ein Vorrat an entsprechender Schutzkleidung gehört hätte[3]. Ihr Fehlen hat zu unnötigen zusätzlichen Belastungen bei Patienten und Krankenhauspersonal geführt und härtere Einschränkungen (Quarantäne, Lockdown etc.) erforderlich gemacht. Auch Ärztinnen und Ärzte mussten in der ersten Phase der Pandemie in Krankenhäusern und Praxen oft ohne ausreichende Schutzkleidung arbeiten. Entsprechend hoch war damals der Anteil des Krankenhauspersonals an den Infizierten.
Differenzierte, an Zielgruppen orientierte Strategien wären mit besseren Schutzvorkehrungen durchaus möglich gewesen – mit niedrigeren Sterberaten und geringeren ökonomischen Kosten. Es wäre auch wesentlich leichter gewesen, zivilgesellschaftliche Akteure in die Suche nach kreativeren Schutzkonzepten für besonders vulnerable Gruppen und Einrichtungen einzubinden.
Der Rückblick auf die fehlende Vorsorge der ersten Pandemiephase ist wichtig, um daraus zu lernen – und nicht dem bei Pandemien üblichen Reaktionsmuster von Panik und Vergessen aufzusitzen. Es hätte von Anbeginn andere Reaktionsmöglichkeiten gegeben. Auch nach einem Jahr Corona muss von einem »Präventionsdebakel« (Willich 2021) gesprochen werden.
II. Internationale Trends
Inzwischen gibt es eine Reihe von Forschungsgruppen, die sich international vergleichend mit den nationalen Reaktionen auf die Pandemie befassen[4]. Das gilt nicht nur für populäre Rankings entlang von Ansteckungszahlen und Todesopfern, sondern auch für die politischen Handlungsmuster im engeren Sinne. Dabei fällt auf, dass es weltweit keinen eindeutigen Trend in Richtung Autoritarismus und Demokratieabbau gibt. Der rechtspopulistische Vormarsch, der in den letzten Jahren in vielen Ländern zu beobachten war, hat durch Corona bislang meistens keinen neuen Schub bekommen. Der Trend in Richtung Demokratieabbau war dagegen in den Ländern am stärksten, die bereits zuvor auf diesem Wege waren. Die Abwahl von Trump in den USA zeigt, dass auch gegenläufige Entwicklungen möglich sind.
Ähnlich uneinheitlich und vielfältig sind im Ländervergleich die pandemiepolitischen Antworten im Detail. Harte, repressive Maßnahmen wie Lockdowns und Quarantänen, die Bürgerrechte mehr oder weniger stark aushebeln, waren und sind in vielen demokratisch regierten Ländern zumindest phasenweise ein Mittel der Wahl. Aber es kamen und kommen auch digitale Präventionsmodelle, die Separierung von Risikogruppen oder Elemente einer zivilgesellschaftlichen Selbststeuerung, die auf freiwilliges corona-konformes Verhalten setzt, zum Zuge (Nullmeier 2020) – oft auch in Mischungen und bunten Abfolgen.
Im Zeitverlauf beobachtet eine schwedische Forschungsgruppe, dass es besonders in der ersten Phase der Pandemie in 144 Ländern zu massiven Verletzungen demokratischer Standards gekommen ist. Im letzten Quartal 2020 zeichnen sich in einem Viertel der Länder deutliche Verbesserung in den demokratischen Standards ab, während 69 Länder bei ihrer autoritären Linie bleiben. Meist sind dies Länder, die auch vor der Pandemie autokratisch regiert wurden (Kolvani u.a. 2020).
Auch nach einem Jahr zeichnet sich mit Blick auf die gesundheitlichen und sozialen Folgen kein überlegenes Modell ab. Wir wissen auch nicht exakt, warum in der Krisenpolitik bestimmte Wege gewählt und andere vernachlässigt wurden. Schon ein Blick auf föderale politische Systeme wie die USA zeigt die enorme Variationsbreite. Sicherlich dürften die Zeitstruktur der Pandemieentwicklung und die jeweiligen nationalen Rahmenbedingungen (Digitalisierungsgrad, Gesundheitswesen, föderale Strukturen, kulturelle Traditionen etc.) erheblichen Einfluss auf die Strategiewahl gehabt haben. Aber selbst in der OECD-Welt wurden sehr unterschiedliche Mittel eingesetzt. Dies heißt aber auch, dass vom Virus allein keine formative politische Wirkung ausgeht und verschiedene Reaktionsformen demokratisch gewählt werden können.
III. Pandemiepolitik in Deutschland
Bis heute ist die Pandemiepolitik in Deutschland stark seuchenpolizeilich geprägt. Das Infektionsschutzgesetz gibt den zuständigen Behörden sehr weitgehende Befugnisse zur Einschränkung des öffentlichen Lebens und der persönlichen Freiheiten (besonders § 28a des Infektionsschutzgesetzes liest sich wie ein Horrorkatalog). Wegen ihrer anfänglichen Erfolge wurde sie zunächst in der Bevölkerung weithin akzeptiert, aber die Zustimmung ist in den letzten Monaten und der dritten Welle wegen ausbleibender Erfolge gebröckelt. Das Mittel der Schließung von Einrichtungen, Aufenthalts- und Ausgangsbeschränkungen verspricht zwar weitgehenden Infektionsschutz, legt aber gleichzeitig das öffentliche Leben lahm (»Zivilgesellschaft in Quarantäne«). Es handelt sich dabei nicht um einen Ausnahmezustand im Carl Schmittschen Sinne[5], aber ein mehrfach geändertes Maßnahmengesetz (ISG) und seine Umsetzung prägen in vielen Bereichen den gesellschaftlichen Alltag (Volkmann 2020). Duldsamkeit wird zur zentralen Bürgertugend. Die Politik der Schließungen verhindert und vernachlässigt zudem Lernprozesse in eine Richtung, wie gesellschaftliche Einrichtungen (von Kitas und Schulen bis zu den Pflegeeinrichtungen) pandemiefest gemacht werden können. Es bleibt nur die Hoffnung auf Tests und Impfungen.
Das Profil der deutschen Pandemiepolitik ist auf allen Ebenen exekutivisch geprägt (von den Bund/Länder-Spitzentreffen bis zu den Gesundheitsämtern). Öffentlichkeit, Beteiligung und Mitsprache sind nicht vorgesehen. Die Rolle der Parlamente ist nachrangig und sie können oder wollen gegen die Dominanz der Exekutive kaum an Boden gewinnen (Griglio 2020). Immerhin setzt die Judikative ausufernden behördlichen Anordnungen Grenzen. Angesichts dauerhafter bzw. immer wieder erneuerter Grundrechtseinschränkungen wäre die Wahrnehmung des Parlamentsvorbehalts jedoch dringend geboten. Mehr politische Öffentlichkeit ist schon aus pragmatischen Gründen nötig, wenn das Vertrauen in das staatliche Schutzversprechen allmählich schwindet und sich die gesellschaftlichen Folgekosten der Schließungspolitik auftürmen. Diese hat auch die parlamentarischen Strukturen auf allen Ebenen eingeschränkt[6] und die Funktionsfähigkeit der Verwaltungen, besonders der Kommunalverwaltungen, beschädigt. Ein informeller Föderalismus kann öffentliche Debatten nicht ersetzen. Warum finden zum Beispiel die zahlreichen Ministerpräsidentenkonferenzen mit dem Bundeskanzleramt eigentlich nicht öffentlich statt? Dies wäre zumindest ein Anfang (Gallon 2021).
Die Zivilgesellschaft bleibt am Katzentisch
Angesichts der Bedrohungen, die von dem Virus ausgehen (»Das Virus ist antidemokratisch«), sind diese Einschränkungen entlang von Inzidenzen und Ansteckungswerten nur scheinbar alternativlos. Vor allem erfüllen sie nicht das staatliche Schutzversprechen. Der Wechsel von Schließen und Öffnen unterfordert die Bürger*innen, da er lediglich Folgebereitschaft verlangt. Besonders die Schutzkonzepte für vulnerable Gruppen sind unzulänglich geblieben. Zu kritisieren ist das Missverhältnis von repressiver Eindämmung einerseits und dem gezielten Schutz vulnerabler Gruppen und Einrichtungen andererseits. Da diese Unterscheidung in der Öffentlichkeit kaum bekannt ist, sei eine ausführliche Definition zitiert: »Eindämmung wie Schutz unterscheiden sich strukturell fundamental voneinander: Eindämmung kann durch Einschränkungen und Verbote, durch Schließen und Verbieten erreicht werden, also durch einfache, wenig komplexe Maßnahmen. Wirksamer Schutz vulnerabler Personen und Einrichtungen hingegen ist ein komplexes Projekt. Ein ›Lockdown‹ ist mit einem Fingerschnippen schnell verhängt, die entsprechenden Verordnungen sind binnen Stunden verkündet, Polizei und Ordnungskräfte rasch auf der Straße. Ein ›Lockdown‹ bedarf keiner besonderen politischen Kreativität. Das Handwerkszeug des repressiven Staates ist grob und einfach, geradezu archaisch: Verbieten, Kontrollieren, Sanktionieren. Das ist im Bereich aktiven Schutzes für besonders bedrohte Menschen grundsätzlich anders: Hier sind Kreativität und politisches Geschick erforderlich, es sind komplexe Fragen zu klären (von der Organisation konkreter Schutzmaßnahmen wie etwa systematische Testungen bis hin zu Finanzierungsfragen). Ein weiterer Unterschied: Repression ist anders als Prävention medial gut inszenierbar, insbesondere, wenn sie mit Horrorszenarien garniert wird« (Linder 2020).
Städte wie Tübingen und Rostock haben erfolgreich anspruchsvolle Schutzkonzepte mit breiter Unterstützung der Einwohnerschaft entwickelt. Ihr Vorbild kam jedoch bislang nicht zum Zuge. Auch die zahlreichen Schutzvorkehrungen in Theatern und Kinos, in Einzelhandelsgeschäften und der Gastronomie fanden wenig Würdigung. Das gilt auch für das zivilgesellschaftliche Potential und die Solidaritäten, die bereits zu Beginn der Pandemie gelebt wurden. Der Versuch, sie in die Gestaltung der Krisenpolitik einzubinden, fand – wenn überhaupt – meist in Form von gelegentlichen Beratungsrunden auf Spitzenebene statt. Sehr zum Schaden der Pandemiepolitik insgesamt und der betroffenen Bürgerschaft blieb das Gros der Zivilgesellschaft unbeachtet am Katzentisch. Vergessen ist der Hinweis: »Die zivilgesellschaftliche Selbststeuerung, verstanden als gemeinwohlorientierte Initiative zivilgesellschaftlicher Organisationen zur Förderung von Bestrebungen zur Pandemiebekämpfung, wäre grundsätzlich geeignet, die Pandemiefolgen zu mildern und abzufedern« (Nullmeier 2020: 8).
IV. Bürgerbeteiligung unter Bedingungen von Quarantäne und Lockdown
Bürgerbeteiligung hat überall dort, wo es auf direkte Begegnungen, Versammlungen, öffentliche Räume ankommt, mit Beginn der Pandemie erhebliche Einschränkungen erfahren und wurde drastisch reduziert. Auch wenn verlässliche Daten bis heute fehlen, dürfte eine im April 2020 durchgeführte Online-Befragung ein erstes Stimmungsbild erlauben. »Die Corona-Pandemie hat zu einer abrupten Unterbrechung laufender deliberativer Verfahren geführt. Primär verantwortlich ist dafür die politische Maßnahme des Social Distancing, die eine Minimierung persönlicher Kontakte erzwingt. Dies hat nicht nur aktuelle Auswirkungen, sondern wird die Partizipation in Deutschland aufgrund abgesagter bzw. verschobener Beteiligungsverfahren auch in der nahen Zukunft negativ betreffen. In zahlreichen Bereichen könnte 2020 zu einem ›verlorenen Jahr‹ für die Bürgerbeteiligung werden« (bipar 2020: 4). Drei von vier Veranstaltungen mussten ausfallen. Online-Beteiligung konnte diese Ausfälle zunächst nur sehr eingeschränkt kompensieren, denn lediglich ein Drittel der befragten Kommunen verfügte zu diesem Zeitpunkt über digitale Beteiligungsformate oder war fit für Online-Nutzungen. Die Digitalisierung der kommunalen Dienste im Allgemeinen und der Beteiligungspraxis im Besonderen bildete aus Sicht der Befragten den entscheidenden Engpass: »Grundsätzlich sehen sich Bürger*innen/Beteiligte deutlich besser technisch gewappnet für digitale Beteiligungsprozesse als die Befragten aus Politik/Verwaltung« (bipar 2020: 7).
Im Corona-Jahr konnten direkte Beteiligungsformate kaum zulegen. In Sachen digitaler Beteiligung gab es vielerorts jedoch eine mehr oder weniger steile Lernkurve. Allerdings war und ist das Niveau der digitalen Angebote von Kommune zu Kommune und in den Fachbereichen sehr unterschiedlich. Vereinzelte digitale Verfahren und neue Formate gibt es fast überall. Oft werden sie in hybriden Versionen mit einem kleinen Anteil direkter Beteiligung angeboten. Die Zahl der Anbieter und Tools lässt sich kaum mehr überschauen. Einige Städte experimentieren mit anspruchsvollen digitalen Plattformen (wie Consul, DIPAS oder dem WHS-Portal, einem Beteiligungsportal der Wüstenrot Haus- und Städtebau GmbH) und haben Corona als Chance für mehr Bürgerbeteiligung genutzt. Dazu gehört z.B. eine Beteiligungsplattform in Friedberg/Hessen, die für die Neuplanung einer Konversionsfläche eingesetzt wird. Hamburg hat (gemeinsam mit Leipzig und München) mit DIPAS (Digitales Partizipationssystem – dipas.org) kürzlich ein einheitliches digitales Bürgerkonto eingeführt, das unter anderem ein partizipatives Bürgerbudget mit e-voting erlaubt. Ambitionierte Varianten der Online-Bürgerbeteiligung haben meist nur eine Chance, wenn die zahlreichen Behördenbarrieren (etwa im Blick auf Datenschutzbestimmungen) kreativ genommen werden.
Über den Umfang und die Resultate dieser Online-Offensive wissen wir noch wenig. Offen ist auch, ob dieser digitale Schub anhält, denn der Wunsch nach Begegnungsformaten wächst mit der Dauer der Corona-Einschränkungen. Einige Herausforderungen und Grenzen sind bereits deutlich geworden:
• Digitale Formate erreichen meist nur kleinere Gruppen.
• Die digitale Ausstattung und die Kompetenzen, damit umzugehen, erzeugen neue Ungleichheiten. Zu den üblichen schwer erreichbaren oder »stillen« Gruppen sind nun digital benachteiligte Teile der Bevölkerung gekommen. Digital aufsuchende Formate können deshalb nur begrenzt wirksam werden.
• Die vorhandene digitale Infrastruktur ist überwiegend nicht in der Lage, demokratische und inklusive Ansprüche von Online-Beteiligung zu unterstützen. In der Pandemie treten solche Angebote zudem in Konkurrenz mit Homeoffice, Homeschooling etc.
• Viele Online-Verfahren berichten von einem wachsenden unzivilen Umgang in der digitalen Partizipation. Hemmschwellen werden noch einmal abgesenkt.
Im Kontrast zu anspruchsvollen Beteiligungsportalen gibt es ein verstärktes Interesse an »repräsentativen« Beteiligungsformaten in Form von gelosten Bürgerräten[7]. Dabei lässt sich eine Tendenz zur Anspruchsreduktion an Beteiligung bis hin zur Scheinbeteiligung beobachten: Beratung statt Beteiligung, kleine Gruppen statt breite Betroffenenbeteiligung. Der Nachweis der Wirksamkeit von gelosten Bürgerräten steht aus. Es droht eine Abwertung der Betroffenenbeteiligung, von Bürgerinitiativen und organisierten Interessen.
V. Bürgerbeteiligung an der Pandemiepolitik
Bürgerbeteiligung an der Ausgestaltung der Pandemiepolitik ist weitgehend ausgeblieben. Erst in den letzten Monaten ist eine Handvoll geloster Bürgerräte, Bürgerforen und Bürgerbeiräte zum Thema (zuerst in Baden-Württemberg und in Augsburg – Bürgerbeirat Corona) eingesetzt worden. Sie machen vor allem deutlich, wie notwendig eine frühe und breite Mitsprache in der Corona-Politik gewesen wäre. Dass diese wenigen gelosten oder handverlesenen Beratungsgremien nennenswerten politischen Einfluss gewinnen können, ist leider nicht zu erwarten. So werden weiterhin Umfragen und Wahlzettel, Lobbygruppen und professionelle Netzwerke das zunehmend profillose und disparate Profil staatlicher Pandemiepolitik bestimmen.
VI. Herausforderungen für eine starke und politisch einflussreiche Zivilgesellschaft in Corona- und Post-Corona-Zeiten
Mitten in der dritten Welle ist eine Neuorientierung staatlicher Politik kaum zu erwarten. Aber einige Herausforderungen zeichnen sich ab, die anzugehen sind, wenn eine dauerhafte Marginalisierung von Bürgerbeteiligung und Engagement verhindert werden soll. Hier eine Auswahl:
Auch Corona wird, wie viele Pandemien zuvor, soziale Ungleichheiten und Ausgrenzungen verschärfen. Das gilt für die vielen Betroffenengruppen, die »übersehen« wurden und besonders für größere Teile der nachwachsenden Generation. Sie braucht z. B. Chancenpatenschaften, um Beeinträchtigungen zu bearbeiten und Anschluss zu finden. Nicht zuletzt gilt es dabei, die in der UN-Kinderrechtskonvention versprochenen Beteiligungsnormen zu stärken. In der Pandemie nicht gefragt zu werden, obwohl die eigene Lebenssituation durch politische Entscheidungen drastisch verschlechtert wurde, gehört zu den von jungen Menschen besonders beklagten demokratischen Versäumnissen (Andresen u.a. 2020).
Das seuchenpolizeiliche Grundmuster der COVID-Krisenpolitik mit seinen teils maßlosen Sonderrechten für die Exekutive darf nicht Schule machen und zur Vorlage für eine künftige Krisenbewältigung werden, da es grundlegende Demokratieprinzipien und Bürgerrechte verletzt (Merkel 2020). Dass die Judikative an vielen Stellen nicht mitgespielt hat, tröstet wenig. Vielmehr ist eine umfassende Neukonzeption eines demokratisch ausgestalteten Infektionsschutzgesetzes zugunsten intelligenter Schutzkonzepte für bestimmte vulnerable Gruppen und institutionelle Settings zu fordern. Es geht um mehr Public Health statt vorgestriger Seuchenpolitik. Dazu ist mehr Bürger- und Betroffenenbeteiligung unabdingbar. Das gilt auch für die Stärkung Kritischer Infrastrukturen und des öffentlichen Gesundheitswesens. Gefragt sind neue lokale Pandemiepläne, an denen nicht nur einige Blaulichtorganisationen beteiligt werden. Bis zur nächsten Pandemie (und Krise) ist es nur eine Frage der Zeit.
Die Notdigitalisierungen im Pandemiejahr haben bei allen digitalen Lernfortschritten zweierlei deutlich gemacht. Erstens ist die digitale Infrastruktur in Deutschland auf einem unerträglich niedrigen Niveau. Unter Belastung brechen Verbindungen zusammen und die digitalen Löcher haben die Dichte eines Siebs. Die Mängel in der digitalen Infrastruktur sind keine Privatsache, sondern werden durch das staatliche Handeln bzw. Nichthandeln von den Kommunen bis zu den Ministerien geprägt. Es gilt, die digitale Infrastruktur endlich als wesentliches Element einer zeitgemäßen, vor allem kommunalen Daseinsvorsorge zu begreifen und zu entwickeln. Historische Vorbilder wie die Gas-, Wasser- und Elektrizitätsversorgung gibt es reichlich. Digitale Teilhabe muss zum Grundrecht werden[8].
Aber eine zweite Erfahrung ist mindestens ebenso wichtig. Menschen sind keine digitalen Wesen, sondern benötigen Nähe, Berührungen und direkte Begegnungen wie die Luft zum Leben. Zur Krisenresilienz gehören deshalb robuste Versammlungs-, Protest- und Begegnungsformate. Nachbarschaften, lokale Öffentlichkeiten, Stadtgrün und zwanglose Begegnungsorte und Treffs haben eine verstärkte Wertschätzung erfahren. Mit viel Kreativität wurden in einigen Städten Cafés, Museen und Stadtbibliotheken für den Schulunterricht unter Einhaltung der Abstandsregeln genutzt. Viele andere Unterstützungs- und Hilfsformate, die in Corona-Zeiten entwickelt wurden, verdienen es, über Corona hinaus genutzt zu werden.
Solche Lernprozesse werden nur eine Chance haben, wenn eine selbstbewusstere Zivilgesellschaft ihre schier grenzenlose Hinnahmebereitschaft überwindet und sich nicht nur als Krisenopfer präsentiert oder die Straße Coronaleugnern, Impfgegnern und Verschwörungsphantasten überlässt, sondern selbstbewusst ihre demokratischen Alternativen ins Spiel bringt, die im Engagement und in den Beteiligungserfahrungen auch in Corona-Zeiten gefunden wurden und dringend weiterzuentwickeln sind.
Bevor wir unvorbereitet in die nächste Pandemie stolpern, sind Solidaritäten mit den vielen Ländern weltweit erforderlich, die noch mitten in der Krise stecken. Eine erfolgreiche nationale und regionale Vorsorge wird nur möglich sein, wenn es gelingt, die globalen Regeln und Institutionen der Pandemiepolitik zu stärken. Vorschläge dazu liegen auf dem Tisch (The Independent Panel 2021). Es gilt, sie demokratisch und menschenrechtsgemäß auszugestalten. Es wird nur mit aktiver Beteiligung der Zivilgesellschaft (wenn überhaupt) gelingen, COVID-19 zur »letzten Pandemie« zu machen.
Endnoten
1 So lautet auch der Tenor der Jahresbilanz von Strachwitz (2021).
2 Ausführliche Nachweise zu dieser Einschätzung und zur ersten Phase der Pandemie bei Roth (2020).
3 Es ist eine bittere Ironie, dass dieses politische Versäumnis ausgerechnet von mitverantwortlichen Parlamentariern zur persönlichen Bereicherung genutzt wurde (»Maskenaffäre«).
4 Für die erste Phase s. Cheibub u.a. 2020; IDEA 2020; Lührmann u.a. 2020; Petherick u.a. 2020; Weible u.a. 2020 - regelmäßig aktualisierte Daten bieten z.B. der Global State of Democracies Index, der Oxford COVID-19 Government Response Tracker oder das Pandemic Backsliding Projekt des Göteborger V-Dem Institute.
5 Ein internationaler Vergleich der Pandemiepolitik kommt zu dem Ergebnis, dass die Anforderungen an eine solche Krisenpolitik letztlich zu komplex für autoritäre Lösungen seien (Ginsburg/Versteeg 2020).
6 Dies zeigt eindrucksvoll eine Analyse der NRW-Kommunalwahlen 2020 von Norbert Kersting (2021).
7 Eine kritische Sicht auf diese deliberative Welle bietet Roth (2020a).
8 Diese Forderung wird von Kinderrechtsgruppen schon länger mit Blick auf die Kommunikationspraxis der nachwachsenden Generation erhoben (vgl. Livingstone u.a. 2020).
Literatur
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Cheibub, José Antonio/Hong, Ji Yeon Jean/Przeworski, Adam 2020: Rights and Deaths: Government Reactions to the Pandemic. Ms. (07.07.2020)
Gallon, Johannes 2021: Warum die Öffentlichkeit bei der Bund-Länder-Koordination in der Pandemiebekämpfung beteiligt werden sollte (verfassungsblog.de/informeller-foderalismus-statt-offentlicher-deliberation/ vom 09.02.2021)
Ginsburg, Tom/Versteeg, Mila 2020: The Unbound Executive: Emergency Powers During The Pandemic. Ms. (26.07.2020)
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Willich, Stefan N. 2021: Corona und das Präventionsdebakel. In: Frankfurter Allgemeine vom 08.03.2021
Beitrag im Newsletter Nr. 10 vom 20.5.2021
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Prof. Dr. Roland Roth ist Politikwissenschaftler – zuletzt am Fachbereich Sozial- und Gesundheitswesen der Hochschule Magdeburg-Stendal.
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