Beitrag im Newsletter Nr. 12 vom 16.6.2022

Eine Zeitenwende – auch für das bürgerschaftliche Engagement der deutschen Zivilgesellschaft?

Emilia Fester

Inhalt

Großes Engagement für Geflüchtete aus der Ukraine
Keine Verwendung des Sondervermögens für bürgerschaftliches Engagement
Was sind die nächsten Schritte, um bürgerschaftliches Engagement in Deutschland nachhaltig zu sichern und auszubauen?
Demokratiepolitik – wie unterstützt bürgerschaftliches Engagement das Demokratieverständnis in der Gesellschaft?
Stärkung des bürgerschaftlichen Engagements
Fazit
Autorin
Redaktion

Großes Engagement für Geflüchtete aus der Ukraine

Es ist der 24. Februar 2022, ein Tag, der die Welt nachhaltig verändert hat und weiter verändern wird. Der russische Präsident Putin befiehlt seinen Truppen, die seit Monaten um die Ukraine gesammelt wurden, die Ukraine zu überfallen: Ein völkerrechtswidriger Angriffskrieg beginnt. In diesem Umfang haben wir das in Europa, in Deutschland seit dem zweiten Weltkrieg nicht erlebt. Drei Tage später tritt Bundeskanzler Olaf Scholz zu einer Regierungserklärung an die Mikrofone und spricht in seiner Regierungserklärung von einer »Zeitenwende«.

Die EU, die NATO und die ganze Welt bemühen sich, sich möglichst schnell auf diese neue weltpolitische Lage einzustellen und geschlossen zu reagieren. Es werden immer neue Sanktionen beschlossen, Scholz schlägt ein 100 Mrd Euro umfassendes Sondervermögen für die marode Bundeswehr vor, Waffenlieferungen werden möglich gemacht und nicht nur in Osteuropa bereiten sich Länder auf die größte Geflüchtetenbewegung der neueren Geschichte in Europa vor. Alleine in Deutschland werden bis zum 28. Mai 2022 802.500 Geflüchtete gezählt, die Zahl der Geflüchteten in den osteuropäischen Länder sind noch wesentlich höher, gerade gemessen an ihrer Bevölkerungszahl.

In der Öffentlichkeit entbrennt eine Welle der Unterstützung für die Ukraine, das Land erstrahlt in den Farben der ukrainischen Nationalflagge, es gibt landesweit Friedensdemos mit Millionen Besucher*innen. Tausende Freiwillige engagieren sich für die ukrainischen Geflüchteten. Schnell wird improvisiert, organisiert und es entwickeln sich erprobte Strukturen. An den Hauptbahnhöfen der großen deutschen Städte stehen zu jeder Uhrzeit Helfer*innen bereit, um den Ankommenden die nötigen Informationen zu geben und ihnen einen Weg zu einem sicheren Schlafplatz in den Auffangzentren und unzähligen Privathaushalten zu zeigen.

Während in den Medien vor allem Waffenlieferungen und Sanktionen gegen Russland und seine Verbündeten diskutiert werden, wird die Hilfe für die Geflüchteten fast eher beiläufig registriert, aber wenig diskutiert und noch weniger goutiert.

Keine Verwendung des Sondervermögens für bürgerschaftliches Engagement

Zeitsprung, es ist die erste Sitzungswoche im Juni 2022, im Bundestag wird der Haushalt für das laufende Jahr verabschiedet. Das Augenmerk liegt vor allem auf der angekündigten Änderung des Artikels 87a des Grundgesetzes, die für das »Sondervermögen« aus der Zeitenwendenrede des Bundeskanzlers notwendig ist.

Im Vorhinein gab es intensive Verhandlungen darüber, wofür die festgeschriebenen 100 Mrd Euro verwendet werden sollen: Die zentrale Frage war, ob das Sondervermögen wirklich ausschließlich für die Bundeswehr verwendet werden darf oder ob man die Gesetzesänderung so formuliert, dass die Gelder auch z.B. für die zivilgesellschaftliche Bewältigung laufender Krisen eingesetzt werden können. Es gab die herausragende Chance, viele Haushaltsfragen in den kommenden Jahren, insbesondere in Bezug auf die Zukunft der Freiwilligendienste, zu vereinfachen und zu festigen.

Der Bundestag stimmte zwar der Änderung des Grundgesetzes zu, aber nicht der Öffnung für die Finanzierung gerade in Krisen so notwendigen zivilgesellschaftlichen Engagements. Der Eindruck, die militärische Verteidigungsfähigkeit nach dem Scheitern der Appeasement-Politik der vergangenen Regierungen vor allem gegenüber Russland zu sichern, war übermächtig.

Jedoch ist es schade, dass vor allem folgende Punkte keine Beachtung gefunden haben:

1) Für das Vorhaben, die Bundeswehr in ihrem Etat mit etwa 20 Milliarden pro Haushaltsjahr im Laufe der Legislatur zusätzlich auszustatten, wäre keine Grundgesetzänderung nötig gewesen.

2) Die zwingend notwendige Reform des Beschaffungswesens der Bundeswehr ist bisher nicht erfolgt, weshalb zu befürchten ist, dass ein viel zu großer Teil des investierten Geldes versickert, wie es in den vergangenen Jahren passiert ist.

3) Für meine Fraktion, wie auch für mich wäre eine Verankerung der Cyber-Sicherheit ein wichtiger, erstrebenswerter Punkt in der Verhandlung rund um die Ausschreibung des Sondervermögens gewesen. Ebenso die Ausweitung des Sicherheitsbegriffs auf ohne Frage sicherheitsrelevante Aspekte unserer Infrastruktur wie Energeisouveränität, Katastrophenschutz, internationale Entwicklungszusammenarbeit, und vieles mehr. All diese Punkte so nun nicht – weder in der Änderung des Grundgesetzes noch im Einsetzungsbeschluss des Sondervermögens – zu finden, ist eine Enttäuschung.

Trotzdem stimme ich dem Antrag letztendlich zu, um das ganze Projekt nicht zu gefährden. Die Basis für diese Entscheidung ist von meiner Überzeugung getragen, dass sich die Sicherheitsvoraussetzungen in ganz Europa seit der völkerrechtswidrigen Invasion Russlands in die demokratische Ukraine so stark verändert haben, dass eine entsprechende Aktivierung der Bundeswehr erfolgen muss. Die deutsche Bundeswehr ist eine Parlamentsarmee und solange wir daran festhalten, in Europa keine gemeinsame EU-Armee zu unterhalten, ist es die Aufgabe von uns Parlamentarier*innen, diese insofern auszustatten, als dass sie arbeits- und auch im Ernstfall einsatzfähig ist. Nach näherer Betrachtung und auch den Abwägungen über die Lieferung schwerer Waffen in die Ukraine kommen wir zu dem Schluss, dass hierfür eine große Summe Geld notwendig ist. Aber Krisen können nicht alleine von der Bundeswehr gelöst werden.

Was sind die nächsten Schritte, um bürgerschaftliches Engagement in Deutschland nachhaltig zu sichern und auszubauen?

Der Umgang mit dieser Krise, aber auch vergangenen Krisen wie der Geflüchtetenkrise 2015, der Corona Krise und nicht zuletzt der Ahrtal Katastrophe und das Bewusstmachen über die Klimakrise durch Bewegungen wie Fridays for Future, hat uns gelehrt, dass bürgerschaftliches Engagement nicht nur wichtig für den Erhalt der Gesellschaft, sondern unverzichtbar ist. Es ist ein zentraler Stützpfeiler in der Katastrophenbewältigung und in Zeiten von gesellschaftlichen Umwälzungen international wie national dient es vor allem auch der Demokratieförderung.

Insbesondere junges Engagement nimmt dabei eine besondere Rolle ein: Im dritten Engagementbericht des BMFSFJ gaben fast zwei Drittel aller jungen Menschen an, sich im vergangenen Jahr für einen gesellschaftlichen Zweck engagiert zu haben. Freiwilligendienste zum Beispiel sind nicht nur Orientierungsjahre, sondern auch echte Unterstützung und einer der wichtigsten und schönsten Berührungspunkte der Generationen. Deshalb tragen wir als Regierung die Verantwortung dafür, dafür ausreichend finanzielle Mittel bereitzustellen. In einer anderen Sphäre von jungem Engagement haben wir bereits den Etat der Jugendverbände erhöht und fördern die Respekt-Coaches der Jugendmigrationsdienste.

Das sind nur ein paar konkrete Beispiele für den Grundstein, den wir hier noch im laufenden Jahr legen, um die das Engagement gerade der jungen Zivilgesellschaft neu aufleben zu lassen. So wollen wir auch in dieser Legislaturperiode noch dafür sorgen, dass allen Jugendlichen in ihrer Orientierungsphase die Tür für einen Freiwilligendienst offensteht: Teilzeitoptionen, Digitalisierung, Taschengelderhöhung, gezielte Wertschätzungsmaßnahmen, Platzaufwuchs – es bleibt viel zu tun.

Demokratiepolitik – wie unterstützt bürgerschaftliches Engagement das Demokratieverständnis in der Gesellschaft?

Mit der Art und Weise, wie jugendliches Ehrenamt organisiert wird und wie es eine konkrete Form des Miteinander erhält, wird Demokratie gelernt, gelebt und weitergegeben. Gleichberechtigtes Miteinander von allen – unabhängig von Geschlecht, Hautfarbe, Religion und anderen Differenzen – sollen in der Organisation und Gestaltung von Engagement im Vordergrund stehen. Fridays For Future wählt beispielsweise alle öffentlichen Positionen demokratisch. Es gibt zwar besonders prominente Vertreter, aber auch sie haben keine uneingeschränkte, unkontrollierte Autorität, sondern müssen sich immer wieder den Fragen, Wünschen und der Kritik der Basis stellen. Damit werden früh Formen der Demokratie aufgebaut und erprobt, die wichtige Impulse für die Konstruktion Deutschlands als demokratisches Staatsgebilde geben können und eben auch helfen, unsere Demokratie von innen heraus zu sichern. Einige in unserer Gesellschaft sind zum Beispiel begeistert über das umweltpolitische und soziale Engagement der Jugend, andere freuen sich. Wieder andere sind erstaunt und noch andere werden die Organisationsformen dahinter kritisch sehen, zum Beispiel die basisdemokratischen Züge von Fridays For Future oder die Nähe zur katholischen Kirche bei der KJG. Wenn eine gesunde Distanz Grund dafür ist und keine Vorurteile oder Ressentiments eine Rolle spielen, ist die Kritik ebenso gewollt wie der Zuspruch! Nach meinem Verständnis, und so interpretiere ich auch den Koalitionsvertrag, leben demokratische, zivilgesellschaftliche Organisationen und unsere gesamte Demokratie von der Kritik. So bleibt sie lebendig und verändert sich nach Maßgabe der mit und unter ihr lebenden Gesellschaft. Voraussetzung dafür ist, dass die Kritikfähigkeit geschult wird, so dass jede*r – mehr oder weniger – die Überprüfung des eigenen Handelns aushalten kann und im Idealfall das Individuum wie auch die Gesellschaft davon profitieren. Jede*r einzelne kann daran wachsen, indem die eigene Persönlichkeit geschärft wird. Die demokratische Gesellschaft wächst mit der Anzahl verantwortungsbewusster, kritikgeschulter Mitglieder*innen, die helfen, die Gesellschaft ständig zu entwickeln und zu justieren, um Gesellschaft und Umwelt in ein Gleichgewicht zu bringen und um Dekadenz zu vermeiden. In diesem Sinne steht auch das Demokratieförderungsgesetz, das, als dieser Text verfasst wurde, zentrales Thema der kommenden Sitzung des Unterausschusses »Bürgerschaftliches Engagement« ist.

Ein weiterer Aspekt gelebter Demokratie ist der Austausch zwischen verschiedenen Generationen. Die Generation der sogenannten Baby-Boomer, also viele Eltern mit erwachsenen Kindern, die selbst schon Großmütter oder -Väter sind oder bald werden könnten, wird bald schon einen großen Teil der Bevölkerung stellen. Dieser Umstand stellt nicht nur die Strukturen bisheriger sozialer Sicherungssysteme in Frage, sondern fordert auch besonders ehrenamtliches, ziviles Engagement, damit unsere demokratisch organisierte Gesellschaft weiterhin funktionieren kann. Freiwilligendienste u. a. in der Pflege, der Koordination von (neuen) Wohnkonzepten, aber auch Vernetzungen von Jugendverbänden und anderen Trägern spielen dabei eine wichtige Rolle.

Stärkung des bürgerschaftlichen Engagements

Deswegen ist es ein starkes Anliegen meinerseits und der Ampel-Regierung, die Grundfinanzierung von Freiwilligendiensten und von Jugendverbänden zu sichern, aber auch besondere, die Demokratie unterstützende Maßnahmen zu fördern, zum Beispiel die Respect-Coaches der Jugendmigrationsdienste. Wenn »Sicherung« bedeutet, der Etat für dieses Anliegen muss erhöht werden, werden wir uns mit aller Kraft dafür einsetzen. Zunächst sollen aber bestehende finanzielle Ausstattungen effizienter genutzt werden.

Im Koalitionsvertrag heißt es wie folgt:

»Wir werden die europäische und internationale Jugendarbeit, insbesondere für Auszubildende, stärken. Die Arbeit, auch der im Aufbau befindlichen Jugendwerke, setzen wir fort. Die Plätze in den Freiwilligendiensten werden wir nachfragegerecht ausbauen, das Taschengeld erhöhen und Teilzeitmöglichkeiten verbessern. Wir werden den Internationalen Freiwilligendienst stärken und das ›FSJ digital‹ weiter aufbauen.«

Nach meiner Auffassung ist jung sein nicht nur etwas Unvollständiges auf dem Weg zum Erwachsen werden, sondern hat ein Recht auf die eigene Gegenwart und Mitsprache bei der Zukunftsgestaltung und darüber hinaus sogar eine Pflicht, sich einzumischen und mitzuhelfen. Die Jugend muss laut, frech und engagiert bleiben können. Deswegen hat es sich die Regierung auch zur Aufgabe gemacht, »mit einem nationalen Aktionsplan für Kinder- und Jugendbeteiligung Qualitätsstandards für wirksame Beteiligung besser bekannt machen und selbstbestimmte Kinder- und Jugendparlamente und Beteiligungsnetzwerke zu stärken«.

Fazit

Die aktuellen, geopolitischen Entwicklungen und globalen Krisen fordern enormes zivilgesellschaftliches Engagement ein und werden es auch in Zukunft tun. Alleine die Belastungen einer älter werdenden Gesellschaft, der anstehende Umbau der sozialen Sicherungssysteme und Kampf gegen die Klimakrise sind auf das Engagement gerade von nachwachsenden Generationen angewiesen. Die Finanzierung dieses Engagements muss deswegen unbedingt sichergestellt werden.

Bei diesem Engagement ist die eigentliche Arbeit genauso wichtig wie ein grundlegender Nebeneffekt. Zivilgesellschaftliches Engagement ist immer auch gelebte Demokratie.

Nach meiner Ansicht ist vielen noch nicht bewusst genug, welch große Rolle es spielt, um unsere demokratische Gesellschaft zu erhalten und zu stärken.

Ich habe mir fest vorgenommen, das jetzt schon vorhandene Engagement mit allen Mitteln zu unterstützen und auszubauen.

Entscheidend für meinen Einsatz ist und bleibt ein enger Austausch mit allen Expert*innen. Sie sind diejenigen, die mir die richtigen Impulse liefern können, um mit neuen, vielleicht nicht immer traditionellen Ideen, effektives ziviles Engagement so weit zu unterstützen, dass es der jeweiligen Aufgabe angemessen umgesetzt werden kann.


Beitrag im Newsletter Nr. 12 vom 16.6.2022
Für den Inhalt sind die Autor*innen des jeweiligen Beitrags verantwortlich.

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Autorin

Emilia Fester, MdB, ist Obfrau der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen im Unterausschuss Bürgerschaftliches Engagement.

Kontakt: emilia.fester@bundestag.de


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