Wertvolles in der Digitalisierung
Ein erstes Nachdenken über die Corona-Pandemie.
Ann Cathrin Riedel
Inhalt
Wertvolle Digitalisierung für Mensch und Bildung
Digitalisierung als gemeinnütziger Zweck und die Verteidigung der Bürgerrechte
Essentielle Erkenntnisse aus der Pandemie
Digitale Souveränität
Fazit und Aufruf
Autorin
Redaktion
Keynote Speech zur Auftaktveranstaltung des »Forum Digitalisierung und Engagement« von Ann Cathrin Riedel, Vorsitzende des LOAD e.V. – Verein für liberale Netzpolitik. Bestimmt ist das nicht Ihre erste Online-Veranstaltung. Erst recht nicht während der Corona-Pandemie. Es ist auch nicht das erste Mal, dass ich während dieses Ausnahmezustands digital einen Vortrag halte, oder auf einem Panel diskutiere oder eines moderiere. Aber es ist das erste Mal, dass ich dabei nicht zuhause an meinem Esstisch sitze, sondern wieder an einem anderen Ort bin. Das ist für mich etwas ganz Besonderes. Nur Sie, mein Publikum, Sie fehlen mir.
Diese Bühnenauftritte von zuhause, sie haben aber auch etwas Besonderes. Döner vor einem Auftritt mit Knoblauchsoße und Zwiebeln essen ist plötzlich gar kein Problem mehr. Bei etwas kühleren Temperaturen eine Decke über den Beinen haben und sich mit den Füssen einkuscheln – das kann man meinetwegen gerne für Panels, wie sie früher waren, übernehmen. Und ja, es ist ein wahrer Luxus, wenn man sich bei Veranstaltungen am Morgen direkt aus dem Bett vor die Kamera setzen kann, ein bisschen über die Herausforderungen der Digitalisierung diskutiert und man danach eigentlich wieder ins Bett hüpfen könnte.
Aber funktionieren tut das in der Praxis nicht wirklich. Denn wenn man diskutiert, dann ist man wach. Gerade dann, wenn man für seine Themen brennt. Dann würde man gerne noch mit den Panelist:innen nach der eigentlichen Diskussion weiter diskutieren. Mit Zuschauer:innen ins Gespräch kommen, Menschen kennenlernen und Kontakte austauschen. Das alles funktioniert digital nicht wirklich. Stattdessen wird die Übertragung beendet – auch Sie werden das vermutlich heute erleben – und dann ist sie da: Leere.
Einige sprechen gerade über die sogenannte »Zoom-Fatigue«. Dass es sehr viel anstrengender ist, Videokonferenzen zu folgen, als echten Live-Meetings. Weil Sie die Mimik und Gestik der Menschen, mit denen Sie interagieren nicht mehr richtig wahrnehmen können. Weil Sie im Galeriemodus zig Menschen vor sich haben, alle machen irgendwas: reden, starren, die Augen verdrehen. Sie alle gleichzeitig zu sehen und zu beobachten strengt das Gehirn wahnsinnig an. Kein Wunder, dass Sie nach so einer Videokonferenz geschaffter sind, als nach einem normalen Meeting. Über diese Leere, die ich gerade erwähnte, spricht noch kaum jemand. Aber auch sie ist Teil von unschönen Begleiterscheinungen von Online-Konferenzen.
Wertvolle Digitalisierung für Mensch und Bildung
Die Corona-Pandemie lehrt uns einiges beim Thema Digitalisierung. Die Schulen müssten besser ausgestattet sein, Behördengänge müssten digital möglich sein, unser eigenes Wissen über Datenschutz und IT-Sicherheit könnte besser sein. Uns wird aber auch gelehrt: Der Mensch ist essentiell. Ich behaupte: essentieller, als uns bewusst war.
Während die einen davon geträumt haben, dass man zukünftig keine Meetingräume mehr braucht, weil alles virtuell ablaufen kann, haben die anderen Angst gehabt, dass digitale Tools in der Schule nicht in der Lage sind, den Kindern den Unterrichtsstoff näher bringen zu können. Ich glaube, beide Gruppen lagen mit ihren Vorstellungen falsch. Aber es ist meiner Meinung nach auch nicht das Gegenteil wahr.
Gute Meetings bedürfen sehr viel. Die Präsenz von Menschen ist nur ein Baustein. Nicht nur für die Konzentration, sondern auch für die Wahrnehmung der Gestik und Mimik. Für das Gespräch in der Kaffeepause. Wir lernen jetzt aber auch: digitale Konferenzen oder Mischformen sind möglich und durchaus effektiv. Und sie ermöglichen so vielen Menschen an Besprechungen teilzunehmen. Sei es wegen dem Wunsch Familie und Beruf besser zu vereinbaren, weniger Reisen zu müssen oder einfach, weil die Handwerker:in heute kommt.
Ebenso in der Schule. Lehrerinnen und Lehrer leisten Enormes – auch außerhalb von Corona. Nicht nur sie, sondern auch die Kinder brauchen ein zeitgemäßes Lernen. Mit zur Verfügung gestellten Geräten, mit digitalen Lernplattformen und oftmals sogar einfach bloß Emailadressen, die nicht die Privaten sind. Die Digitalisierung von Schulen wird nicht bedeuten, dass Kinder nur noch vor einem Bildschirm sitzen. Sie wird hoffentlich heißen, dass sie Medienkompetenz lernen. Dass sie mit Tools arbeiten, die sich an europäische Datenschutzstandards halten. Dass kollaboratives und vielleicht auch individuelleres Lernen möglich wird. Und dass Lehrer:innen Unterstützung bei zeitfressenden administrativen Aufgaben bekommen, damit sie sich mehr um das Wesentliche kümmern können: die Kinder.
Wenn wir etwas aus der Corona-Pandemie in Puncto Digitalisierung lernen, dann hoffentlich das: dass eine wirklich wertvolle Digitalisierung – im besten Sinne des Wortes – nur gelingen kann, wenn wir den Menschen und seine Bedürfnisse in den Mittelpunkt stellen. Denn die Technik hat dem Menschen zu dienen, sie ist kein Mittel zum Zweck.
Digitalisierung als gemeinnütziger Zweck und die Verteidigung der Bürgerrechte
Ich möchte aber noch über einen anderen Punkt sprechen – gerade hier beim Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement. Nämlich über meine bisherigen Erkenntnisse zur Digitalisierung während der Corona-Pandemie. Auch ich verbringe einen Großteil meiner Freizeit mit bürgerschaftlichem Engagement. Leider ist meines, das Engagement für Bürgerrechte im Digitalen, oder die Digitalisierung allgemein, immer noch kein gemeinnütziger Zweck nach der Abgabenordnung. Und leider – so meine Wahrnehmung – wird das Engagement für Bürgerrechte im Digitalen, zum Beispiel konkret über den Datenschutz, immer als Verhinderer, als Störenfried angesehen. Dabei sind wir alles andere als das.
Morgen soll die sogenannte Corona-App erscheinen und ich könnte hier jetzt noch lange darüber referieren, warum es gut ist, dass sie erst morgen kommt. Weil wir auf die Schnittstellen von Apple und Google angewiesen sind, die erst Ende Mai veröffentlicht wurden – denn nur so hat die App überhaupt die Chance technisch gut zu funktionieren. Weil gute Software eben nicht von heute auf morgen entwickelt werden kann und weil es gut ist, dass wir um die bestmögliche, die bürgerrechtsschonendste Umsetzung für die App als demokratische Gesellschaft diskutiert haben.
Gerade dieser letzte Punkt findet meines Erachtens zu wenig Beachtung: wie wichtig es ist, dass wir in einer demokratischen Gesellschaft nicht einfach auf eine Lösung, die von der Regierung vorgelegt wird, vertrauen, sondern darüber diskutieren, ja streiten im besten Sinne, was wir als Bürgergesellschaft für Ansprüche haben, haben müssen. Ja, ich sage sogar, es ziemt sich für eine demokratische Gesellschaft diesen produktiven Streit zu suchen und zu führen. Und ich sage Ihnen dann auch ganz ehrlich, dass es schon etwas verletzend ist, wenn Menschen, die in ihrer Freizeit konstruktive Vorschläge entwickeln, präsentieren und den Diskurs suchen, als Verhinderer von digitalen Lösungen dargestellt werden. Als Fanatiker, als Hysteriker. Als wäre Datenschutz unwichtig, als wäre Privatsphäre irrelevant. Und das, während wir im gleichen Moment sagen, dass wir hier in Europa, in Deutschland unbedingt eine ethische Digitalisierung brauchen – als Gegenmodell zu den USA und China. Eine, die auf unseren Werten basiert. Ich halte das für mehr als richtig. Bloß welche Werte, wenn nicht Bürgerrechte, wenn nicht Menschenrechte, sollen denn diese Werte sein?
Ich sage aber auch, dass ich sehr froh bin, wie sich der Diskurs um die Corona-App dann noch entwickelt hat. Dass die Bundesregierung unter anderem durch den offenen Brief von meiner und anderen Organisationen eingelenkt ist und auf das dezentrale Modell zum Abgleich der Kontakte gesetzt hat. Dass die App als Open-Source-Projekt entwickelt und Feedback aus der Community eingearbeitet wird. Dass der Prozess transparent ist und die App freiwillig bleibt. Ich wünsche mir sehr, dass dies zu einer Blaupause für weitere Digitalisierungsprojekte in Deutschland wird. Dass bürgerschaftliches Engagement, der Austausch und der Diskurs mit der Zivilgesellschaft auch hier so selbstverständlich wird, wie er in einigen Bereichen schon lange ist.
Essentielle Erkenntnisse aus der Pandemie
Digital, souverän, engagiert. Das Motto des Forums Digitalisierung und Engagement spiegelt meiner Meinung nach drei essentielle Dinge wieder, wenn es darum geht, Erkenntnisse aus der Corona-Pandemie zu gewinnen:
Das Digitale ist nicht mehr weg zu denken. Videokonferenzen – so kräftezehrend sie auch sein mögen – haben uns mit unserer Familie und unseren Freunden in Kontakt bleiben lassen. Sie machten für viele das Arbeiten auch von zuhause aus möglich und auch so mancher Verein traf sich zum Stammtisch im virtuellen Raum. Ich sagte schon: wir merken jetzt, wie wichtig doch analoge Treffen sind und dass dennoch Mischformen solcher Konferenzen beibehalten werden müssen.
Das Ganze müssen wir aber noch weiterdenken: wie können wir mit Hilfe digitaler Tools unsere Demokratie digitaler und damit partizipativer und inklusiver gestalten? Wenn es eben doch geht, dass wir uns auch auf digitalen Konferenzen austauschen, warum ermöglichen wir es dann nicht zum Beispiel auf Parteitagen, dass Menschen – sei es wegen körperlicher Einschränkungen, Krankheit, fehlendem Budget für Reisen oder Terminüberschneidungen – eben auch digital partizipieren können und so am Willensbildungsprozess von Parteien mitwirken können? Warum entwickeln wir unsere Parlamente nicht dahingehend, dass auch digitale, dezentrale Sitzungen im Ausnahmefall möglich sind, sodass im Falle einer weiteren Pandemie oder einer zweiten Welle eben nicht über möglicherweise notwendige Notparlamente gesprochen werden muss, sondern gesichert ist, dass der parlamentarische Betrieb, die parlamentarische Kontrolle, weiterhin erfolgen kann. Wie und wo können digitale Tools dem Menschen dienen, damit unsere Gesellschaft inklusiver, partizipativer und damit demokratischer wird. Hierauf sollten wir Antworten finden.
Digitale Souveränität
Ebenso darauf, wie wir souveräner werden. Digitale Souveränität ist ein Schlagwort, dass dieses Jahr in aller Munde und auch Thema bei der Europäischen Kommission ist. Der abrupte Wechsel ins Digitale offenbarte uns sehr deutlich, wie sehr wir vor allem von US-amerikanischen Konzernen abhängig sind und wie enorm deren Marktmacht ist. »Zoom-Fatigue« wird nicht umsonst nach dem so beliebten Videokonferenz-Tool genannt, das erst erhebliche Datenschutzbedenken hervorrief, nun Verschlüsselung nicht mehr in der kostenfreien Variante anbietet und in China chinesische Zensurvorgaben umsetzt. Amazon kann Höchstpreise für Masken, die auf seiner Plattform vertrieben werden, festlegen und bestimmen, welche Güter als wichtig erachtet werden, sodass diese präferiert an Kund:innen ausgeliefert werden. Das mag moralisch vernünftig sein, dass Amazon keinen Wucher bei den so wichtigen Masken zuließ, dass ein einzelnes Unternehmen aber solch eine Macht hat, die Spielregeln eines Marktes zu bestimmen, sollte uns zu denken geben. Zumal Moral nicht der Antrieb sein kann, wenn man auf den nur ungenügenden Schutz der Arbeitnehmer:innen in den Warenlagern blickt. Apple und Google haben die Macht zu sagen, dass sie mit ihrer Schnittstelle nur das dezentrale Modell für die Technologie hinter der Corona-App unterstützen und nicht das zentrale. Wir haben Glück, dass sich die beiden Konzerne für die bürgerrechtsfreundlichere Variante entschieden haben. Was wäre, wenn es andersrum gewesen wäre?
Digital souverän zu sein bedeutet nicht, digital autark zu werden, oder Produkte US-amerikanischer Konzerne zu verbieten. Aber wir müssen nicht nur deutlicher machen, was wir in Puncto Datenschutz und IT-Sicherheit von solchen Produkten erwarten und das auch durchsetzen, sondern wir brauchen auch Alternativen – am besten auf Open-Source-Basis – damit wir souverän entscheiden können, welche Produkte wir nutzen und wo wir unsere Daten verarbeiten lassen möchten.
Das alles braucht Engagement. Auch und vor allem von der Zivilgesellschaft. Wie engagiert wir sind und was für Potentiale wir entwickeln können, das hat uns die Pandemie ebenfalls gezeigt. Mich persönlich hat dieses Engagement und die Solidarität wahnsinnig beeindruckt. Und hier zeigte sich auch sehr schön, wie digitale Tools Menschen dienen können. Indem sie sie vernetzen, Informationen verfügbar machen, oder aus der Einsamkeit retten. Es ist eigentlich ganz egal wie und wo man sich engagiert: wie wichtig die Digitalisierung auch für das Ehrenamt ist, für jegliche Organisationen der Zivilgesellschaft, das zeigt sich jetzt. Auch, wie viel Nachholbedarf hier ist.
Fazit und Aufruf
Damit auch zum Abschluss mein Aufruf an Sie. Die Digitalisierung durchdringt alle Lebensbereiche – diese leidige Floskel ist nunmal wahr. Und das heißt eben, dass wir alle dazu aufgefordert sind, unser Wissen, unsere Expertise, in die digitale Welt zu übertragen. Das funktioniert nicht analog. Sondern das bedarf vor allem einer Klärung unserer Prinzipien, die wir dann auf die digitale Welt adaptieren müssen. Dafür braucht es wiederum Verständnis für diese. Was heißt wir müssen zuhören, fragen, lernen, verstehen. Das kostet – nicht nur Zeit. Daher muss auch eines unserer gemeinsamen Anliegen sein, dass die finanzielle Unterstützung der Digitalisierung des bürgerschaftlichen Engagements eine deutlich höhere Priorität bekommt und abseits von Projektfinanzierung möglich gemacht wird.
Mir fällt es schwer in so etwas wie der Corona-Krise auch eine Chance zu sehen. Dennoch glaube ich, dass uns diese Pandemie den Blick fürs Wesentliche wieder etwas schärfen konnte. Dass der Mensch im Mittelpunkt stehen muss. Dass Gemeinschaft und Solidarität einen unschätzbaren Wert haben. Und dass wir den ebenso unschätzbaren Luxus haben, in unserer liberalen Demokratie um die beste Lösung streiten zu können.
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen heute hier beim Forum Digitalisierung einen produktiven Diskurs, Ergebnisse, die Sie weiterbringen und weitertragen und dass wir uns hoffentlich bald wieder physisch begegnen können.
Beitrag im Newsletter Nr. 15 vom 30.7.2020
Für den Inhalt sind die Autor*innen des jeweiligen Beitrags verantwortlich.
Autorin
Ann Cathrin Riedel studierte Islamwissenschaft, Politik und BWL. Sie ist Vorsitzende von LOAD e.V. – Verein für liberale Netzpolitik und Vize-Präsidentin der European Society for Digital Sovereignty. Mit ihrer Agentur UP DIGITAL MEDIA entwickelt sie Strategien zur digitalen politischen Kommunikation. Sie war Lehrbeauftragte an der HS Fresenius in Düsseldorf und wurde von der Zeitschrift »Politik & Kommunikation« in die Liste der 65 »Gesichter der Zukunft unter 35« im Bereich Politikberatung und Expertise aufgenommen. Sie ist Mitglied der Arbeitsgruppen »Ethik in der Digitalisierung« und »Algorithmen-Monitoring« der Initiative D21. In ihren Funktionen publiziert und spricht sie regelmäßig über Ethik und Bürgerrechte, Meinungsfreiheit und Kommunikation im digitalen Raum, sowie digitale Souveränität.
Kontakt: ann-cathrin.riedel@load-ev.de
Redaktion
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