Beitrag im Newsletter Nr. 13 vom 2.7.2020

Flüchtlingsaufnahme kontrovers

Prof. Dr. Christel Kumbruck, Maik Dulle und Martin Vogt

Inhalt

Einblicke in die Denkwelten und Tätigkeiten von Engagierten
Die Veränderung der Engagementlandschaft Deutschlands im Rahmen der Flüchtlingsaufnahme
Die Studie und ihre Besonderheiten
Exklusiver Ergebniseinblick und Ausblick
Endnoten
Autor*innen
Redaktion

Einblicke in die Denkwelten und Tätigkeiten von Engagierten

Dieser Beitrag bezieht sich auf das gleichnamige Buch »Flüchtlingsaufnahme kontrovers. Einblicke in die Denkwelten und Tätigkeiten von Engagierten« und die darin durchgeführte Studie. Das Buch erschien im Mai im Nomos Verlag[1].

Die Veränderung der Engagementlandschaft Deutschlands im Rahmen der Flüchtlingsaufnahme

Die Engagementbereitschaft in Deutschland ist generell hoch[2]. Während im Jahr 2009 die Engagementquote 36 Prozent der Bevölkerung betrug[3]., stieg dieser Wert 2014 auf 44 Prozent[4].. Durch den hohen Zuzug von Geflüchteten seit 2015 hat sich ein weiteres Engagementfeld zu den gängigen Engagementfeldern wie Vereinen, Verbänden oder Kirchen hinzugesellt. Während anfänglich die mediale Darstellung sich vor allem auf flüchtlings-unterstützendes Engagement (Stichwort Willkommenskultur[5].) bezieht, wird im Laufe der Zeit auch über flüchtlingskritisches Engagement berichtet. Dieses wird dann relativ schnell als »dunkle Seite« des Engagements[6]. oder rechtslastig abgetan. Die Thematik Engagement im Rahmen der Flüchtlingsthematik entwickelte im weiteren zeitlichen Verlauf eine enorme gesellschaftlich, emotionale Aufgeladenheit u a. auch durch Geschehnisse wie die Kölner Silvesternacht 2015/2016[7].. Vermehrt wurde in diesem Zusammenhang auch von gesellschaftlicher Spaltung berichtet[8]., was sich in den jeweiligen Sichten auf die Gegenseite andeutet: Flüchtlingshelfer (O-Ton aus der Studie: »Teddybärenwerfer«) stehen Skeptikern, die eine andere Flüchtlingspolitik wollen, (O-Ton aus der Studie: »Montagsidioten«[9].) gegenüber – es dominieren Vorurteile und Konfrontation anstelle von Diskurs. Die Fragen »Warum eigentlich engagieren sich manche Menschen für Flüchtlinge, während andere sich gegen die Flüchtlingsaufnahme einsetzen?« und »Gibt es eine Gesprächsgrundlage zwischen den beiden Gruppierungen?« bleiben aber weitestgehend unbeantwortet.

Die Studie und ihre Besonderheiten

Auf der Suche nach Antworten wurden deutschlandweit von Mai bis September 2018 vier Fokusgruppeninterviews und 22 Repertory-Grid-Interviews durchgeführt. Dabei wurde darauf geachtet mit offener Haltung »das Ohr nah an den verschiedenen Engagierten zu haben«. Neben der ausgewogenen methodischen Kombination von Fokusgruppen und Einzelinterviews wurden in dieser Studie sowohl Flüchtlingshelfer/innen als auch Gegner/innen der Flüchtlingspolitik gleichermaßen interviewt und die Ergebnisse in einem psychologischen Kontext betrachtet. Dadurch kommen in dieser Studie erstmalig beide Gruppierungen zu Wort. Die Studie gewährt dadurch interessante Einblicke in und ermöglicht gleichzeitig ein grundlegendes differenziertes Verständnis für die Beweggründe, Denkwelten, Motive und Wertekonstellationen der verschiedenen Engagierten.

Exklusiver Ergebniseinblick und Ausblick

Die Ergebnisse der Studie wurden in dem Buch »Flüchtlingsaufnahme kontrovers. Einblicke in die Denkwelten und Tätigkeiten von Engagierten« zusammengetragen. Es zeigt sich ganz generell, dass die Flüchtlingsthematik übergreifend Unsicherheit bei den Engagierten kreiert hat. (Der/Die Leser/in sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass die wahrgenommene Unsicherheit nicht zwangsläufig mit Angst gleichzusetzen ist). Die Bewältigungsformen bezogen auf diese Unsicherheit variieren stark und sind abhängig von den verschiedenen Werteorientierungen der Engagierten. Während die einen Offenheit als Strategie zur Reduzierung von Unsicherheit nutzen, fokussieren sich andere auf das Bedürfnis zur Erhaltung des Status Quo, um ebenfalls mit der empfundenen Unsicherheit umzugehen.

Abb.: Zusammenhang von Werten und Engagementform und deren Konsequenzen. In Anlehnung an [10]
Abb.: Zusammenhang von Werten und Engagementform und deren Konsequenzen. In Anlehnung an [10]

In Konsequenz bestimmt die Werteorientierung die Engagementform (siehe Abb.). So zeigen sich beispielsweise Engagierte, deren Wert »Offenheit« hoch ausgeprägt ist, eher menschenorientiert und bieten den Geflüchteten direkte Hilfe (z.B. Sprachunterricht) an, während Engagierte mit hoher Ausprägung des Wertes »Erhaltung« eher systemorientiert sind und dementsprechend eine Änderung auf politisch-gesellschaftlicher Ebene fordern.

Die Ergebnisse zeigen weiterhin, dass ihre Werteorientierung den Engagierten nicht bewusst ist. Die unbewusste Werteorientierung der Engagierten führt über die Engagementform zu Gruppenprozessen, d.h. Engagierte, die die gleichen Werte teilen, üben oftmals ähnliches Engagement aus und schließen sich schlussendlich zusammen[11]. Als Resultat hat die unbewusste Werteorientierung über die Engagementform gleichzeitig indirekt negative Auswirkungen auf die Fremdsicht und die Gesprächskultur, da die anderen, die sich anders engagieren und dabei nicht die gleichen Werte teilen, abgewertet werden. Als Verstärker[12] fungiert dabei die Selbstwirksamkeitserfahrung der Engagierten. Es wurde herausgefunden, dass alle Engagierten mit ihrem Einsatz etwas bewirken wollen und sie davon überzeugt sind, etwas Sinnvolles und das Richtige zu tun. In Kombination mit der unbewussten Wertediskrepanz führt gerade diese Überzeugung dazu, dass es zu blinden Flecken in der Wahrnehmung der Engagierten nach dem Motto »Nur das eigene Engagement ist das Richtige« kommt, obwohl die verschiedenen Engagierten äußern, einen fairen Dialog zu wünschen. Zusammenfassend möchte das Buch allen Lesern und Leserinnen Einblicke in das komplexe Enagementgeschehen geben. Freuen würde sich das Autorenteam, wenn mit dem Buch alle Leser und Leserinnen und speziell die im Rahmen der Flüchtlingsthematik Engagierten, zur Selbstreflexion und zum Perspektivenwechsel angeregt würden. Die sog. Gegenseite könnte dann vielleicht etwas differenzierter betrachtet werden. Dadurch erhofft sich das Autorenteam einen Teil zur Verbesserung der Diskurskultur zwischen Engagierten mit verschiedenen Ansichten zu leisten.

Das SI-EKD führt aufbauend auf dieser qualitativen Studie derzeit eine zweite quantitative Studie durch.


Endnoten

[1] https://www.nomos-shop.de/titel/fluechtlingsaufnahme-kontrovers-id-87887/

[2] Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. (BMFSFJ, 2017). Zweiter Bericht über die Entwicklung des bürgerschaftlichen Engagements in der Bundesrepublik Deutschland - Schwerpunkt: Demografischer Wandel und bürgerschaftliches Engagement: Der Beitrag des Engagements zur lokalen Entwicklung, Berlin.

[3] Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ, 2012), Für eine Kultur der Mitverantwortung. Erster Engagementbericht, Bürgerschaftliches Engagement in Deutschland – Schwerpunkt: Engagement von Unternehmen, Berlin.

[4] Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. (BMFSFJ, 2017). Zweiter Bericht über die Entwicklung des bürgerschaftlichen Engagements in der Bundesrepublik Deutschland - Schwerpunkt: Demografischer Wandel und bürgerschaftliches Engagement: Der Beitrag des Engagements zur lokalen Entwicklung, Berlin.

[5] https://www.sueddeutsche.de/leben/willkommenskultur-fuer-fluechtlinge-was-hinter-der-hilfsbereitschaft-der-deutschen-steckt-1.2642991

[6] Rüttgers, M. (2017). Analyse: Die »dunkle Seite der Zivilgesellschaft«–Weniger Empörung, mehr Aufklärung bitte!. Forschungsjournal Soziale Bewegungen, 30(2), 200-204.

[7] Behrendes, U. (2016). Die Kölner Silvesternacht 2015/2016 und ihre Folgen: Wahrnehmungsperspektiven, Erkenntnisse und Instrumentalisierungen. Neue Kriminalpolitik, 322-343.

[8] https://www.sueddeutsche.de/politik/demokratie-unter-stress-eine-kulturelle-trennlinie-durchschneidet-deutschland-1.4067239?reduced=true

[9] Bei den beiden O-Tönen handelt es sich um originale Aussagen der interviewten Engagierten aus dem Buch Kumbruck, C., Dulle, M., & Vogt, M. (2020). Flüchtlingsaufnahme kontrovers. Einblicke in die Denkwelten und Tätigkeiten von Engagierten. Baden-Baden: Nomos Verlag.)

[10] Kumbruck, C., Dulle, M., & Vogt, M. (2020). Flüchtlingsaufnahme kontrovers. Einblicke in die Denkwelten und Tätigkeiten von Engagierten. Baden-Baden: Nomos Verlag.

[11] Tajfel, H. (1970). Experiments in intergroup discrimination. Scientific American, 223(5), 96-103.

[12] Skinner, B. F. (1938). The Behavior of Organisms: An Experimental Analysis. New York: Appleton-Century.


Beitrag im Newsletter Nr. 13 vom 2.7.2020
Für den Inhalt sind die Autor*innen des jeweiligen Beitrags verantwortlich.

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Autor*innen

Prof. Dr. Christel Kumbruck ist promovierte und habilitierte Arbeits- und Organisationspsychologin, Arbeitswissenschaftlerin und emeritierte Professorin für Wirtschaftspsychologie an der Hochschule Osnabrück. Sie ist Projektleiterin für den qualitativen Teil des Projekts »Zivilgesellschaftliches Engagement: Was bewegt Menschen in Deutschland dazu, sich im Rahmen der Flüchtlingsthematik zu engagieren?«.

Kontakt: c.kumbruck@hs-osnabrueck.de

Maik Dulle ist studierter Arbeits- und Organisationspsychologe und war von 2018-2019 als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Hochschule Osnabrück im Projekt »Zivilgesellschaftliches Engagement: Was bewegt Menschen in Deutschland dazu, sich im Rahmen der Flüchtlingsthematik zu engagieren?« tätig. Derzeitig promoviert er an der Universität Bremen.

Kontakt: dulle@uni-bremen.de

Marvin Vogt ist studierter Wirtschaftspsychologe. Ab 2019 war er als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Hochschule Osnabrück im Projekt »Zivilgesellschaftliches Engagement: Was bewegt Menschen in Deutschland dazu, sich im Rahmen der Flüchtlingsthematik zu engagieren?« beteiligt. Aktuell studiert er an der University of Sussex.

Kontakt: mv294@sussex.ac.uk


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