Beitrag im Newsletter Nr. 21 vom 21.10.2021

Bürgerschaftliches Engagement in ländlichen Räumen: Entwicklungen und Perspektiven

Andrea Walter & Tuuli-Marja Kleiner

Inhalt

Hintergrund und Ziel der digitalen Veranstaltung
Einführender Vortrag: Das ehrenamtliche Engagement unterschiedlicher sozialer Gruppen in ländlichen Räumen
Vertiefende Diskussion in den Workshops
Empfehlungen aus der Veranstaltung an Politik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft
Endnoten
Autorinnen
Redaktion

Bericht zur digitalen Kooperationsveranstaltung der BBE-AG Zivilgesellschaftsforschung und dem Thünen-Institut für Ländliche Räume am 8. Oktober 2021.

Hintergrund und Ziel der digitalen Veranstaltung

Ländliche Räume in Deutschland unterliegen seit Jahrzehnten einem tiefgreifenden strukturellen Wandel. Erklärtes Ziel der Politik ist es vor diesem Hintergrund, gleichwertige Lebensverhältnisse zu schaffen. Bürgerschaftlich Engagierte gelten als stabilisierende Säulen des kulturellen Lebens und des lokalen Zusammenhalts. Doch hat das bürgerschaftliche Engagement in ländlichen Räumen nicht nur eine gewachsene Tradition, ist vielerorts kulturell verankert und festigt die lokale Identität. Es ist auch unverzichtbar in der Daseinsvorsorge. In Form von Bürgerbussen, Dorfläden oder Dorfkneipen machen Vereine, Stiftungen und andere gemeinnützige Netzwerke öffentliche Versorgungsangebote. Auch wäre die Abwehr von Gefahren für Leben, Gesundheit oder Eigentum ohne die vielen Freiwilligen des Technischen Hilfswerks und der Freiwilligen Feuerwehr in ländlichen Kommunen kaum denkbar.

Doch wie steht es aktuell um das bürgerschaftliche Engagement in ländlichen Räumen? Wo liegen Herausforderungen und welche Rahmenbedingungen brauchen Engagierte und ihre Organisationen vor Ort?

Ziel der Veranstaltung war es in diesem Kontext, aktuelle Entwicklungen zum bürgerschaftlichen Engagement in ländlichen Räumen unter folgenden Leitfragen in den Blick zu nehmen:

• Was wissen wir zu gegenwärtigen Entwicklungen des bürgerschaftlichen Engagements in ländlichen Räumen?

• Welche Forschungsprojekte und Praxisinitiativen laufen aktuell?

• Welches Wissen wird von Organisationen und Engagierten vor Ort benötigt?

• Wo fehlt es an Wissen, wo bedarf es weiterer Forschung und/oder Vernetzung, und wo ergeben sich Aufträge an die Politik?

An der Veranstaltung nahmen insgesamt über 80 Vertreter*innen von Verbänden, Vereinen, Stiftungen, aus wissenschaftlichen Einrichtungen sowie aus Kommunen, Ministerien und der Politik teil.

Einführender Vortrag: Das ehrenamtliche Engagement unterschiedlicher sozialer Gruppen in ländlichen Räumen

Der einführende Vortrag wurde von PD Dr. Tuuli-Marja Kleiner, Thünen-Institut für Ländliche Räume, und Luise Burkhardt, Doktorandin am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung, präsentiert.

Für ihre Forschungsarbeit hatten sie die Raumtypologie des Thünen-Instituts für Ländliche Räume mit den Befragungsdaten des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) zusammengeführt. Auf Basis dieser Daten wurden Stand und Entwicklung des ehrenamtlichen Engagements in unterschiedlichen Typen ländlicher Räume untersucht. Die Wissenschaftlerinnen konnten zeigen, dass sowohl eine gute sozio-ökonomische Lage als auch eine ausgeprägte Ländlichkeit positiv mit dem Engagement zusammenhängen. Unterschiede zwischen sozialen Gruppen zeigen sich vor allem in sehr ländlich geprägten Regionen: Männer sind hier deutlich häufiger ehrenamtlich engagiert als Frauen. Auch die Erwerbstätigkeit spielt gerade in den sehr ländlichen Regionen eine größere Rolle für das Engagement, nicht jedoch in nicht-ländlichen Regionen. Die Teilnahme an religiösen Veranstaltungen ist in allen Regionstypen eng mit der Ausübung eines Ehrenamtes verknüpft[1].

Die empirischen Befunde zu den Faktoren Geschlecht, Erwerbsstatus und Häufigkeit der Teilnahme an religiösen Veranstaltungen auf das bürgerschaftliche Engagement wurden anschließend von Ursula Braunewell, Vizepräsidentin des Deutschen Landfrauenverbandes, Johannes Grünecker, Referent für bürgerschaftliches Engagement beim Bundesverband der Arbeiterwohlfahrt, sowie Dr. Frank Martin Brunn, evangelischer Pfarrer, Privatdozent und aktuell abgeordnet im Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft, kommentiert.

Vertiefende Diskussion in den Workshops

Im Anschluss an Vortrag, Kommentierungen und Diskussion wurden ausgewählte Perspektiven im Rahmen von drei Workshops vertiefend erörtert – jeder Workshop begann mit Kurzbeiträgen von Vertreter*innen aus Wissenschaft und Praxis.

A. Engagement in ländlichen Räumen im Fokus der Wissenschaft: Erklärungsansätze vertiefen, weitere Forschungsbedarfe identifizieren

Zu Beginn des Workshops adressierte Frau Prof. Dr. Alexandra Engel, Hochschule für angewandte Wissenschaft und Kunst in Holzminden, in einem Impulsvortrag den Forschungsbedarf zum Engagement in ländlichen Räumen. So wisse man zu wenig über (1) das Engagement im Kontext sozialräumlicher Lebensbedingungen vor Ort, (2) unterschiedliche sozialräumliche Funktionalitäten zwischen traditionellen und neuen Formen des Engagements und (3) darüber, wie der Eigensinn von Engagement und das Erleben von Selbstwirksamkeit mit einer sinnvollen Engagementförderung in Einklang gebracht werden könnten. Im Anschluss diskutierten die Workshopteilnehmer*innen Kriterien der Abgrenzung von zivilen zu unzivilen Engagements und die gesellschaftliche Funktion unzivilem Engagements.

B. Ländliche Räume gestalten, gute Rahmenbedingungen fürs Ehrenamt schaffen – Das Zusammenwirken von Organisationen und Verwaltung

In diesem Workshop gab zunächst Gabriele Linster von der Samtgemeinde Bersenbrück einen Überblick zu ihrer Arbeit als Koordinatorin des Seniorenbüros, des Büros für bürgerschaftliches Engagement und der Gemeinwesenarbeit vor Ort. In ihrem Kurzbeitrag erläuterte sie die Bedeutung von Begegnungsräumen zwischen kommunaler Verwaltung, Organisationen und Engagierten.

Marion Zosel-Mohr, Sprecherin der Städte im Programm Engagierte Stadt und Mitarbeiterin der Freiwilligenagentur in Stendal, erklärte in ihrer Kurzvorstellung die Bedeutung guter Rahmenbedingungen für das Engagement vor Ort (u.a. dass es Ansprechpartner*innen in der Kommune gibt).

Nina Leseberg, Abteilungsleiterin Strukturstärkung bei der Deutschen Stiftung für Engagement und Ehrenamt (DSEE), stellte das Programm Engagiertes Land vor, das im Oktober mit zwanzig Netzwerken aus zehn Bundesländern gestartet ist und darauf abzielt, Engagementlandschaften vor Ort weiterzuentwickeln.

Die Teilnehmenden des Workshops erarbeiteten Erfolgsfaktoren guter Zusammenarbeit, u.a. eine kooperative Haltung aller Beteiligten und gemeinsame Orte der Begegnung zur sektorenübergreifenden Vernetzung.

C. Vielfalt und Diversität im Engagement stärken – und die Rolle der Organisationen

Kirsten Witte-Abe vom Deutschen Olympischen Sportbund erläuterte anhand der zwei ausgewählten Aktionsfelder Alter (junge Menschen) und Geschlecht, wie der DOSB Vielfalt im Engagement fördert. Zudem ging sie auch auf das Thema Transidentität und Intersexualität im Sport ein.

Mamad Mohammad vom Landesnetzwerk der Migrantenorganisationen in Sachsen-Anhalt berichtete von der aktuellen Situation, die die Migrantenorganisationen vor Ort erleben und wo ihnen aktuelle Herausforderungen begegnen (u.a. Abwanderung junger Menschen).

Im anschließenden Gespräch wurden u.a. Chancen und Herausforderungen von Vielfalts- und Diversitätsförderung in ländlichen Räumen und die Rolle von Förderprogrammen diskutiert.

Empfehlungen aus der Veranstaltung an Politik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft

Politik:

• Zweifelsohne werden Fördermittel zur Stärkung der Engagementstrukturen in ländlichen Räumen benötigt. Allerdings dürfen sie nicht eine notwendige grundlegende Infrastruktur ersetzen. Auch kann ein starker Wettbewerb um Fördermittel eine Neiddebatte zwischen Organisationen und Engagierten vor Ort befeuern. Dies sollte bei der Konzeption von öffentlichen Förderprogrammen berücksichtigt werden.

• In ländlichen Räumen erscheinen Ansprechpartner*innen aus Verwaltung und Politik für Engagierte und ihre Organisationen oft nicht erreichbar/»weit entfernt«. Zudem hat sich nicht jede Kommune die explizite Förderung von Engagementstrukturen als Thema auf die Fahne geschrieben. Um Engagement vor Ort in seiner Vielfalt umfassend unterstützen zu können, sollte Engagementförderung jedoch flächendeckend in Kommunen als Themenfeld transparent verankert und mit notwendigen personellen und finanziellen Ressourcen ausgestattet sein.

• Die unterschiedlichen Formen bürgerschaftlichen Engagements in ländlichen Räumen sollten mit einer sinnvollen Engagementförderung in Einklang gebracht werden.

Wissenschaft:

• Aufgrund seiner vielfältigen Funktionen (u.a. Daseinsvorsorge, Integration, Demokratieförderung) ist bürgerschaftliches Engagement in ländlichen Räumen nicht wegzudenken. Nach wie vor fehlt jedoch eine einheitliche Begriffsdefinition von Engagement. Vor dem Hintergrund aktueller Entwicklungen (das Engagement wird u.a. informeller, spontaner und digitaler) könnte es jedoch hilfreich sein, die häufig verwendete Definition der Enquete-Kommission »Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements« zu reflektieren und auf Basis einer breiten Debatte in Wissenschaft und Praxis weiterzuentwickeln.

• Das Wissen über Stand und Entwicklung des bürgerschaftlichen Engagements in ländlichen Räumen ist bislang begrenzt. Es fehlt vor allem an systematischen Studien, die über eine dichotome Stadt-Land-Unterscheidung hinausgehen, das heißt ländliche Räume in ihrer Heterogenität betrachten und so differenzierte Erkenntnisse zum Engagement in ländlichen Räumen bereitstellen.

• Schließlich muss die Bedeutung der traditionellen und der neueren Formen des bürgerschaftlichen Engagements für das soziale und das politische Gemeinwesen in ländlichen Räumen aufgezeigt werden. Auch gilt es, die gesellschaftliche Bedeutung unzivilen Engagements analytisch zu klären, statt unziviles Engagements zu verurteilen.

Zivilgesellschaft

• Bürgerschaftliches Engagement in ländlichen Räumen wird oft im Zuge aktueller Herausforderungen diskutiert (u.a. Corona-Auswirkungen, demographische Entwicklungen, fehlende Mobilität). Dabei lohnt es sich, auch die Potenziale stärker in den Blick zu nehmen und herauszustellen. So zeichnen sich Engagierte in ländlichen Räumen oft durch hohe Motivation, Pragmatismus und Heimatverbundenheit aus.


Endnoten

[1] Nachzulesen in: Kleiner, Tuuli-Marja / Burkhardt, Luise (2021): Ehrenamtliches Engagement: Soziale Gruppen insbesondere in sehr ländlichen Räumen unterschiedlich stark vertreten. DIW Wochenbericht 35/2021. Siehe auch: Kleiner, Tuuli-Marja / Klärner, Andreas (2019): Bürgerschaftliches Engagement in ländlichen Räumen. Politische Hoffnungen, empirische Befunde und Forschungsbedarf. Hg. v. Johann Heinrich von Thünen-Institut. Braunschweig (Thünen Working Paper, 129). DOI:10.3220/WP1569323235000.


Beitrag im Newsletter Nr. 21 vom 21.10.2021
Für den Inhalt sind die Autor*innen des jeweiligen Beitrags verantwortlich.

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Autorinnen

Prof.‘in Dr. Andrea Walter ist Professorin für Politikwissenschaft und Soziologie an der Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung (HSPV) NRW und Mitglied des Sprecherteams der AG Zivilgesellschaftsforschung des BBE.

Kontakt: andrea.walter@hspv.nrw.de

PD Dr. Tuuli-Marja Kleiner ist Senior Researcher am Thünen-Institut für Ländliche Räume, Privatdozentin an der Goethe-Universität in Frankfurt/Main und aktives Mitglied der AG Zivilgesellschaftsforschung des BBE

Kontakt: t.kleiner@thuenen.de


Redaktion

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