Beitrag im Newsletter Nr. 15 vom 30.7.2020

Digitalisierung – Für eine zivilgesellschaftliche Perspektive

Thomas Röbke

Inhalt

Zivilgesellschaft und die digitale Moderne
Erwartungen an die Digitialisierung
Ambiguität der Chancen und Risiken
Eine zivilgesellschaftliche Perspektive auf die Digitalisierung
Fazit und Ausblick
Endnoten
Autor
Redaktion

Grußwort von Thomas Röbke zur Auftakttagung des »Forum Digitalisierung und Engagement« am 15. Juni 2020 Ich freue mich, Sie zu unserer Auftaktkonferenz des »Forum Digitalisierung und Engagement« begrüßen zu dürfen. Es ist ja ein recht eigenartiges Format, sich über eine ganze Woche hinziehend, mit Arbeits- und Diskussionseinheiten von jeweils zwei Stunden.

Aber das ist wahrscheinlich auch notwendig, denn viele von uns haben die Erfahrung gemacht, dass längere Online-Sitzungen zur Ermüdung führen, und gerade bei dem Thema Digitalisierung und Engagement sollte man hellwach sein.

Derzeit ist Digitalisierung überall präsent. Corona hat uns offensichtlich gelehrt, Vorbehalte gegenüber einer allzu schnellen Modernisierung unserer Kommunikationswege und Arbeitsweisen über Bord zu werden. Die gerade veröffentliche Umfrage von Ziviz[1] zu Digitalisierung in der Zivilgesellschaft legt jedenfalls nahe, dass plötzlich Dinge selbstverständlich sind, über die man doch lange kontrovers diskutiert hat. Manche Sagen auch: Die »Bedenkenträger« sind kleinlauter geworden.

Zivilgesellschaft und die digitale Moderne

Nun ja. Ich gehöre auch zur Generation der sogenannten Digital Immigrants, die in diese digitalen Welten nicht selbstverständlich hineingeboren wurden. Ich sehe schon die Vorteile der Digitalisierung in der gegenwärtigen Krise, die uns in kurzer Zeit gelehrt hat, über Videokonferenzen, kollaborative Tools usw. neue Arbeitsweisen zu erlernen. Dennoch wäre ich jetzt gerne in Berlin in einer, wie es nun heißt »Präsenzveranstaltung«, aber bei manchen dichten Zeiten schätze ich die enorme Zeit- und Reisekostenersparnis, die die Digitalisierung mit sich bringt.

Beim Thema Digitalisierung und der Frage, wie sich Zivilgesellschaft dazu verhält, sollten wir uns freilich nicht nur von akuten Herausforderungen leiten lassen, das wäre fahrlässig. Denn es geht um mehr, nämlich darum, wie Zivilgesellschaft eine eigene Position zur digitalen Moderne erarbeiten kann, die ihre Kernanliegen nicht verschüttet, sondern stärkt und unterstützt.

Gerade diesen weiteren Blick möchte das Forum eröffnen und dafür bin ich sehr dankbar. Es geht um die Frage, welche Chancen uns die Digitalisierung für eine lebendige Demokratie eröffnet und welche Risiken sie zum Beispiel durch die Verbreitung von Hatespeech für eben diese Demokratie mit sich bringt. Es geht um die Frage, welche Kompetenzen die Einzelnen, aber eben auch Gruppen und zivilgesellschaftliche Organisationen benötigen, damit sie mit der digitalen Moderne souverän umgehen und nicht zu ihrem Knecht werden, der sich vorgegebenen Algorithmen blind unterwirft. Es geht um die Frage, wie wir die Werte der Zivilgesellschaft, auf Augenhöhe, gemeinwohlorientiert, aber auch eigensinnig, in Zusammenarbeit mit digitalen Möglichkeiten stärken und nicht schwächen. Und es geht darum, dass keine Datenkraken oder autoritäre Regimes uns an eine unsichtbare Leine nehmen, indem sie hinter unserem Rücken mit unseren intimen Geheimnissen hantieren.

Das alles sind eminente Themen der zivilgesellschaftlichen Perspektivierung. Mittlerweile gibt es hierzu viele gute Veröffentlichungen wie den gerade erschienene Dritten Engagementbericht[2], der sich vor allem mit der Digitalisierung und dem Jugendlichen Engagement befasst.

Aber wir müssen m.E. den Horizont noch mehr weiten. Das werden wir in dieser Woche gemeinsam versuchen. Dafür gilt mein Dank dem Team um Dr. Serge Embacher mit Dana Milovanovic, Teresa Staiger und Semhar Abraham, das alles sorgfältig vorbereitet hat, unter anderem mit sehr guten Thesenpapieren.

Erwartungen an die Digitialisierung

Was können wir uns von der Digitalisierung erwarten? In die Zukunft zu schauen ist das eine. Die Zukunft aber durch intelligente Überlegungen mitgestalten, ist das andere. Wir sollten auch immer eine gewisse Bescheidenheit bewahren. In der Coronakrise wimmelte es ja von gesellschaftlichen Großentwürfen, was sich nun alles grundlegend verändern wird. Ich bin da erst einmal skeptisch, weil ich mich schon an viele Gelegenheiten erinnere, wo man dies auch so sagte, zuletzt in der Bankenkrise 2008, als viele prognostizierten, jetzt würde die Gier aus unserer Welt verschwinden, weil sie sich doch so blamiert habe. Nun ja.

Der Historiker Joachim Radkau hat vor einigen Jahren in seinem Buch über »Geschichte der Zukunft: Prognosen, Visionen, Irrungen in Deutschland von 1945 bis heute«[3]dazu eine schöne Geschichte erzählt. So wurden in den 1960er und 1970er Jahren zum Beispiel Gebietsreformen, die zur Zusammenlegung vieler Gemeinden und Landkreise geführt haben u.a. damit begründet, dass man sich die in Zukunft notwendige Digitalisierung mit der dazu notwendigen Rechnerleistung gar nicht alleine leisten könne. Man hatte damals diese Computer vor Augen, die irre viel Geld kosteten. Heute hat ein kleines Smartphone mehr Rechnerleistung als die riesigen Schrankwände von IBM. Aber wer konnte das damals schon ahnen.

Heute erleben wir Digitalisierung als einen tiefgreifenden Epochenbruch. Viele gewichtige Stimmen sagen uns, wir müssten mitmachen, sonst bestrafe uns das Leben. Es geht also disruptiv zu, wie das modische Schlagwort des Epochenbruchs heißt, dem wir beiwohnen. Aber weiß man das wirklich so genau?

Ambiguität der Chancen und Risiken

Ich möchte hingegen einen zweiten Begriff stark machen: den der Ambiguität als der Vieldeutigkeit und Vielgestaltigkeit der Chancen und Risiken, der hilfreichen Anwendungen und Irrtümer.[4] Um noch einmal Joachim Radkau zu zitieren: Ein Computer ist vieldeutiger als eine Dampfmaschine. Es stecken so viele Möglichkeiten in dieser Entwicklung und wir brauchen Souveränität und Kompetenz, um sie gut zu gestalten und auszuwählen. Wir brauchen aber nicht nur die Kompetenz der sicheren Anwendung, sondern auch die, Kritik zu üben, Grenzen zu ziehen und die Digitalisierung auch mal sein zu lassen, das Handy auszuschalten, den Computer runterzufahren.

Die Digitalisierung hat auch beunruhigende Aspekte. Ich war irritiert bis erschüttert, als ich erstmals von dem chinesischen Sozialkreditsystem[5] las, das auf einer umfassenden Digitalisierung aller Lebensbereiche aufbaut. Jemand wird mit einer Überwachungskamera gefilmt, wenn er bei Rot über die Straße geht, das wird auf seinem Sozialpunktekonto vermerkt und es gibt Punktabzug, der zum Beispiel darüber entscheiden kann, ob man in eine begehrte Sozialwohnung einziehen, eine Auslandsreise antreten darf oder nicht. Wenn man sich ehrenamtlich engagiert, kann man sein Punktekonto dann wieder füllen.

Noch mehr war ich erstaunt zu lesen, dass die weit überwiegende Zahl der Chinesinnen und Chinesen das gut findet, weil die Sozialkredite Trittbrettfahrerei und Korruption vorbeugen und den sozialen Zusammenhalt stärken würden.

Ein derartiges System freiwilliger Knechtschaft habe ich mir nicht vorstellen können.

Was dieses sicher extreme Beispiel verdeutlicht, ist ein Mechanismus, den soziologisch erstmals Norbert Elias in seinem Hauptwerk »Über den Prozess der Zivilisation«[6] untersucht hat: Er zeigt darin, wie in der Herausbildung der modernen Gesellschaft seit der Renaissance eine verfeinerte subjektive Affektkontrolle auf der einen Seite und der Aufbau eines mächtigen Staates mit zentralen Machtmonopolen auf der anderen Seite korrespondieren. Was würde heute Elias zur Digitalisierung sagen?

Natürlich würden wir uns, um die gesellschaftlichen Auswirkungen der Digitalisierung zu untersuchen, noch einen anderen Denker herbeiwünschen: Michel Foucault. Er zeigt in seiner Geschichte der Gouvernmentalität, wie die von Elias herausgearbeitete Dialektik von staatlicher Entwicklung und subjektiver Verhaltenskontrolle um einen dritten Pol erweitert wird: Die kapitalistische Ökonomie, die im 18. Jahrhundert langsam aus dem Schatten des absolutistischen Staates heraustritt.[7] Heute ist sie die eindeutig treibende Kraft der Digitalisierung und der Kontrolle des Staates längst entwachsen. Die großen Konzerne aus dem Silicon Valley scheinen uns weltumspannend im digitalen Griff zu haben, die einzelnen Nationalstaaten hecheln den Entwicklungen nur noch hinterher.

Eine zivilgesellschaftliche Perspektive auf die Digitalisierung

Und wo ist die Zivilgesellschaft, werden Sie sich fragen? Kann sie sich überhaupt bemerkbar machen im Konzert der großen Machtblöcke von Staat und Ökonomie?

Lucy Bernholz von der Stanford University, die gleichsam um die Ecke von Silicon Valley liegt, hat hierzu auf dem ersten Digital Social Summit 2019 eine sehr anregende Keynote gehalten. Sie trat überzeugend dafür ein, eine eigenständige zivilgesellschaftliche Perspektive auf die Digitalisierung zu entwickeln. Das ist nicht leicht, sagte sie, denn Zivilgesellschaft sei »messy, fragmented, weird«. Sie ist von Ambiguität geprägt und es fällt schwer, zu einer gemeinsamen Stimme zu kommen. Aber die hält sie schon für unverzichtbar, denn es geht darum, die Werte der Zivilgesellschaft: Selbstwirksamkeit, demokratischer Umgang, kreative Gemeinwohlorientierung in diesem digitalen Umwälzungsprozess vernehmlich zu machen.

Übrigens hat Lucy Bernholz Europa ein großes Kompliment gemacht. Gerade die Datenschutzgrundverordnung der EU habe den Schutz der persönlichen Freiheiten gestärkt und die großen Konzerne in die Schranken gewiesen.

Und da sind wir wieder bei Ambiguitäten. Es ist ja dieselbe Datenschutzgrundverordnung, die die Macht von Google, Facebook und Konsorten begrenzt, die in vielen zivilgesellschaftlichen Organisationen hierzulande als eine Art bürokratisches Monstrum wahrgenommen wurde.

Über diese Ambiguitäten müssen wir reden, wir müssen lernen, mit ihnen souverän umzugehen, um nicht zum bloßen Spielball der Digitalisierung zu werden. Wir müssen genau hinschauen, aber auch mal was Mutiges wagen und nicht nur Bedenkenträger sein.

Ich erlebe das gerade selbst in unserer Organisation, wo wir unsere Arbeitsweise nun mal probehalber mit Tools wie Jira oder Slack unterstützen. Wo ist die Grenze zwischen Erleichterung und Fremdsteuerung?

Fazit und Ausblick

Ich bin dankbar dafür, dass wir mit dem nun begonnenen »Forum Digitalisierung und Engagement« den Blick weiten können. Die Fragen, die das Forum stellt, sind gerade die richtigen. Wie können wir den Charme der Diversität und Ambiguität, den eine vielstimmige Zivilgesellschaft auszeichnet, bewahren und doch eine starke Position entwickeln, mit der wir uns politisch bemerkbar machen? Ganz so machtlos sind wir doch nicht, wie Institutionen wie die re: publica oder der Chaos Computer Club zeigen. Bei der Entwicklung der deutschen Corona App haben sich zivilgesellschaftliche Akteure auch sehr erfolgreich eingemischt.

Schließlich möchte ich jenen fördernden Institutionen, die diesen Prozess erst ermöglicht haben danken. Dem Bundesinnenministerium, und hier vor allem André Riemer, und der Robert-Bosch-Stiftung mit Michael von Winning. Gerade im Grußwort von Herrn Riemer kam die Hoffnung zum Ausdruck, das Forum könnte zu einer besseren Positionierung der Zivilgesellschaft im digitalen Wandel beitragen. Da sind wir uns sehr einig.

Vielen Dank.


Endnoten

[1] ZIVIZ: Lokal kreativ, finanziell unter Druck, digital herausgefordert. Die Lage des freiwilligen Engagements in der ersten Phase der Corona-Krise. Download unter https://www.ziviz.de/medien/freiwilliges_engagement_corona-krise

[2] Dritter Engagementbericht: Zukunft Zivilgesellschaft: Junges Engagement im digitalen Zeitalter und Stellungnahme der Bundesregierung. Downlaod unter: http://dipbt.bundestag.de/doc/btd/19/193/1919320.pdf

[3] Joachim Radkau (2017): Geschichte der Zukunft: Prognosen, Visionen, Irrungen in Deutschland von 1945 bis heute. München: Hanser

[4] Zum Begriff der Ambiguität sehe den Essay von Thomas Bauer (2018): Die Vereindeutigung der Welt: Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt. Dietzingen: Reclam

[5] Axel Dorloff: China auf dem Weg in die IT-Diktatur. Beitrag Deutschlandfunk vom 9.9.2017. https://www.deutschlandfunk.de/sozialkredit-system-china-auf-dem-weg-in-die-it-diktatur.724.de.html?dram:article_id=395440

[6] Norbert Elias (1976): Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. Band 1: Wandlungen des Verhaltens in den weltlichen Oberschichten des Abendlandes / Band 2: Wandlungen der Gesellschaft: Entwurf zu einer Theorie der Zivilisation. Frankfurt am Main: Suhrkamp

[7] Michel Foucault (2006) Geschichte der Gouvernmentalität, 2 Bände, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Es ist übrigens interessant zu beobachten, dass Foucaults Begriff der Biopolotik gerade wieder hochaktuell angesichts der Coronakrise wird.


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Dr. Thomas Röbke ist geschäftsführender Vorstand des »Landesnetzwerks Bürgerschaftliches Engagement Bayern e.V.«. Seit 2016 ist er Vorsitzender des Sprecher*innenrates des Bundesnetzwerks Bürgerschaftliches Engagement.

Kontakt: roebke@lbe-bayern.de


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