Beitrag im Newsletter Nr. 16 vom 11.8.2022

Armut in Deutschland auf dramatischem Höchststand: Tafeln am Limit

Jochen Brühl

Inhalt

Not in einem bisher unbekannten Ausmaß
Unterstützung für Menschen aus der Ukraine
Aufnahmestopp bei 32 % der Tafeln
Auf sprachliche und kulturelle Unterschiede reagieren
Überforderte Behörden wälzen Verantwortung auf Tafeln ab
Redaktion

Not in einem bisher unbekannten Ausmaß

Die Tafeln sind krisenerprobt: Bereits 2015 hatte sich die Nachfrage nach Unterstützung bei den Tafeln sprunghaft erhöht. Auch die anhaltende Corona-Krise meistern wir dank des Engagements der 60.000 Tafel-Aktiven so gut wie möglich. Zu Beginn der Pandemie mussten rund 400 Tafeln vorübergehend schließen, um ihre Ausgabe neu zu organisieren und sich auf die pandemische Lage einzustellen. Die meisten konnten innerhalb weniger Wochen wieder öffnen. Auch damals kamen zu vielen Tafeln zahlreiche neue Kundinnen und Kunden.

Seit dem Beginn des Krieges in der Ukraine spüren wir jedoch eine Not in einem für uns bisher unbekannten Ausmaß. Die Zahl der Tafel-Kundinnen und -Kunden hat sich um etwa die Hälfte erhöht. Damit suchen mittlerweile deutlich über zwei Millionen armutsbetroffene Menschen Unterstützung bei einer der 962 Tafeln – das sind so viele wie nie zuvor in der 29-jährigen Geschichte der Tafeln.

Unterstützung für Menschen aus der Ukraine

Fast alle Tafeln, nämlich 99 Prozent, unterstützen aktuell Geflüchtete aus der Ukraine mit Lebensmitteln. Einige Tafeln konnten die neuen Gäste in ihre reguläre Ausgabe aufnehmen, andere mussten zusätzliche Ausgabetermine einrichten, um der stark gestiegenen Nachfrage gerecht zu werden.

Dazu kommt die anhaltende Inflation: Immer mehr Menschen, die bisher gerade so über die Runden gekommen sind, wenden sich nun an die Tafeln. Unter ihnen sind vor allem Erwerbslose, die Arbeitslosengeld I oder II beziehen, aber auch vermehrt Erwerbstätige mit geringem Einkommen sowie Rentnerinnen und Rentner. Menschen, die im reichen Deutschland nicht genug Geld für grundlegende Dinge wie Lebensmittel haben. Die vielen neuen Kundinnen und Kunden sind für die Tafeln eine enorme Herausforderung, da sie gegenwärtig weniger Lebensmittelspenden erhalten. Gleichzeitig kämpfen sie mit gestiegenen Betriebskosten, unter anderem für den Sprit, den die Tafel-Fahrzeuge beim Abholen der Spenden verbrauchen.

Wir dürfen nicht vergessen: Tafeln sind ein freiwilliges Zusatzangebot, das sich fast ausschließlich aus Spenden finanziert. Im Rahmen unserer Möglichkeiten helfen wir mit aller Energie und Kraft, die wir aufbringen können. Aber wenn die Ressourcen aufgebraucht sind, können auch Tafeln nichts mehr tun.

Aufnahmestopp bei 32 % der Tafeln

Das alles hat dramatische Folgen: Knapp ein Drittel der Tafeln kann vorübergehend keine neuen Kundinnen und Kunden aufnehmen, weil Lebensmittelspenden, ehrenamtliche Hilfe oder beides fehlen. Rund zwei Drittel der Tafeln versuchen, so viele Menschen wie möglich zu unterstützen, indem sie pro Haushalt geringere Mengen Lebensmittel verteilen. Einige Tafeln führen Wartelisten, andere verlängern ihre Ausgabezeiten.

Das geht auch an den Tafel-Aktiven nicht spurlos vorbei. Unsere Helferinnen und Helfer arbeiten seit über zwei Jahren pausenlos unter Ausnahmebedingungen und stehen unter großem Druck. Sie haben einen höheren Aufwand, arbeiten länger, aber müssen zum Teil trotzdem verzweifelte Menschen wegschicken und können nicht so viel helfen, wie nötig wäre. Die physische und psychische Belastung wächst.

Auf sprachliche und kulturelle Unterschiede reagieren

Sprachliche und kulturelle Unterschiede haben weitere unerwartete Herausforderungen mit sich gebracht, auf die wir schnell reagieren müssen. Viele Ukrainerinnen und Ukrainer sind beispielsweise mit dem deutschen Mindesthaltbarkeitsdatum (MHD) und seinem Unterschied zum Verbrauchsdatum nicht vertraut. Tafeln erhalten häufig Produkte, deren Mindesthaltbarkeitsdatum kurz bevorsteht, viele nehmen auch Lebensmittel mit gerade überschrittenem MHD an. Sofern sie diese Waren stichprobenartig testen und ihre Kundinnen und Kunden etwa durch einen Aushang auf das überschrittene MHD aufmerksam machen, können Tafeln MHD-Ware ohne Probleme weitergeben.

Während Lebensmittel mit überschrittenem Verbrauchsdatum nicht mehr verzehrt werden dürfen, sind Produkte mit MHD häufig Wochen, Monate oder sogar Jahre darüber hinaus genießbar. Viele Tafel-Gäste aus der Ukraine wussten das nicht. Sie beschwerten sich wiederholt, dass ihre Tafel ihnen verdorbene Lebensmittel ausgeben würde.

Um Wissenslücken zu schließen und Lebensmittelverschwendung zu vermeiden, klärt Tafel Deutschland bereits seit mehreren Jahren auf: Ist das MHD überschritten, sollten Verbraucherinnen und Verbraucher mit ihren Sinnen Aussehen, Geruch, Konsistenz und Geschmack des Produkts testen. So stellen sie schnell fest, ob sie das Lebensmittel noch verzehren können oder nicht. Die Flyer und Plakate, mit denen wir darüber informieren, haben wir ins Ukrainische übersetzen lassen und stellen sie nun Tafeln kostenlos zur Verfügung.

Überforderte Behörden wälzen Verantwortung auf Tafeln ab

Leider lassen sich nicht alle Probleme so leicht lösen wie Missverständnisse zum Mindesthaltbarkeitsdatum. Ein Grund dafür, dass immer mehr Tafeln ihre Leistungsgrenze erreichen oder sogar überschreiten, sind überforderte Behörden. Wir wissen von Sozialämtern, die ukrainische Geflüchtete direkt zur örtlichen Tafel geschickt haben – ohne die Tafel darüber zu informieren oder auch nur nachzufragen, ob die Tafel überhaupt neue Kundinnen und Kunden aufnehmen kann.

Die Folge: Geflüchtete standen plötzlich vor der Tür und erwarteten, dass sie Anspruch auf die Hilfe der Tafel hätten. Von den Sozialämtern erhielten viele Menschen aus der Ukraine bis zur Auszahlung der ersten Leistungen nichts; sie waren also dringend auf Unterstützung angewiesen.

Aber: Diese Unterstützung muss der Staat leisten. Tafeln können und werden keinen Versorgungsauftrag erfüllen. Tafeln sind kein Teil des sozialstaatlichen Systems. Tafeln helfen, wollen entlasten, sind aber nicht dafür verantwortlich, dass alle Menschen in Deutschland genug zu essen und zu trinken haben.

Es ist verantwortungslos, wenn Behörden Menschen zu einer Tafel schicken, ohne die Tafel zu unterstützen und ohne die Menschen vorher darüber aufzuklären, dass sich hier Ehrenamtliche in ihrer Freizeit engagieren. Tafel-Aktive retten Lebensmittel und lindern damit Armut. Sie helfen und unterstützen. Keine Behörde hat das Recht, über ihre ehrenamtliche Zeit oder Hilfe zu verfügen.

Deshalb appellieren wir an die Bundesregierung: Führen Sie umgehend armutsfeste Löhne, Regelsätze und Renten ein. Beschließen Sie eine bedarfsgerechte Kindergrundsicherung. Und sorgen Sie für faire Arbeitsbedingungen, sodass jeder von seiner Arbeit leben kann. Menschen mit wenig Geld müssen jetzt entlastet werden.

Wir sehen bisher nur die Spitze des Eisbergs. Viele Menschen ahnen jetzt noch nicht, was im Herbst und Winter auf sie zukommen wird. Sie benötigen – genauso wie alle, die schon jetzt ihre Rechnungen nicht mehr bezahlen können – dringend direkte Unterstützung. Vom Staat, nicht von einer Ehrenamtsorganisation.


Beitrag im Newsletter Nr. 16 vom 11.8.2022
Für den Inhalt sind die Autor*innen des jeweiligen Beitrags verantwortlich.

Zurück zum Newsletter


Autor

Jochen Brühl ist Vorsitzender des Tafel Deutschland e.V.

Kontakt: info@tafel.de


Redaktion

BBE-Newsletter für Engagement und Partizipation in Deutschland

Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement (BBE)
Michaelkirchstr. 17/18
10179 Berlin

Tel.: +49 30 62980-115

newsletter@b-b-e.de
www.b-b-e.de

Zum Seitenanfang