Beitrag im Newsletter Nr. 2 vom 27.1.2022

Der 9. November – Tag der Ambivalenz:
2022 mit Aktionen

Henning von Vieregge

Inhalt

»Der 9. November ist der deutsche Tag schlechthin.«
Autor
Redaktion

»Der 9. November ist der deutsche Tag schlechthin.«

Im neuen Jahr werden die Kalender ausgewechselt und man stellt sich allenthalben die Frage: Was wollen wir uns vornehmen? Ich möchte den Akteuren in Zivilgesellschaft, Staat und Wirtschaft vorschlagen, über Aktionen zum 9. November nachzudenken. Warum und welche?

Auch wer wusste, dass dieser Tag Anlass ist, an grundverschiedene deutsche Ereignisse zu erinnern, wurde durch die diesjährige Rede von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier Steinmeier nochmals sensibilisiert. Die Rede des Bundespräsidenten enthält in der Überschrift drei Jahresdaten: 1918 – 1938 – 1989.

1918 rief Philipp Scheidemann am 9. November die deutsche Republik aus. 1938 wurden rund um den 9. November Synagogen angesteckt, jüdisches Eigentum zerstört und jüdische Mitbürger drangsaliert, eingesperrt, die ersten umgebracht. Es war ein Pogrom, an das nach dem Krieg bis vor kurzem unter dem verharmlosenden Begriff »Reichskristallnacht« erinnert wurde. Der 9. November 1989 wiederum hat sich als Tag des Mauerfalls unauslöschlich im historischen Gedächtnis verankert.

Der Bundespräsident erinnerte in seiner Rede an zwei weitere Ereignisse, die mit dem 9. November verknüpft sind: 1848 wurde Robert Blum in Wien standrechtlich erschossen, einer der wichtigen Protagonisten der Paulskirchen-Demokratie. Eine Spur der Geschichte zieht sich, durch Blums Schicksal symbolisiert, von 1848 nach 1918, vom gescheiterten Versuch, Demokratie zu installieren, zum geglückten. Aber wie sehr geglückt? Der sogenannte Hitler-Ludendorff Putsch von 1923 scheiterte an diesem provokativ gewählten Datum zwar, aber das Ereignis selber und dessen juristische und politische Aufarbeitung warfen ein Schlaglicht auf die Fragilität der jungen Demokratie.

Zusammengenommen ist Frank-Walter Steinmeier recht zu geben: »Der 9. November ist der deutsche Tag schlechthin.« »Gerade in seiner Ambivalenz ist der 9. November ein Tag, der uns viel zu sagen hat… Diese Ambivalenz auszuhalten, Licht und Schatten, Freude und Trauer im Herzen zu tragen, das gehört dazu, wenn man Deutscher ist. Das ist der Auftrag des 9. November.«

»Ambivalenz aushalten«, das gilt nicht nur für den Gedenktag 9. November. Es ist auch ein wichtiges Leitmotiv des Selbstverständnisses einer offenen Gesellschaft. Wenn unterschiedliche Auffassungen nicht ertragen, ja sogar gewollt und gewürdigt werden, würde es die Gesellschaft und jede Organisation in ihr auseinanderreißen und spalten. Überall da, wo Spalter am Werk sind, wo Freund-Feind Denken bedrohlich zunimmt, sind wir als Demokraten aufgerufen, gegenzuhalten. In Wort und in Tat. Wir sollten uns diesen Weg nicht dadurch verstellen, dass wir ihn politisch nennen und ablehnen.

Wie kommt es, dass wir es zunehmend mit drei Gefährdungen der Demokratie zu tun haben: durch die rechtsidentitäre Strömung (»Das Boot ist voll«), die linksidentitäre Strömung (»Cancel Culture«) und dem muslimischen Extremismus? Der leider früh verstorbene bedeutende Soziologe Ulrich Beck hat mit seinem Buch »Risikogesellschaft« (1986) herausgearbeitet, dass das Mehr an Optionen »auf dem Weg in eine andere Moderne« (Untertitel) neuartige Risiken birgt: Mehr Optionen im Leben des Einzelnen und von Gesellschaften steigern den Wunsch nach Eindeutigkeit, der ins Autoritäre umschlagen kann. In Deutschland hat zuletzt (2018) der Islamwissenschaftler Thomas Bauer mit seiner Forderung nach mehr »Ambiguitäts-Toleranz« Aufsehen erregt. Er sieht eine Tendenz zur Vereindeutigung der Welt und zum Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt. Unter Ambiguität versteht der Autor »alle Phänomene der Mehrdeutigkeit, der Unentscheidbarkeit und Vagheit, mit denen Menschen fortwährend konfrontiert werden.«

Haben wir es mit zu vielen »Selbstgerechten« (Sahra Wagenknecht, 2021) oder einer »Generation beleidigt« zu tun, wie die Französin Caroline Fourest in ihrem gleichnamigen Buch (2020) behauptet?

Nochmals: Der 9. November bietet sich an, dass zivilgesellschaftliche Organisationen (Vereine, Kirchen, Gewerkschaften, Hochschulen, politische Initiativen usw.) zusammen mit Staat und Wirtschaft Räume der demokratischen Gestaltung zu öffnen. Man kann an 1918 erinnern und sich zu öffentlichen Veranstaltungen zusammenfinden. Das jüdische Leben an den Orten der Veranstaltungen damals 1938 und heute ließe sich thematisieren. Schülerwettbewerbe könnten initiiert und am 9. November ausgezeichnet werden. Immer unter dem Motto: »Die Stärke der Ambivalenz verstehen.«


Beitrag im Newsletter Nr. 2 vom 27.1.2022
Für den Inhalt sind die Autor*innen des jeweiligen Beitrags verantwortlich.

Zurück zum Newsletter


Autor

Henning von Vieregge, Publizist, war letzter Vorsitzender der Aktion Gemeinsinn.

Kontakt: henningvonvieregge@gmail.com


Redaktion

BBE-Newsletter für Engagement und Partizipation in Deutschland

Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement (BBE)
Michaelkirchstr. 17/18
10179 Berlin

Tel.: +49 30 62980-115

newsletter@b-b-e.de
www.b-b-e.de

Zum Seitenanfang