Gemeinnützigkeit und Demokratiepolitik im Spiegel der Wahlprogramme – Was sich seit 2017 änderte und was nach der Wahl geschehen muss
Annika Schmidt-Ehry & Stefan Diefenbach-Trommer
Inhalt
Die Entwicklungen während der 19. Legislaturperiode
Was war geschehen?
Wahlprogramme 2021
Erweiterung des Katalogs der gemeinnützigen Zwecke
Klarstellung zu politischen Mitteln
Demokratieklausel für Tätigkeiten über den eigenen Zweck hinaus
Beweislastumkehr
Weitere Aussagen in den Wahlprogrammen
Lange Linien, kurze Linien
Gemeinnützigkeitsrecht ist kompliziert und mehr als eine juristische Frage
Literatur
Endnoten
Autor*innen
Redaktion
Die Entwicklungen während der 19. Legislaturperiode
Die vergangenen Jahre haben ungeahnte Bewegung in das Recht der Gemeinnützigkeit, dem Basisrecht zivilgesellschaftlicher Organisationen, gebracht. Noch zu Beginn der Legislaturperiode 2017-2021 hieß es nicht nur aus dem Bundesfinanzministerium (BMF): Den Katalog gemeinnütziger Zwecke fassen wir nicht an. Der Katalog sei wie die Büchse der Pandora: Einmal geöffnet, würden sich so viele Interessen hineindrängen, dass sie den Katalog nie wieder abschließen können. Doch dann wurden mit dem Jahressteuergesetz 2020 insgesamt sieben neue Anliegen als gemeinnützig in die Abgabenordnung geschrieben[1]. Anfang 2017 schrieb das Bundesfinanzministerium noch von einer »steuerlichen Trennlinie« zwischen der Förderung gemeinnütziger Zwecke und politischer Betätigung[2]. Im Juni 2018 verteidigte das Ministerium in seiner Stellungnahme an den Bundesfinanzhof (BFH) im Attac-Verfahren den Entzug der Gemeinnützigkeit, nahm jedoch immerhin schon in Ansätzen das zuvor veröffentlichte BUND-Urteil[3] des BFH auf. Demnach dürfen sich gemeinnützige Organisationen für ihre Zwecke auch mit politischen Mitteln einsetzen. Im Herbst 2020 ringt das Bundesfinanzministerium dann im Kabinett, mit Ländern und Fraktionen um zusätzliche gemeinnützige Zwecke und um eine Klarstellung zu politischen Mitteln. Das Ministerium stellt Formulierungshilfen bereit und arbeitet auch 2021 an entsprechenden Änderungen im Anwendungserlass (AEAO). Bereits im Februar 2020 erklärte das Finanzministerium in der Antwort auf eine Kleine Anfrage aus der Partei Die Linke (PDL) mit scheinbarer Selbstverständlichkeit: »Politisches Engagement und Gemeinnützigkeit schließen sich nicht aus.« Allgemein anerkannt sei, dass »steuerbegünstigte Organisationen ihre Ziele und Zwecke auch politisch verfolgen dürfen. Kampagnen und Aktionen z.B. zum Umweltschutz, für Bildung und für Integration führen nicht automatisch zum Verlust der Gemeinnützigkeit«[4].
Was war geschehen?
Im Februar 2019 veröffentlichte der Bundesfinanzhof sein Attac-Urteil. Das Urteil jagte Schockwellen durch die Zivilgesellschaft, denn viele Organisationen fühlten sich vom Geist des Urteils und auch von den konkreten Beschränkungen der politischen Bildung getroffen. Große Dachverbände, die den Fall Attac[5] bis dahin eher distanziert beobachteten, schrieben Empfehlungen für ihre Mitgliedsvereine und Briefe in die Politik[6]. Auf das Attac-Urteil[7] folgten weitere öffentlich bekannt gewordene Entzugsfälle: Das Demokratische Zentrum Ludwigsburg – Verein für politische und kulturelle Bildung (DemoZ), Campact, die Bundesvereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA), der deutsche Change.org-Verein, aber auch Journalistenwatch und C-Netz. Das Ganze kombiniert mit scheinbar lauter werdenden Rufen, irgendwelchen Vereinen die Gemeinnützigkeit abzuerkennen, ob der Deutschen Umwelthilfe (DUH) [8] oder Seenotrettungs-Organisationen wie Sea Watch[9]. Bisher unterschrieben fast 400.000 Menschen eine Online-Sammlung mit Forderungen zur Änderung des Gemeinnützigkeitsrechts[10]. Das Attac-Urteil hat einige Aberkennungen der Gemeinnützigkeit ausgelöst und noch mehr kritische Nachfragen von Finanzämtern. Aber tatsächlich ist die Zahl der Aberkennungen und Prüfverfahren wohl kaum gestiegen. Gestiegen ist das Selbstbewusstsein der Organisationen, mit den Problemen an die Öffentlichkeit zu gehen. Gemeinnützigkeits-Probleme sind nicht mehr stets verknüpft mit möglicher Vorteilsnahme durch Vorstandsmitglieder oder mit formalen Fehlern wie verspäteter Abgabe von Steuererklärungen. Diese Probleme sind zumindest auch verknüpft mit der Frage, wie weit der zivilgesellschaftliche Handlungsspielraum ist und ob er durch das Gemeinnützigkeitsrecht begrenzt wird.
Viele Menschen in Parteien, in Ministerien und jenseits davon verstehen, dass es bei der Gemeinnützigkeit nicht einfach um ein Steuerprivileg und ein paar Vorteile für besonderes Engagement geht, sondern dass dieses Recht zentral für Engagementpolitik ist – dass es um mehr geht, dass es um Demokratiepolitik geht. Die Funktion zivilgesellschaftlicher Organisationen als Wächterinnen und Themenanwältinnen wurde noch deutlicher durch mindestens verbale Angriffe auf Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit aus AfD und extremistischen Organisationen; durch Debatten unter anderem um strukturellen Rassismus und Geschlechtergerechtigkeit. Es wird immer klarer, dass Demokratie nicht einfach da ist, sondern bewahrt und entwickelt werden muss. In der Regierungskoalition war es die SPD, die durch das Bundesfinanzministerium spät, aber immerhin versuchte, Demokratiepolitik zu forcieren. Ausgerechnet das Bundesfinanzministerium, das noch Anfang 2019 dem Bundestags-Unterausschuss Bürgerschaftliches Engagement mitteilte, mit Engagement und Zivilgesellschaft nur sehr mittelbar befasst zu sein[11]. Der Versuch der SPD war nur begrenzt erfolgreich, so wie auch vereinbarte Maßnahmen aus dem Kabinettsausschuss zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Rassismus nur teilweise umgesetzt werden. Viel zu spät hat die Koalition Demokratie als eigenes Politik-Thema aufgegriffen, ohne klare Zuständigkeiten, ohne klaren Kompass. Die im Koalitionsvertrag vereinbarte Demokratie-Kommission nahm nie ihre Arbeit auf, hätte aber von Anfang an den Kurs vorgeben können. Die SPD begann erst spät, ihre Hebel mit Finanzminister (Gemeinnützigkeitsrecht), Justizministerin (Vereinsrecht, Stiftungsrecht, Verfassungsrecht) und Ministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (»Engagementministerin«) zu nutzen, scheiterte aber an CDU/CSU. Das CSU-geführte Innenministerium, das sich als Verfassungsministerium versteht und Referate für politische Bildung und »Ehrenamt und bürgerschaftliches Engagement« hat, trat in der öffentlichen Debatte gar nicht auf. Der Koalitionsvertrag von CDU, SPD und CSU war schwammig, was Demokratiepolitik anbelangt. Es fehlte ein kohärentes Demokratieverständnis. Die Zivilgesellschaft im Inland wird eher obrigkeitlich mal als Helferin, mal als potentielle Störerin betrachtet – ganz anders klingt es, wenn von der Zivilgesellschaft in anderen Ländern die Rede ist. Im Koalitionsvertrag steht knapp: »Gemeinnützigkeitsrecht verbessern«[12]. Die SPD hatte ausweislich ihres Wahlprogramms schon damals mehr gewollt. Kurz vor Schluss gab es mit dem Jahressteuergesetz 2020 viele Verbesserungen, die aber zugleich zeigten, wo die Grenzen in dieser Koalition sind. CDU/CSU legten im Sommer 2020 ein Positionspapier zu »Ehrenamt« vor, das sich nur in wenigen Punkten auf das Gemeinnützigkeitsrecht bezog[13]. Egal, wer die nächste Bundesregierung bildet: Der nächste Koalitionsvertrag wird mehr als zwei Worte zu Zivilgesellschaft im Inland und zu Gemeinnützigkeit sagen müssen. Basis eines Koalitionsvertrages sind die Wahlprogramme der Parteien.
Wahlprogramme 2021
Mittlerweile haben alle bisher im Bundestag vertretenen Parteien ihre Wahlprogramme beschlossen[14]. Während sich SPD, Partei Die Linke (PDL) und Bündnis 90/Die Grünen in unterschiedlicher Form mit den Grenzen des Gemeinnützigkeitsrecht beschäftigen, möchte die FDP eSports-Vereinen die Gemeinnützigkeit gewähren; CDU/CSU sehen lediglich einen Zusammenhang mit der Gründung von Transfergesellschaften im Wissenschaftsbereich. Bei der AfD fällt der Begriff nicht ein einziges Mal. Den Forderungen der Parteien liegt ein sehr unterschiedliches Verständnis von Zivilgesellschaft zugrunde (vgl. dazu Adalbert Evers im BBE-Newsletter Nr. 13 vom 1.7.2021: »All together now? Die Zivilgesellschaft in den Parteiprogrammen zur Bundestagswahl«[15]). Dabei bewegen sich die Parteien zwischen einem eher progressiven Verständnis, in dem zivilgesellschaftliche Aktivitäten als Zugewinn für die Demokratie betrachtet werden, und einem konservativ-kritischen Verständnis, das in zivilgesellschaftlichen Organisationen eher Gegnerinnen sieht. Eine Analyse des Verständnisses von Zivilgesellschaft der Oppositionsfraktionen in der noch laufenden Legislaturperiode liefert Dr. Rainer Sprengel[16].
Im Folgenden werden die vorliegenden Wahlprogramme anhand der vier drängendsten Probleme gemessen, zu denen die Allianz »Rechtssicherheit für politische Willensbildung« Forderungen erhebt[17]. Die Analyse folgt dem aktuellen Stimmenverhältnis im Deutschen Bundestag (CDU/CSU, SPD, AfD, FDP, PDL, Grüne, CSU). Die CSU hat mit Blick auf Bayern ein zusätzliches Wahlprogramm verabschiedet, den sogenannten Bayernplan. Sie wird daher doppelt erwähnt.
Erweiterung des Katalogs der gemeinnützigen Zwecke
Viele zivilgesellschaftliche Organisationen finden keinen passenden Zweck für ihre Arbeit. Um gesellschaftlichen Wandel abzubilden, muss der Katalog der gemeinnützigen Zwecke erweitert werden.
Die SPD möchte »prüfen, welche weiteren gesellschaftspolitisch bedeutsamen Bereiche in den Katalog gemeinnütziger Zwecke aufgenommen werden können« (S. 47) und die PDL (Partei Die Linke) schreibt »Wir brauchen eine Reform des Gemeinnützigkeitsrechts mit einer Ausweitung der als gemeinnützig anerkannten Zwecke (zum Beispiel die Förderung der Menschen- und Grundrechte, des Friedens, des Klimaschutzes oder der sozialen Gerechtigkeit)« (S. 89).
Im grünen Wahlprogramm findet sich eine Liste an Zwecken, deren Gemeinnützigkeit »anerkannt und gestärkt« werden soll: »Nicht nur die Förderung des demokratischen Staatswesens, sondern auch die Förderung tragender Grundsätze sollte klar gemeinnützig sein. Die Gemeinnützigkeit zusätzlicher Zwecke wie des Friedens, der Durchsetzung der nationalen und internationalen Grund- und Menschenrecht, der Rechtsstaatlichkeit, der Durchsetzung des Sozialstaatsgebotes und allgemein der gleichberechtigten Teilhabe und der Bekämpfung von Diskriminierung wollen wir anerkennen und stärken.« (S. 180)
Alle anderen Parteien (CDU/CSU, AfD, FDP, CSU) schreiben nichts zu den aus Sicht der Allianz »Rechtssicherheit für politische Willensbildung« notwendigen neuen Zwecken. SPD und Grüne wollen außerdem den gemeinnützigen Journalismus einführen (die PDL gemeinnützige Medienfreiheitsinitiativen). Esports-Vereinen wollen SPD, FDP und Grüne die Gemeinnützigkeit gewähren.
Klarstellung zu politischen Mitteln
Viele zivilgesellschaftliche Organisationen können ihre gemeinnützigen Zwecke, wie zum Beispiel Klimaschutz oder Kinderschutz, nicht ohne den Einsatz politischer Mittel (z.B. Demonstrationen oder Petitionen) erreichen. Eine Klarstellung, dass dies zulässig ist, ist zwingend notwendig. Hier herrscht seit vielen Jahren eine große Unsicherheit.
Die SPD schreibt dazu in ihrem Wahlprogramm: »Daher werden wir […] sicherstellen, dass steuerbegünstigte Körperschaften wie Vereine bei der Verfolgung ihrer satzungsmäßigen Zwecke auch politisch tätig sein können […]« (S. 47). Die PDL hält fest, dass die »Mitwirkung an der politischen Willensbildung« zur Verfolgung eigener Zwecke« ausdrücklich als unschädlich für die Gemeinnützigkeit benannt werden [muss]» (S. 89). Im grünen Wahlprogramm steht: »Ihre gemeinnützigen Ziele sollen sie [Initiativen und Verbände] auch durch politische Meinungsäußerungen und Aktivitäten wie Studien und Demonstrationen verwirklichen dürfen.« (S. 180) Bei allen anderen Parteien (CDU/CSU, AfD, FDP, CSU) findet sich dazu nichts.
Demokratieklausel für Tätigkeiten über den eigenen Zweck hinaus
Ob der Aufruf zu einer Demonstration gegen Rassismus oder das Verbreiten einer Unterschriftenaktion zum Schutz des nahegelegenen Waldes mit der eigenen Gemeinnützigkeit vereinbar ist, ist für viele Vereine und Verbände unklar. Auch hier braucht es dringend eine rechtliche Klarstellung.
Die SPD möchte sicherstellen, dass »z.B. der Aufruf eines Sportvereins zu einer Demonstration gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit möglich ist, ohne diese steuerliche Vergünstigung zu verlieren« (S. 47). Die PDL schreibt, dass »die Mitwirkung an der politischen Willensbildung« auch über die Verfolgung eigener Zwecke hinaus »für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte« möglich sein muss (S. 89). Im grünen Wahlprogramm steht: »Mit der Einführung einer Demokratieklausel stellen wir sicher, dass sich Vereine aktiv an gesellschaftlichen Debatten beteiligen können.« (S. 180) Bei allen anderen Parteien (CDU/CSU, AfD, FDP, CSU) findet sich dazu nichts.
Beweislastumkehr
Wird ein Verein im Verfassungsschutzbericht erwähnt, droht ihm der Entzug der Gemeinnützigkeit – es sei denn, er kann das Gegenteil beweisen. Diese Beweislastumkehr widerspricht dem Rechtsstaatsprinzip. Die PDL schreibt dazu »Auch darf die Erwähnung eines Vereines in einem Verfassungsschutzbericht des Bundes oder der Länder nicht mehr automatisch zur Aberkennung der Gemeinnützigkeit führen, wie dies zuletzt im Fall der VVN/BdA passiert ist.« (S. 89) Im grünen Wahlprogramm findet sich dazu: »Die Beweislastumkehr in § 51 Absatz 3 Abgabenordnung wollen wir abschaffen.« (S. 180) Bei allen anderen Parteien (CDU/CSU, SPD, AfD, FDP, CSU) findet sich dazu nichts im Wahlprogramm.
Weitere Aussagen in den Wahlprogrammen
Wie schon erwähnt, ist die jeweilige parteipolitische Position zum Gemeinnützigkeitsrecht stark in das zivilgesellschaftliche Verständnis der verschiedenen Parteien eingebunden. Welche weiteren relevanten Aussagen die Parteien in ihren Wahlprogrammen getroffen haben, hat die Allianz »Rechtssicherheit für politische Willensbildung« hier zusammengefasst: zivilgesellschaft-ist-gemeinnuetzig.de/bundestagswahl2021[18]
Lange Linien, kurze Linien
Im Koalitionsvertrag der nächsten Bundesregierung muss zu Zivilgesellschaft im Inland mehr stehen als »Gemeinnützigkeitsrecht verbessern«. Idealerweise würde er einerseits schnelle Sofortmaßnahmen im Gemeinnützigkeitsrecht vereinbaren wie nochmal neue Zwecke und Klarstellungen zu politischen Tätigkeiten, ob für eigene Zwecke oder darüber hinaus. Ob ein Fußballverein Haltung für Menschenrechte zeigen darf, ohne, dass dies konkret auf seinen Zweck bezogen ist, ist immer noch unklar.
Daneben sollte die Regierungskoalition einen Prozess vereinbaren, wie jenseits kleinteiliger und kurzfristiger Änderungen an der Abgabenordnung grundsätzlich über ein gutes Recht zivilgesellschaftlicher Organisationen und deren Rolle in Demokratie und für Rechtsstaatlichkeit diskutiert wird. Die Diskussion müsste interdisziplinär geführt werden – und es bräuchte eine Vereinbarung, wie die Ergebnisse im Laufe der Legislaturperiode umgesetzt werden. Denn in unter Druck stehenden schnellen Koalitionsverhandlungen können grundsätzliche Fragen wie diese nicht gut beantwortet werden: Was heißt eigentlich »politisch«? Wo verläuft tatsächlich die Trennlinie zwischen gemeinnützigen Organisationen und denen, die nicht mehr selbstlos der Allgemeinheit dienen? Dienen Parteien nicht selbstlos der Allgemeinheit? Braucht es also eine weitere Abgrenzung? Haben die Finanzministerien Recht mit der Sorge, dass neue Zwecke den Katalog in der Abgabenordnung immer unklarer und beliebiger machen? Wäre die Abschaffung dieses Katalogs zugunsten abstrakter Beschreibungen eine Alternative? Und sind dann die Finanzämter noch die richtigen Behörden zur Satzungsprüfung?[19]
Gemeinnützigkeitsrecht ist kompliziert und mehr als eine juristische Frage
Gerade beim Begriff des Politischen sind Engagierte in Parteien oft in ihrer Perspektive gefangen und können von Fachwissen aus Politikwissenschaft, Verfassungsrecht und zivilgesellschaftlicher Praxis profitieren. Sonst kommen schnell zu kurz greifende Formulierungen heraus wie »parteipolitisch neutral« oder »Tagespolitik«, die im Alltag kaum helfen. So unterscheidet die Politikwissenschaft drei Dimensionen des Politischen: Policy beschreibt politische Ziele und Inhalte. So kann ein Frauenrechtsverein bestimmte Policy-Ziele einbringen. Politics beschreibt konkrete politische Prozesse, etwa Wahlen, und die Einwirkung darauf. Innerhalb einer gemeinnützigen Organisation gibt es selbst Politics, sie kann sich aber auch als Wächterin mit genau diesen Prozessen beschäftigen. So wäre ein Einwirken in den Wahlkampf der Politics-Ebene zuzurechnen. Und Polity beschreibt politische Institutionen und ihre Verhältnisse. Wer sich in Wächterfunktion oder als Themenanwältin für Rechtsstaatlichkeit begreift, befasst sich etwa mit Lobbyismus, Gerechtigkeitsproblemen im Wahlsystem oder der Unabhängigkeit der Justiz.
Eine etwas andere Sortierung nimmt das US-Gemeinnützigkeitsrecht vor und unterscheidet anders als im deutschen Recht u.a. zwischen Lobbying (also Adressierung von Politiker*innen), Grassroots (Demonstrationen, Unterschriftensammlungen) und Campaigning (Einfluss auf Wahlkampf) unterschieden. Es ist kompliziert und mehr als eine juristische Frage. Studierende der Politikwissenschaft lernen schnell die Komplexität kennen. Die Spannbreite des Politik-Begriffs reicht von Max Weber (Politik als Streben nach Machtanteil oder nach Beeinflussung der Machtverteilung) bis Thomas Meyer (Politik als Gesamtheit aller Aktivitäten zur Vorbereitung und Herstellung gesamtgesellschaftlich verbindlicher und/oder am Gemeinwohl orientierter und der ganzen Gesellschaft zugute kommender Entscheidungen).
Für die Debatte um das deutsche Gemeinnützigkeitsrecht wäre eine Unterscheidung zum Beispiel dieser Fallgruppen hilfreich:
• Die Mehrheit der Vereine versteht weder Zweck noch Tätigkeit als politisch. Viele davon mischen sich aber aus konkreten Anlässen gesellschaftlich ein: Das tut der Karnevalsverein mit einem Motivwagen beim Umzug, der Sportverein, wenn ein Mannschaftsmitglied homophob beschimpft wurde, oder der Chorverein, wenn ein Ministerpräsident mit Stimmen Rechtsradikaler gewählt wird. Sie üben damit Grundrechte aus oder verteidigen diese.
• Viele Vereine üben in der Regel keine politischen Tätigkeiten zur Zweckverfolgung aus, verfolgen aber Zwecke wie Sport, Altenhilfe oder Bildung aus einer Grundhaltung heraus, etwa mit einem christlich-humanistischen Menschenbild. Zweck ist der gemeinnützige Zweck, die Tätigkeiten sind von dieser Grundhaltung geprägt. Es kann christliche Wohlfahrtsverbände oder antirassistische Sportvereine geben, solange Schwerpunkt ihrer Tätigkeit Wohlfahrt oder Sport sind.
• Eine wachsende Zahl von Vereinen verfolgt gemeinnützige Zwecke weitgehend oder ausschließlich mit politischen Mitteln, mit der Einwirkung auf die politische Willensbildung – ob zum Umweltschutz, zur Gleichberechtigung von Mann und Frau, zum Infektionsschutz oder zum Schutz von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Es geht ihnen um (subjektive) Weltverbesserung (also Förderung der Allgemeinheit), aber nicht um politische Systeme. Politik ist Mittel, nicht Zweck. Manchen Vereinen fehlt jedoch der passende gemeinnützige Zweck für ihr selbstloses Anliegen.
• Eine starke Haltungsorientierung und ein Fokus auf politische Willensbildung als Mittel kommen zusammen bei einigen Bewegungsorganisationen, die in ihrer Arbeit häufig mehrere gemeinnützige Zwecke verfolgen. Wenn für einige ihrer Anliegen gemeinnützige Zwecke im Gesetz fehlen, gefährdet das die Gemeinnützigkeit. Ursache ist die Lücke in der Abgabenordnung, nicht die Haltung. Ein Musterbeispiel ist Attac. Für Forderungen zur Steuerpolitik fehlt ein passender gemeinnütziger Zweck, während sich Wirtschaftsverbände zugunsten ihrer Mitglieder hier steuerbegünstigt einmischen können.
• Wenn die Haltung zum Zweck wird, wenn der Wunsch nach einer politischen Ausrichtung der Gesellschaft oder staatlicher Stellen losgelöst von konkreten Zwecken die Arbeit bestimmt, gehören Vereine nicht ins Muster der Gemeinnützigkeit, da es derzeit keinen eigenständigen Zweck der Politik in der Abgabenordnung gibt – wie zuletzt der Bundesfinanzhof im zweiten Attac-Urteil ausdrücklich wiederholt hat.
• Eine letzte Fallgruppe sind Vereinigungen, deren Zweck es ist, an der politischen Macht teilzuhaben – selbst Macht auszuüben, an der Entscheidung direkt beteiligt zu sein: Parteien, kommunale Wähler*innen-Gemeinschaften und sie fördernde und unterstützende Gruppen. Sie gehören nicht ins Gemeinnützigkeitsrecht. Für sie gibt es separate Regelungen, wenn auch bei den Wähler*innen-Gemeinschaften nur rudimentär.
Wenn sich der kommende Bundestag mit den oben skizzierten Problemfeldern fraktionsübergreifend auseinandersetzt und einen breiten gesellschaftlichen Diskurs öffnet, wäre dies ein starkes Signal an die Zivilgesellschaft und ein wichtiger Schritt für unsere Demokratie.
Endnoten
1 https://www.zivilgesellschaft-ist-gemeinnuetzig.de/gemeinnuetzigkeit-das-aendert-sich-2021/
2 https://www.zivilgesellschaft-ist-gemeinnuetzig.de/steuerliche-trennlinie-politik-gemeinnuetzigkeit/
3 https://www.zivilgesellschaft-ist-gemeinnuetzig.de/bfh-gemeinnuetzigkeit-und-politik/
4 https://www.zivilgesellschaft-ist-gemeinnuetzig.de/politisches-engagement-ist-erlaubt/
5 https://www.zivilgesellschaft-ist-gemeinnuetzig.de/attac/
7 https://www.zivilgesellschaft-ist-gemeinnuetzig.de/analyse-attac-urteil-bfh/
8 https://www.zivilgesellschaft-ist-gemeinnuetzig.de/einladung-an-cdu-gemeinnuetzigkeit-diskutieren/
9 https://www.zivilgesellschaft-ist-gemeinnuetzig.de/beispiele-fuer-gemeinnuetzigkeitsprobleme/
10 https://www.zivilgesellschaft-ist-gemeinnuetzig.de/appell/
11 https://www.bundestag.de/resource/blob/846868/9c0ec7b2a2d4bcbb316d047dbd2591ab/Taetigkeitsbericht_19WP-data.pdf - Seite 90
12 https://www.zivilgesellschaft-ist-gemeinnuetzig.de/koalitionsvertrag-und-demokratie-politik/
14 https://www.bundestagswahl-2021.de/wahlprogramme/ (zuletzt abgerufen: 14.7.2021)
15 Adalbert Evers im BBE-Newsletter Nr. 13 vom 1.7.2021: »All together now? Die Zivilgesellschaft in den Parteiprogrammen zur Bundestagswahl«, https://www.b-b-e.de/bbe-newsletter/newsletter-nr-13-vom-172021/#schwerpunkt1
16 Dr. Rainer Sprengel, BBE-Arbeitspapier Nr. 12, »Oppositionelle Engagement- und Demo-kratiepolitik im Deutschen Bundestag (2017-2021)«, https://www.b-b-e.de/aktuelles/detail/arbeitspapier-nr-12-oppositionelle-engagementpolitik-im-deutschen-bundestag-2017-2021-2021/
17 s. https:///www.zivilgesellschaft-ist-gemeinnuetzig.de/forderungen
18 https://www.zivilgesellschaft-ist-gemeinnuetzig.de/bundestagswahl2021
Details nach Parteien: • CDU/CSU: https://www.zivilgesellschaft-ist-gemeinnuetzig.de/btw2021-wahlprogramm-cdu-csu/ CSU: https://www.zivilgesellschaft-ist-gemeinnuetzig.de/btw2021-bayernplan-csu/
• SPD: https://www.zivilgesellschaft-ist-gemeinnuetzig.de/btw2021-wahlprogramm-spd/
• AfD: https://www.zivilgesellschaft-ist-gemeinnuetzig.de/btw2021-wahlprogramm-afd/
• FDP: https://www.zivilgesellschaft-ist-gemeinnuetzig.de/fdp-gemeinnuetzigkeit-und-wahlprogramm-2021/
• Partei Die Linke: https://www.zivilgesellschaft-ist-gemeinnuetzig.de/btw2021-wahlprogramm-linkspartei/
• Grüne: https://www.zivilgesellschaft-ist-gemeinnuetzig.de/btw2021-wahlprogramm-gruene/
19 Die Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) hat Anfang August 2021 in einem Policy-Paper Policy Paper (»7 Punkte für ein modernes Gemeinnützigkeitsrecht) die Abschaffung des Katalogs vorgeschlagen: https://freiheitsrechte.org/demokratiestaerkungsgesetz/
Beitrag im Newsletter Nr. 16 vom 12.8.2021
Für den Inhalt sind die Autor*innen des jeweiligen Beitrags verantwortlich.
Autor*innen
Annika Schmidt-Ehry ist Politikwissenschaftlerin und arbeitete mehrere Jahre für eine Bundestagsabgeordnete. Seit 2020 ist sie leitende Referentin der Allianz »Rechtssicherheit für politische Willensbildung«, in der sich mittlerweile mehr als 180 Vereinen und Stiftungen zusammengeschlossen haben.
Kontakt: schmidt-ehry@zivilgesellschaft-ist-gemeinnuetzig.de
Stefan Diefenbach-Trommer arbeitet seit Jahren in Bewegungs- und Protest-Organisationen. Seit 2015 ist er Vorstand der Allianz »Rechtssicherheit für politische Willensbildung«.
Kontakt: diefenbach-trommer@zivilgesellschaft-ist-gemeinnuetzig.de | Twitter | www.zivilgesellschaft-ist-gemeinnuetzig.de
Redaktion
BBE-Newsletter für Engagement und Partizipation in Deutschland
Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement (BBE)
Michaelkirchstr. 17/18
10179 Berlin
Tel.: +49 30 62980-115