Inhalt
These 1: Wer, wenn nicht wir? Kirche hat eine lange Ehrenamtstradition
These 2: Bleibt alles anders? Nach der Pandemie braucht es neue Ehrenamtskonzeptionen
These 3: Christ*innen sind nicht nur in den Gemeinden engagiert (...)
These 4: Es geht nicht um die Zukunft unseres Clubs. Wir wollen Menschen Mut zum Leben machen.
These 5: «Vereinsmeier» sind wir nicht. Aber wir können von Vereinen lernen.
Endnoten
Autorin
Redaktion
These 1: Wer, wenn nicht wir? Kirche hat eine lange Ehrenamtstradition
Was wäre die Reformation ohne das Priestertum aller Getauften? Und was wäre unser Sozialstaat ohne die Engagierten in den Vereinen des 19. Jahrhundert? Wie hätte sich unsere Gesellschaft entwickelt ohne CVJM (Christlicher Verein junger Menschen), Frauenhilfe und Innere Mission? Bis heute ist ein großer Teil der Ehrenamtlichen im Umfeld der großen Kirchen aktiv. Sie engagieren sich in Kirchengemeinden, Jugendverbänden und Frauengruppen. Im Hospiz und an der Tafel, in Kindergartenräten oder bei Freizeiteinsätzen, in den Aufsichtsräten Diakonischer Einrichtungen. Die Zahl der Ehrenamtlichen in den Kirchen steigt sogar, obwohl die Mitgliederzahlen sinken. Fast 49 aller Evangelischen sind freiwillig engagiert – gegenüber 43,6 % in der gesamten Gesellschaft- und sogar 66,7% von denen, die sich stark mit der Kirche verbunden fühlen. Und trotzdem sind in den Gemeinden viele verunsichert. Das hängt auch damit zusammen, dass dort nur die Ehrenamtlichen gezählt werden, die in der Gemeinde selbst arbeiten – im Kindergottesdienst oder beim Konficamp zum Beispiel. Und wenn der Deutsche Engagementpreis vergeben wird, kommen die Kirchen auch selten vor. Rückzug scheint angesagt – man zeigt sich nicht mit den eigenen Stärken.
Verglichen mit Sport, Feuerwehr, Parteien und Initiativen haben Ehrenamtliche in den Kirchen noch immer besonders viele hauptamtliche Ansprechpartner*innen. Gute Steuereinnahmen, ein starker Sozialstaat und die Refinanzierung von Jugend- und Sozialarbeiter*innenstellen ließen die Zahl der Hauptamtlichen bis vor 20 Jahren stetig ansteigen – in dieser Zeit hat die Kirche sich professionalisiert. Und die Ehrenamtlichen schätzen die Unterstützung der beruflich Tätigen. Aber die Engagierten an der Basis fühlen sich nicht als gleichberechtigte Partner*innen. Nach ihrem Eindruck werden sie oft als Helfer*innen gesehen. Nur bei Ehrenamtlichen in Leitungsfunktionen ist das anders: Sie haben das Gefühl, geschätzt zu werden und ihre Fähigkeiten einbringen zu können[1].
An wen denken Sie, wenn es um das Ehrenamt in der Kirche geht? An die Ehrenamtlichen an der Basis – in Frauen- und Jugendarbeit, im Chor und Kindergottesdienst oder auch im Besuchsdienst? Die sich an der Tafel oder im Elternrat einbringen oder Hospizarbeit leisten? Viele sprechen da lieber von freiwillig Engagierten. Oder denken Sie an die Ehrenamtlichen in der Leitung? Die über Gemeindekonzepte, Finanzen, Personal entscheiden – nur die haben tatsächlich ein »Amt« im kirchlichen Sinne. Übrigens wurde der Begriff »Ehrenamt« im 19. Jahrhundert wichtig, als die Städte immer mehr Aufgaben übernahmen und man zwischen beruflicher Arbeit und bürgerschaftlichem Engagement unterschied – in den Kommunen und eben auch in den Kirchen. Und wenn Sie an Hauptamtliche in der Kirche denken, wer fällt Ihnen dann ein? Denken Sie an die Pfarrpersonen, die angesichts des Stellenabbaus wieder zu Generalist*innen werden? Oder an die Sozialpädagog*innen und Diakon*innen, die Küster*innen und Gemeindesekretär*innen, die gerade ein neues Selbstverständnis entwickeln: Sie sollen jetzt Ehrenamtlichkeit stärken und fördern. Nur, dass sie selbst erhebliche Existenzängste haben.
Es ist wie auf dem Balancebrett: Unterschiedliche Gruppen versuchen, das Gleichgewicht in der Gemeinde zu halten. Sobald sich jemand bewegt, verändert sich die Statik wie bei einem Boot auf den Wellen. Wenn jemand dann einen Schatz auf das Boot wirft, um den alle rangeln, beginnt der Machtkampf. Zwischen Pfarrer*in und Kirchenvorstand. Zwischen Ehrenamtlichen im Vorstand und denen in der engagierten Initiative 50plus. Um Geld, um Stellen, um Aufmerksamkeit. Manche denken, wir bräuchten nur mehr Ehrenamtliche, wenn die Zahl der Hauptamtlichen zurückgeht. Andere wissen: Die Strukturen müssen sich ändern.
Kann Kirche eigentlich Augenhöhe? Manchmal ist von der »Dienstgemeinschaft von Haupt- und Ehrenamtlichen« die Rede – eine Erinnerung an die Barmer Theologische Erklärung von 1934 aus dem kirchlichen Widerstand. Die spricht von der Kirche als Gemeinschaft der Schwestern und Brüder. Im Ehrenamtsgesetz der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau heißt es deshalb: »In der Evangelischen Kirche ist es Aufgabe aller Getauften, am Bau des Reiches Gottes verantwortlich mitzuwirken. Deshalb ist ehren-, haupt- und nebenamtliche Arbeit gleichwertig. In der Zusammenarbeit prägen alle gemeinsam und gleichberechtigt Leben und Gestalt von Gemeinde und Kirche.«
Ehrenamtliche machen leider oft andere Erfahrungen: Hauptamtliche bestimmen die Termine und delegieren die Aufgaben. Ehrenamtliche werden mangelhaft informiert und haben das Gefühl, dass sie nicht wirklich gesehen werden – mit ihren beruflichen Belastungen, mit der Zeit, die sie einbringen. Klar, das gibt es auch in der Politik: Die Verwaltung gewinnt immer, man nennt es das Principal-Agent-Problem. Aber Kirche ist eben mehr als Verwaltung, es geht um Gemeinschaft. Was können wir tun, um uns aus falschen Frontstellungen zu befreien? »Seitenwechsel« zwischen beruflicher und ehrenamtlicher Tätigkeit werden normaler. Diakonische Organisationen laden dazu ein – für einen Tag oder für vier Wochen. Große Unternehmen wie Ford oder Henkel haben schon vor Jahren die Förderung der Freiwilligkeit entdeckt – nicht zuletzt, um ihren Mitarbeitenden den Übergang in die Rente zu erleichtern. Und auch in Kirche und Diakonie arbeiten viele Mitarbeiter*innen in ihrer Freizeit oder nach dem Ende der Berufstätigkeit ehrenamtlich oder sie haben als Jugendliche ein Freiwilliges Jahr absolviert. Noch zu selten werden solche Seitenwechsel fruchtbar gemacht – für die Personalentwicklung zum Beispiel. Wenn wir die traditionellen Hierarchien von Ämtern, Geschlechtern, bezahlten und unbezahlten Kräften überwinden wollen, braucht es bewusste Perspektivwechsel.
These 2: Bleibt alles anders? Nach der Pandemie braucht es neue Ehrenamtskonzeptionen
Kirche digital. Kirche im Quartier. Kirche vielsprachig unterwegs. Wer sich auf Facebook oder Instagram umschaut, kann den Eindruck bekommen, dass gerade viele Gemeinden neue Welten entdecken. »Dich schickt der Himmel« in Hundelshausen beliefert sonntags 125 Ältere mit einem Sonntagsteilchen und einer Andacht in der Tüte. Da haben evangelische Gemeinde, katholische Pfadfinder und die Stadt in kurzer Zeit ein großes Nachbarschaftsnetz aufgebaut. Und in Siegburg haben engagierte Schüler*innen- und Ausbildungsmentor*innen im Lockdown auf digitale Arbeit umgestellt.
An vielen Orten sind der Kirche Engagierte zugewachsen, mit denen sie gar nicht gerechnet hätte. Menschen, die Augen im Kopf haben und sehen, was nötig ist – und was möglich ist. Das ist die Erfahrung, die ich vor langer Zeit im Wickrather »Gemeindeladen« gemacht habe: Kaum war das Quartierscafé fertig, fanden sich Menschen ein, die ihre Gaben einbringen wollten: Second-Hand-Kleidung verkaufen, pflegende Angehörige begleiten – Ehrenämter wurden erfunden, die es vorher so nicht gab. Wer den Scheinwerfer neu ausrichtet, entdeckt neue Landschaften.
Während des Lockdowns sind allerdings auch Aufgaben und Ehrenamtliche im Schatten verschwunden. Mittagstische, Gesprächsrunden, Chöre fielen aus. Leih-Omas konnten nicht zu ihren Patenkindern. Manche haben Alternativen entwickelt wie Telefonkonferenzen oder digitale Besuchsdienste. Andere fühlten sich alleingelassen, erschöpft, vergessen. »In der Kirchengemeinde haben wir zu Ostern eine Kerzenaktion für Alleinlebende durchgeführt«, sagt ein Gemeindemitglied. »Das hat viele positive Reaktionen hervorgerufen. Aber danach haben wir von der Gemeinde nichts mehr gehört.« Nicht wenige haben sich entschieden, das eigene Alter ernst zu nehmen und jetzt einfach aufzuhören. Nicht nur in der Kirche. Das gilt auch für die Schulbegleiter*innen und die Mitarbeitenden an den Tafeln. Viele von ihnen waren älter – und galten plötzlich als vulnerable Gruppe.
Dabei sind es die 55- 69-jährigen, die sich im sozialen Ehrenamt am stärksten engagieren. Sie fahren die Bürgerbusse, arbeiten in den Dorfläden mit und sind die Initiator*innen der Sorgenden Gemeinschaften[2]. Sie stellen auch den größten Teil der Engagierten in den Kirchengemeinden, halten den Besuchsdienst aufrecht, organisieren Adventsfeiern. Häufig sind sie lange am Ort und bringen breite Lebenserfahrungen ein. Die Corona-Krise hat uns aber auch bewusst gemacht, welche Rolle die Großelterngeneration für die Familien spielt. Die Zeit für die Betreuung der Enkel und die Pflege der Eltern hat sich seit 1996 vervierfacht[3]. Die Frauen, die das betrifft, bildeten bis vor einigen Jahren den Kern des kirchlichen Ehrenamts.
In den Kirchen sind nach wie vor 70 Prozent der freiwillig Engagierten Frauen. Bei einer Caritasuntersuchung 2007 waren 56 Prozent davon 60 Jahre oder älter. Und nur jede dritte berufstätig. Heute arbeiten die meisten mindestens in Teilzeit. Sie bringen ihre Kompetenzen aus der Arbeitswelt selbstbewusst ein. Und natürlich erwarten sie Wertschätzung, klare Vereinbarungen Fortbildungsangebote und Mitsprachemöglichkeiten und auch Auslagenersatz. Aber die Vereinbarkeit von Familie, Beruf und Ehrenamt bleibt schwierig. Das bundesdeutsche Sozialsystem stützte das soziale Ehrenamt über das Hausfrauenmodell. Das soziale Engagement braucht aber eine grundlegende ökonomische Absicherung, zum Beispiel bei der Berücksichtigung von Versicherungszeiten. Und wir müssen über neue Zugänge zum Ehrenamt nachdenken – für Männer und Frauen, beim Einstieg in die Dritte Lebensphase. Oder zwischen Schule und Beruf. Die besten Zeiten für das Ehrenamt sind an den Schnittstellen des Lebens. Die beste Gelegenheit, Netze zu knüpfen, ist in den persönlichen und gesellschaftlichen Umbrüchen. Arbeitslose, prekär Beschäftigte, Jugendliche in arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen, Hartz-IV-Empfänger haben kaum Ressourcen für freiwilliges Engagement. Meist fehlt es nicht nur an Geld oder Bildung, sondern mehr noch an sozialen Netzen. Da ist Kirche gefragt.
Wenn die Pandemie zu einer Endemie geworden ist, wird das Ehrenamt in der Kirche anders aussehen. Viele haben sich in den vergangenen Pandemie-Monaten freiwillig engagiert – bei Einkaufsdiensten, als Impfpaten, in Pflegeheimen. Wenn der Alltag wieder beginnt, wird das zu Ende sein. Ältere sind aus vertrauten Ämtern ausgeschieden. Aber die digitale Nachbarschaftsplattform nebenan.de – meist von Älteren genutzt –boomt. Und die Arbeit in Quartier und Nachbarschaft ist für die Kirchengemeinden eine große Herausforderung.
Wie sind unsere Konzepte für die Zukunft? Wie danken wir den kurzfristig Engagierten? Wer überlegt mit den Älteren, ob und wie es weitergeht? Was lernen wir von nebenan.de?
These 3: Christ*innen sind nicht nur in den Gemeinden engagiert, sondern auch in Vereinen, Schulen, vielfältigen Initiativen.
Ehrenamt ist meist in Strukturen verankert und darin verbindlich und verantwortlich – sei es formal im Sinne eines Wahlamtes, sei es in der festen Übernahme einer Aufgabe in einer Organisation oder in persönlichen Absprachen in Gruppen und Netzwerken. Aber das ändert sich. Laut einer Allensbach-Untersuchung zum Engagement in der Flüchtlingshilfe von 2017 arbeiteten 40 Prozent der Engagierten in Gruppen, die sich ausschließlich zu diesem Zweck gegründet haben – ohne Rechtsform, mit flachen Hierarchien und einem hohen Maß an Beteiligungsmöglichkeiten. 23 Prozent haben sich auf eigene Faust engagiert[4]. Mehr als je zuvor wurde schon in dieser Krise das »neue Ehrenamt« für alle erkennbar: Nach einem Einsatz zieht man sich zurück, kann aber später auf das gewonnene Netzwerk zurückgreifen.
Die Ehrenamtlichen von heute »gehören« keiner Organisation. Im Gegenteil: Sie sind es, die mit ihren Ideen nach den passenden Einsatzfeldern suchen und Innovationen vorantreiben. Engagementagenturen, Freiwilligenbüros, Ehrenamtsmessen zeigen: Ehrenamt ist institutionsübergreifend. Inzwischen sind 40 Prozent der Engagierten in der evangelischen Kirche auch an anderer Stelle aktiv. Klammern hilft da nicht. Es geht darum, sich über die eigenen Stärken klar zu werden.
»Mein Bac, Dein Bac, Bac ist für uns alle da«. An diese alte Deodorant-Werbung denke ich oft, wenn über Ehrenamtliche gestritten wird: Zwischen Kirche und Diakonie zum Beispiel. Meine Ehrenamtlichen, Deine Ehrenamtlichen. Tatsächlich gibt es da unterschiedliche Fortbildungsangebote, Einsatzfelder, manchmal auch unterschiedliche finanzielle Regelungen. Jahrelang hatte ich den Eindruck, die Diakonie gehe professioneller mit dem Thema um: strukturierter, klarer in der Rollenverteilung. Weniger vereinnahmend. Aber jetzt mischen sich die Netzwerke; wir lernen voneinander. Hinter dieser Reibung steht eine gesellschaftliche Veränderung: Es gibt einen Wettbewerb um die Ehrenamtlichen. Um ihre Zeit, ihr Wissen, ihre Kompetenz.
Aber Ehrenamtliche kann man nicht funktionalisieren. Auch nicht mit den besten Zielvereinbarungen und Verträgen. Sie haben keinen Job. Was Sie tun, das tun Sie aus eigener Motivation und Überzeugung. Es geht um Selbstwirksamkeit, neue Erfahrungen und Kontakte. Über das Ehrenamt entstehen neue Zugangsqualifikationen, werden neue Netze geknüpft. Und es geht um Sinn. Hier suchen Menschen ihre Berufung, sie wollen finden, was den Einsatz lohnt. Wenn man betrachtet, aus welchem relativ begrenzten Reservoir sich kirchliches Engagement heute speist – bestimmte soziale Schichten, Altersgruppen und Lebensstilmilieus sind unterrepräsentiert –, dann kann man ahnen, welches Potenzial bei der Kirche ruht.
These 4: Es geht nicht um die Zukunft unseres Clubs. Wir wollen Menschen Mut zum Leben machen.
Ein alter kirchlicher Begriff ploppt plötzlich wieder auf: Berufung. Es geht darum, etwas zu finden, was Einsatz und Hingabe lohnt. Die Arbeit soll auch die eigene Seele füttern. Wo der Brotberuf das nicht bringt, kann es auch ein Ehrenamt sein. Freiwilliges Engagement lebt aus intrinsischer Motivation – äußerer Druck und monetäre Anreize passen nicht dazu. Viele, die sich heute engagieren, sind keine Kirchenmitglieder mehr. Häufig hatten sie sich schon lange der Kirche entfremdet oder gehörten ohnehin nie dazu. Aber Engagement öffnet für spirituelle Erfahrungen. Immerhin 22 Prozent der ehrenamtlich Engagierten geben an, dass sie mit anderen über religiöse Fragen sprechen – bei den Nichtengagierten sind es weniger als 10 Prozent.
Aber auch Mitgliedschaft bedeutet nicht unbedingt, dass Menschen sich mit der Kirche identifizieren. Engagierte müssen gewonnen werden – durch Ehrenamtstage und Mentoring, Fortbildung und Supervision. Und auch durch Gespräche über Glaubensfragen. Das gilt nicht nur für Telefonseelsorge, die Krankenhausseelsorge, die Hospizarbeit. Da braucht es eine theologisch gegründete Weiterbildung. Aber wer an der Tafel hilft oder in der Flüchtlingsarbeit, wird ähnliche Fragen haben. »Wenn man die Einsicht ernst nimmt, dass Glaube immer ein Prozess ist und dass Areligiosität auch unter Kirchenmitgliedern vorhanden ist, dann wird es absurd, ausschließlich zwischen Mitgliedschaft und Nichtmitgliedschaft zu unterscheiden«, sagt Hans-Martin Barth[5]. Das Engagement in einer Gemeinde kann den Weg zur Mitgliedschaft ebnen. Deshalb sollten wir überlegen, wie die Teilhabe von Interessierten aussehen kann.
Es gibt eine hohe Verbundenheit mit der Kirche ohne aktive Praxis. Es gibt aber auch eine hohe Verbundenheit mit dem christlichen Glauben und einer entsprechenden ehrenamtlichen Praxis bei deutlicher Distanz zur verfassten Kirche, sagt Heinz-Peter Hempelmann, der verschiedene Sinus-Studien verglichen hat. Das kirchliche Ehrenamt ist also nur ein Ausschnitt des Engagements von Christ*innen. Deshalb liegen große Chancen darin, wenn die Kirche sich für die Engagierten in Vereinen, Schulen, Initiativen öffnet.
»Ich sehe die Herausforderung besonders Menschen gegenüber, die sich nicht mehr einer Gemeinde verbunden fühlen«, sagt die Diplompädagogin Renate Abesser von Bildung. evangelisch aus Fürth. In dem Satz »Für meinen Glauben brauche ich keine Kirche«, schwingt oft eine Enttäuschung über exklusive kirchliche Strukturen mit. Dahinter liegt meist die Sehnsucht nach Gemeinschaft und Selbstwirksamkeit. Genau diese Menschen erreichen wir mit öffentlichen Angeboten zu drängenden (Lebens-)Themen und in krisenhaften Lebenssituationen – im besten Fall so, dass sie sich eingeladen fühlen, sich selbst zu engagieren.«
These 5: «Vereinsmeier» sind wir nicht. Aber wir können von Vereinen lernen.
Ich erinnere mich an eine Kirchenvorstandssitzung morgens um 6.30 Uhr in Chicago: Bei Automatenkaffee plante die UCC-Gemeinde (United Church of Christ) eine Mitgliederbefragung – mit hoher Professionalität. Ich denke auch an die ehrenamtliche Vorsitzende eines Altenzentrums in den USA, die mir Visitenkarte, Vorstellungsmappe und Flyer ihres Ehrenamtprogramms mitbrachte – 150 Ehrenamtliche waren dort «beschäftigt». Das ist jetzt fast 30 Jahre her – und ganz langsam merke ich, das ist uns nicht mehr so fremd.
Ehrenamtliche sind eine Art »Quereinsteiger« im kirchlichen Betrieb, Fachleute für Innovation in unserer Bürokratie. So wie Bürgermeister Claus Ruhe Madsen aus Rostock, der die städtische Verwaltung in der Krise auf dem Hintergrund seiner Möbelhaus-Erfahrungen veränderte. Auch unsere alte Amtskirche braucht Menschen, die die Organisation von außen sehen können, Menschen, die andere berufliche Erfahrungen und Kompetenzen einbringen und damit Digitalisierung oder Immobilienplanung vorantreiben.
Wo die Angst vor Stellenabbau übermächtig wird, entsteht eine Abwärtsspirale. Heute verstehen sich Hauptamtliche zunehmend als Initiator*innen und Gewährleister*innen ehrenamtlicher Arbeit. Aber alle Versuche, zivilgesellschaftliches Engagement zu kanalisieren, um es angesichts knapper Ressourcen effektiver zu gestalten, stoßen an Grenzen. Denn anders als im beruflichen Kontext, wo Hierarchie immer eine Rolle spielt, oder auf dem Markt, wo Wettbewerb und Effizienz zählen, geht es den Engagierten darum, sich persönlich einzubringen und sich mit dem eigenen Tun zu identifizieren. Sie wollen gehört werden, wenn die Dinge in die falsche Richtung laufen; wo das nicht geschieht, sind sie bitter enttäuscht. Umgekehrt gilt: Wo Basisinitiativen stark sind, gelingt es trotz Finanzknappheit, Drittmittel heranzuziehen.
Die Ehrenamtlichen in den Kirchenvorständen sind es, die die Gemeindeentwicklung vorantreiben. Sie sind dafür zuständig, dass Strategie und Kommunikation zusammenpassen. Und dass Gemeinden Brücken bauen zu den anderen Organisationen vor Ort. Und Sie wissen aus eigener Erfahrung: Die besten Brückenbauer*innen sind die ehrenamtlichen Gemeindemitglieder aus den Elternräten, den Sportvereinen, der Feuerwehr. Wie nutzen sie jetzt die Erfahrungen, die sie an der Basis gemacht haben? Wie können sie die Engagierten unterstützen? Durch Informationen, durch Mentoring, durch Koordination? Ehrenamtskoordination ist eine Funktion der Gemeindeleitung. Wie schafft man das, ohne sich zu überfordern? Am besten, das zeigt ein Modellversuch in Württemberg, mit einem Team von Haupt- und Ehrenamtlichen.
Krisen können verkrustete Strukturen aufbrechen. Das erleben wir gerade und wir haben es bereits an der Flüchtlingskrise gesehen. Sie war eine Sternstunde der Ehrenamtlichen – und auch der Kirche. Denn da wurde sichtbar: Engagement braucht Andockpunkte, anregende und begleitende Strukturen, fachliche Impulse und Unterstützung sowie einen fördernden Rahmen. Das können Kirchen bieten. Sie sind stark und attraktiv, wenn Problemlagen zunächst diffus erscheinen und alles darauf ankommt, flexibel neue Konzepte zu entwickeln. Kirchen haben schließlich eine lange Tradition im Ehrenamt. Darauf lässt sich aufbauen.
Endnoten
1 So das SI-Gemeindebarometer von 2014
2 Wiesbadener Institut für Bevölkerungsforschung, 2012
3 Deutsches Zentrum für Altersfragen, Alterssurvey 2014
4 Allensbach, April 2017
5 Hans-Martin Barth, Konfessionslos glücklich, S 119
Beitrag im Newsletter Nr. 16 vom 12.8.2021
Für den Inhalt sind die Autor*innen des jeweiligen Beitrags verantwortlich.
Autorin
Cornelia Coenen-Marx ist seit 2015 Geschäftsführerin der Agentur »Seele und Sorge – Impulse, Workshops, Beratung«.
Kontakt: coenen-marx@seele-und-sorge.de
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