Beitrag im Newsletter Nr. 19 vom 24.9.2020

Lernen fürs Leben in der Bahnhofsmission

Barbara Kempnich/ Doris Vogel-Grunwald/ Karen Sommer-Loeffen/ Henrike Lüttich/ Christian Bakemeier

Inhalt

Einführung in das Lernprogramm der Bahnhofsmission Düsseldorf

Halt geben in der Bahnhofsmission Oldenburg

Gute Praxis in Freiburg und Karlsruhe

Zuflucht für Menschen mit Ausgrenzungserfahrungen: die Bahnhofsmission

Soziale Teilhabe ermöglichen

Lernen im freiwilligen Engagement

Autor*innen

Redaktion

Einführung in das Lernprogramm der Bahnhofsmission Düsseldorf

Düsseldorf Hauptbahnhof, es ist Montag, in der Bahnhofsmission läuft im Fernsehen die Tagesschau. Eine bunte Gruppe von Menschen hat sich um einen Tisch gesetzt und diskutiert, worüber gerade berichtet wird: über Europa, über Verkehrsplanungen und den Klimawandel, über Konflikte in der Welt. Am Ende legen sie Themen aus den Nachrichten fest, die sie in der nächsten Woche vertiefen möchten und verteilen untereinander, wer sie recherchiert.

Einige kommen schnell auf eigene Themen zu sprechen. Dabei sitzt auch Willi (Name geändert), der fünfeinhalb Jahre auf der Straße lebte. In der Lerngruppe der Bahnhofsmission Düsseldorf hat er wieder den Glauben an sich selbst gefunden. Gemeinsam wird in der Gruppe debattiert, gelernt, kommen alle miteinander ins Gespräch, Willi hat zum Beispiel wieder die Sicherheit im Umgang mit anderen Menschen gewonnen und er hat Mut gefasst, eine eigene Wohnung zu suchen. Und er hat es geschafft!

Das Lernprogramm der Bahnhofsmission Düsseldorf ist vielfältig. Neben Diskussionsrunden über selbst ausgewählte und vorbereitete Themen werden gemeinsam Theatervorstellungen und andere kulturelle Veranstaltungen besucht. Der Umgang mit dem Internet und dem Smartphone wird gelernt, eigene Emailadressen eingerichtet. Alle Teilnehmenden haben an der Europawahl teilgenommen, zwei davon zum ersten Mal. Die Grundlagen der Demokratie, die Menschenrechte, die Programme der Parteien wurden aufbereitet, aufgehängt und auch mit anderen Besuchern der Bahnhofsmission diskutiert. Die Kommunikationsregeln sind gemeinsam entwickelt worden.

Ehrenamtliche und Hauptamtliche im Team der Bahnhofsmission und die Gäste der Bahnhofsmission erleben sich in diesen Runden auf Augenhöhe, als gemeinsam Lernende. Von Willi haben die Ehrenamtlichen viel gelernt, beispielsweise was möglich ist, wenn Menschen ermutigt und Ressourcen wahrgenommen werden und sie nehmen genau diese Erfahrung mit in ihren Alltag, in ihr Leben. Die wohnungslosen Männer und Frauen erfahren, dass sie es sind, die die Themen bestimmen und ihr Leben gestalten können. Die Mitarbeitenden erfahren, wie ihr Engagement sowohl die Personen als auch unsere Gesellschaft stärkt.

Halt geben in der Bahnhofsmission Oldenburg

Die Bahnhofsmission Oldenburg gestaltet mit jungen, aber schon volljährigen Gästen bis zu 25 Jahren einen regelmäßigen HalT-Punkt, Die Abkürzung steht für Handlungskompetenz lernen im Team und will den zumeist wohnungslosen und multipel belasteten jungen Gästen der Bahnhofsmission Alltagskompetenzen vermitteln, die häufig nicht oder nur mäßig vorhanden sind. Gemeinsam wird eingekauft, oder Lebensmittel über die Tafel organisiert, gekocht und gegessen. Es gibt immer Themen, die die jungen Menschen beschäftigen. Darüber tauschen sie sich in der Runde aus, und sie laden sich dazu Gäste ein!

So redet beispielsweise die Kollegin aus der Wohnungslosenhilfe der Diakonie beim Kartoffelschälen über Bewerbungsverfahren bei Wohnungsbaugesellschaften oder der Kollege aus der Suchtberatung erklärt beim Tischdecken die Spätfolgen von Drogenmissbrauch, die Kollegin der Aidshilfe klärt über sexuell übertragbare Krankheiten auf, während Gemüse geputzt wird. Der informelle Rahmen stellt Augenhöhe her, die Gruppenmitglieder können Fragen stellen, eigene Erfahrungen in das Gespräch einbringen und gemeinsam mit den anderen Lösungen entwickeln.

Das Konzept trägt Früchte. Einige der Teilnehmenden haben eine Wohnung gefunden und jede Menge Erfahrungen mitgenommen, die ihnen nützlich bei der zukünftigen Haushaltsführung sein werden. Andere haben den Weg zur Drogenberatung gefunden, erfolgreich entgiftet und Therapien abgeschlossen. Schulabschlüsse und Ausbildungen wurden wieder aufgenommen. Zudem haben sie neue Sichtweisen auf die Arbeitsweise des Jobcenters und anderer Behörden entwickelt. Sie haben ein wenig Vertrauen in die Erwachsenenwelt wiedererlangt und dabei realistischere Zukunftsperspektiven für sich entwickelt.

Ehrenamtliche Mitarbeiter*innen sind in Oldenburg nicht direkt in das Projekt eingebunden. Sie erleben die Teilnehmenden und die Auswirkungen des Projekts aber im alltäglichen Kontakt in der Bahnhofsmission z.B. durch die dort angebotene postalische Erreichbarkeit für Wohnungslose unter 25. Sie werden über die Entwicklungen und über die Lernerfahrung mit Zustimmung der Teilnehmenden informiert und können so bedarfs- und situationsgerecht unterstützen und an den Lernprozessen teilhaben.

Gute Praxis in Freiburg und Karlsruhe

Auch im Nachtcafé der Bahnhofsmission Freiburg erlernen die Gäste der Bahnhofsmission Alltagskompetenzen neu. Sie gestalten im Jahr rund zwölf Abende zu den Themen Kunst, Musik, Literatur, Politik und Spiritualität mit. Die Teilnehmenden erleben in ihrem selbstverantwortlichen Engagement Erfolg und erfahren Anerkennung.

»Mahlzeit für alle« ist ein Kochprojekt, bei dem die Gäste der Bahnhofsmission Karlsruhe, unterstützt von ehrenamtlichen Helfern, zusammen kochen. Gemeinsam werden ein Menü erstellt, die Zutaten gekauft und zubereitet. Die Teilnehmenden erhalten Tipps zu Ernährung, Einkauf und Umgang mit Lebensmitteln sowie die Gelegenheit, selbst Gastgeber zu sein. Insgesamt werden aktuell sieben Projekte von der Deutsche Bahnstiftung gefördert.

Zuflucht für Menschen mit Ausgrenzungserfahrungen: die Bahnhofsmission

Die bundesweit 104 Bahnhofsmissionen zählen jährlich ca. 2 Millionen Gäste. Die Mehrzahl von ihnen ist sozial benachteiligt, viele der Gäste sind dauerhaft ausgegrenzt und mit multiplen Problemlagen wie Armut, Arbeitslosigkeit, psychischen Erkrankungen, Suchterkrankungen und Wohnungslosigkeit belastet. Nicht selten haben diese Menschen eine lange Karriere von Erfahrungen des Scheiterns hinter sich und keinen Mut mehr, sich um eine Integrationsmaßnahme in den Arbeitsmarkt zu bemühen oder die Hilfe einer Fachberatungsstelle in Anspruch zu nehmen. Die Zugangsschwellen zu diesen Hilfesystemen sind zu hoch, weil sie eine Lern- und Anpassungsleistung von den Menschen erwarten, zu denen diese situativ oder manchmal auch chronisch nicht in der Lage sind.

Bahnhofsmissionen richten ihre Angebote gezielt an den Bedarfen dieser Menschen aus. Sie sichern existenzielle Grundbedürfnisse, bieten einen Schutzraum und niedrigschwellige soziale Kontaktmöglichkeiten und knüpfen an deren Nutzung keine Erwartungen im Sinne einer Veränderungsleistung. Gleichzeitig sind sie kompetent, Wege der Hilfe aufzuzeigen und zielgerichtet zu vermitteln.

Soziale Teilhabe ermöglichen

»Lernen für das Leben« ist ein Förderprogramm der Deutsche Bahn Stiftung für die Bahnhofsmissionen. Ziel des Programmes ist es, ausgegrenzten Menschen positive Lernerfahrungen zu ermöglichen, um mehr Selbstwirksamkeit zu erfahren und ihre Chancen auf aktive soziale Teilhabe zu verbessern.

Gefördert werden niedrigschwellige örtliche Bildungskonzepte, die partizipativ, d.h. mit Beteiligung der Gäste entwickelt werden und in der Regel in einem partnerschaftlichen Rahmen lebenspraktische Kompetenzen vermitteln. Neben den vorgestellten Angeboten werden derzeit drei weitere Standorte gefördert. Nach den guten Erfahrungen der ersten beiden Förderrunden soll das Programm 2021 fortgesetzt werden.

Die Unterstützung durch die Stiftung ermöglicht den teilnehmenden Bahnhofsmissionen die Schaffung von Gestaltungsräumen für soziales Lernen, die in dieser Intensität im alltäglichen Betrieb einer Bahnhofsmission so nicht möglich wären.

Lernen im freiwilligen Engagement

Welche Auswirkungen oder besser welche Herausforderungen hat das Projekt »Lernen fürs Leben« für das Engagement bzw. für die Engagierten?

Das Angebot der Bahnhofsmissionen wird ermöglicht durch das enge Zusammenwirken von bundesweit ca. 300 hauptamtlichen und mehr als 2.000 ehrenamtlichen Mitarbeiter*innen. Dabei sind es die Freiwilligen, die den laufenden Betrieb der Stationen maßgeblich gestalten. Sie leisten Um-, Ein- und Ausstiegshilfen, sie begleiten Menschen mit Handicap, sie trösten, sie hören zu, sie bieten Seelsorge am Bahnhof an, sie versuchen, Lösungen zu finden für viele Probleme, die Menschen auf der Reise oder im Leben unterwegs ereilen können, sie unterstützen Menschen, die nicht weiter wissen, sie geben Menschen mit einer Demenzerkrankung, die sich verirrt haben, Sicherheit, sie vermitteln in das soziale Netz einer Stadt, begleiten Kinder unterwegs in den Zügen und geben Besuchern ohne Perspektive in Alltagslerngruppen neue Hoffnung.

Die Komplexität der Aufgaben verdeutlicht, dass ein Engagement in den Bahnhofsmissionen ohne Lernbereitschaft nicht möglich ist. Die Bahnhofsmission erwartet deshalb von „ihren“ Freiwilligen die Bereitschaft zur Teilnahme an einer Grundqualifizierung, in der es nicht nur darum geht, den berühmten Bahnhof und seine Abläufe zu verstehen, sondern auch soziale Kompetenzen zu erwerben, die für eine Arbeit mit Menschen mit Ausgrenzungserfahrungen notwendig sind.

Der hauptamtlichen Sozialarbeit kommt es zu, diesen Lern- und Erfahrungsprozess zu gestalten. Dies geschieht in Form einer örtlichen Einarbeitung und einer überörtlichen Grundausbildung. Zu diesem gehören auch themenspezifische Seminare (z.B. Sucht, Wohnungslosigkeit, Gewaltprävention), die bedarfsgerichtet angeboten werden. Verbreitete Formate der Praxisbegleitung sind Supervision und kollegiale Beratung.

Angebote der Fort- und Weiterbildung werden auch immer wieder für die hauptamtlichen Mitarbeitenden angeboten oder bei externen Trägern wahrgenommen.

Der konzeptionelle Ansatz von Lernen für das Leben hat viele Parallelen zu den Ausbildungskontexten für die Engagierten: Die Vermittlung von sozialen und Alltagskompetenzen ist miteinander verquickt und die Interessen und Anliegen der Teilnehmenden werden bei der Planung berücksichtigt.

An einer Stelle geht Lernen für das Leben aber über das bisherige Qualifizierungsverständnis der Bahnhofsmission hinaus: Besonders in der im Düsseldorfer Projekt praktizierten Herangehensweise entfällt sukzessive die Rollentrennung zwischen Lernenden und Lehrenden, zwischen Gästen und Mitarbeitenden.

Die Tragweite dieses Schrittes soll an einem Beispiel illustriert werden: Der Kaffee, den die Bahnhofsmission umsonst an die Gäste ausgeben, wärmt auf und gibt Halt. Er manifestiert aber auch strukturelle Machverhältnisse, wie sie in vielen Hilfeangeboten anzutreffen sind: auf der einen Seite die wissenden und gewährenden Mitarbeitenden, auf der anderen die Gäste mit ihren Defiziten. In der auf Beteiligung und Mitwirkung angelegten Vorgehensweise von »Lernen für das Leben« verändern sich diese Strukturverhältnisse, die Rollen gleichen sich an.

Engagierten und Gästen der Bahnhofsmissionen wird gemeinsam, dass sie beide Mitgestaltende und Lernende sind. Dieser Rollenwechsel, diese Haltung verunsichert zunächst viele Engagierte, lässt dann aber ein neues Hilfeverständnis erwachsen, das vom Leitmotiv der Hilfe zur Selbsthilfe geprägt ist und den Blick auf die Ressourcen der Teilnehmenden stärkt. Vertrauen und Zutrauen entsteht sich selbst und anderen gegenüber. In dieser ermöglichenden Haltung trauen Engagierte den Gästen zu, dass sie sich selbst helfen lernen. Nur so kann Ausgrenzung wirksam überwunden werden.


Beitrag im Newsletter Nr. 19 vom 24.9.2020
Für den Inhalt sind die Autor*innen des jeweiligen Beitrags verantwortlich.

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Autor*innen

Barbara Kempnich ist Leiterin der Bahnhofsmission Düsseldorf Kontakt: kempnich[at]bahnhofsmission.de

Doris Vogel-Grunwald ist Leiterin der Bahnhofsmission Oldenburg Kontakt: Bahnhofsmission[at]diakonie-ol.de

Karen Sommer-Loeffen ist Referentin der Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe e.V. Kontakt: k.sommer-loeffen[at]diakonie-rwl.de

Henrike Lüttich ist Referentin bei der Deutsche Bahn Stiftung

Christian Bakemeier ist Geschäftsführer der Bahnhofsmission Deutschland e.V. Kontakt: bakemeier[at]bahnhofsmission.de


Redaktion

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