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Gemeinnützigkeit und Ehrenamt – aktuelle und kommende Herausforderungen
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Redaktion
Schließen Sie doch mal kurz die Augen und stellen sich vor, dass Obdachlose im Winter nicht mehr mit warmen Decken versorgt werden können, Kinder sportlich außerhalb der Schule kaum gefördert werden oder Sprachförderung nicht erhalten und Bedürftige nicht mehr ausreichend versorgt werden. Eine solche Gesellschaft ist für Sie unvorstellbar? Für mich auch. Aber all diese Aufgaben werden sehr oft durch gemeinnützige Organisationen übernommen. Sie sind eine tragende Säule unserer Gesellschaft. Doch Gemeinnützigkeit ist nicht erst seit einigen Wochen bedroht. Mit Corona kommen noch einmal neue Herausforderungen hinzu und gleichzeitig werden aus meiner Überzeugung die Aufgaben, die die Zivilgesellschaft für soziale Belange hat, weiter zunehmen.
Viele zivilgesellschaftliche Organisationen beklagen, dass schon jetzt die Auswirkungen der Corona-Maßnahmen deutlich zu spüren sind. Gesundheitskuren, Veranstaltungen, Programmbeiträge und vieles mehr, was essentiell für die Finanzierung und Existenz von Einrichtungen des Bürgerschaftlichen Engagements und Ehrenamts ist, werden unterbrochen oder abgesagt. Zudem werden gemeinnützige Organisationen, Vereine, Verbände und Stiftungen durch veränderte Arbeitsprozesse mit zusätzlichem finanziellem Aufwand, etwa durch die Anmietung von Online-Diensten, für Software-Abonnements und für Cloud-Speicher, die für das Homeoffice unabdingbar sind, belastet.
All das führt dazu, dass Organisationen keine oder nur noch wenig Gewinne erwirtschaften und so weder relevante Reserven bilden noch umfangreiche Kredite bedienen können. Letztlich ist damit die wirtschaftliche Existenz vieler Einrichtungen akut bedroht. Schon jetzt ist eine Welle von Insolvenzen, insbesondere im gemeinnützigen Sektor, zu befürchten.
Wie aber kann Politik das verhindern? Aus meiner Sicht muss die besondere Situation der Zivilgesellschaft mehr in den Blick genommen werden. Das ist, so bewerte ich es im Moment, in den vergangenen Wochen zu kurz gekommen. Um es genauer zu wissen, forsche ich derzeit nach, ob und wenn ja, wie die besondere Situation der Zivilgesellschaft bei der Strategie zur Bewältigung der Folgen der Corona-Krise seitens der Bundesregierung berücksichtigt wurde.
Richtig ist, dass wir ein Rettungskonzept aber auch ein Zukunftskonzept für die Zivilgesellschaft brauchen. Aber schnell aufgespannte Rettungsschirme, die realitätsfern und nicht wirkungsvoll sind, helfen niemandem. Wichtig ist, dass wir nachhaltig und zielgenau gemeinnützige Organisationen in Deutschland stärken und uns nicht nur auf Symbolpolitik beschränken. Eine saubere Analyse der Situation steht deshalb für mich vor schnellen Hilfen.
Das aber sind nur die aktuellen Herausforderungen, denen sich bürgerschaftliches Engagement stellt. Die allgemeinen Fragestellungen bei der Gemeinnützigkeit sind umfangreicher: Das Umfeld und der Weg zum Ehrenamt sind steinig, Bürokratie und Vorschriften wachsen und Zuspruch nimmt ab. Mehr als die Hälfte ihrer Zeit verbringen Ehrenamtliche laut des Bürokratie Barometers der Stiftung Aktive Bürgerschaft inzwischen mit Dokumentationen und Steuererklärungen. Wertvolle Zeit, die für das Engagement selbst fehlt oder zusätzlich in der wenigen Freizeit geleistet wird. Unsere Aufgabe muss es sein dieses Fundament zu erhalten, zu verfestigen und auszubauen, denn ehrenamtliches und bürgerschaftliches Engagement ist der Schlüssel für gesellschaftlichen Zusammenhalt und Wachstum.
Die Interessen von ehrenamtlich Engagierten sollten daher in der Politik stärker berücksichtigt und wirkungsvoller eingebracht werden. Das kann nur gelingen, wenn wir die Menschen, die sich engagieren und einbringen, im Prozess der Entwicklung einer eigenständigen Ehrenamtspolitik beteiligen. Und das gelingt nur mit einer Reform des Gemeinnützigkeitswesen.
Aus meiner Sicht sollte Gemeinnützigkeit künftig auch unabhängig vom Geschlecht der Mitglieder bestehen. Eine steuerliche Begünstigung von Körperschaften, die an die Mitgliederstruktur geknüpft werden soll, ist nicht sachgerecht. Die Beschränkung der Mitgliedschaft auf Frauen oder Männer führt nicht automatisch dazu, dass eine Körperschaft nicht mehr der Allgemeinheit dient und damit nicht gemeinnützig ist. Ein Aberkennen der Gemeinnützigkeit ist somit klar eine staatliche Bevormundung, die dem Erfordernis zivilgesellschaftlicher Vielfalt und der Vereinigungsfreiheit nicht gerecht wird.
Verantwortliche in gemeinnützigen Organisationen brauchen zudem mehr Unterstützung und Sicherheit. Angesichts der umfassenden Auflagen und Anforderungen ist es meines Erachtens nicht mehr gerecht, bei jedem Verstoß gegen gemeinnützigkeitsrechtliche Vorschriften die Gemeinnützigkeit sofort komplett zu entziehen. Ein abgestuftes Sanktionsverfahren wäre sehr viel angemessener und könnte die Existenznot gemeinnütziger Organisationen dämpfen.
Auch eine Trennung von Zivilgesellschaft und Gemeinnützigkeit wäre sinnvoll. Steuerliche Privilegien, die die Gemeinnützigkeit mit sich bringt, sollten separat von Fördermitteln betrachtet werden. Eine Reihe von Organisationen, die als Vermittler agieren und das zivile Engagement fördern, werden trotz des gemeinwohlorientierten Charakters von der Verleihung des Status der Gemeinnützigkeit ausgeschlossen. Ein Grund dafür ist, dass die gemeinnützigen Zwecke in der Abgabenordnung die Zivilgesellschaft eigentlich zu großen Teilen nicht mehr abbilden und die Wirkung auf das Gemeinwohl außer Acht lassen. Für die Unterstützung derartiger Organisationen bedarf es einer Trennung zwischen der Zivilgesellschaft und der Gemeinnützigkeit, mit dem Ziel, aus der steuerlichen Gemeinnützigkeit all das herauszunehmen, was unter dem Begriff der Gemeinwohlorientierung fällt.
Darüber hinaus sind neue Regelungen für Sozialunternehmen wichtig, da das aktuelle Gemeinnützigkeitsrecht die Handlungsfähigkeit von Sozialunternehmen einschränkt. Ihnen wird häufig die Gemeinnützigkeit nicht anerkannt, da sie in vielen Fällen weder rein profitorientiert noch rein gemeinnützig sind. Damit Sozialunternehmen sowohl gemeinnützig als auch wirtschaftlich erfolgreich agieren können, bedarf es einer Überprüfung und gegebenenfalls Weiterentwicklung des Gesellschafts-/Genossenschaftsrechts. Potenziale und Chancen bestehender Rechtsformen und möglicher neuer Rechtsformen für Sozialunternehmen sollten überprüft und gegebenenfalls weiterentwickelt werden. All diese Maßnahmen wären zumindest ein erster Schritt, damit das, was Sie sich mit geschlossenen Augen vorstellen sollten, nicht doch Realität wird. Es wären einige kleine Elemente, damit nicht noch mehr gemeinnützige Organisationen in Deutschland vom Untergang bedroht sind und wir alle die Herausforderungen, die vor uns liegen, bewältigen können.
Beitrag im Newsletter Nr. 12 vom 18.6.2020
Für den Inhalt sind die Autor*innen des jeweiligen Beitrags verantwortlich.
Autor
Grigorios Aggelidis ist ein deutscher Unternehmer und Politiker griechischer Herkunft. Im Bundestag engagiert er sich für die FDP-Bundestagsfraktion u.a. im Unterausschuss für bürgerschaftliches Engagement sowie im Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Er selbst ist viele Jahre ehrenamtlich tätig gewesen.
Kontakt: grigorios.aggelidis@bundestag.de
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