Beitrag im Newsletter Nr. 21 vom 21.10.2021

Gegen Kolonialismus twittern

Jürgen Zimmerer

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Gegen Kolonialismus twittern
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Zur Person

Prof. Dr. Jürgen Zimmerer ist Professor für Globalgeschichte an der Universität Hamburg mit dem Schwerpunkt Geschichte Afrikas. Zudem ist er Leiter der Forschungsstelle »Hamburgs (post-)koloniales Erbe/Hamburg und die frühe Globalisierung«. Seit Januar 2016 twittert er als @juergenzimmerer über den Umgang mit der deutschen Kolonialgeschichte in Deutschland, Rückgabeforderungen kolonialer Raubgüter und Erinnerungskultur und hat inzwischen mehr als 14.000 Follower.

Woher kommt Ihr Interesse für koloniale und postkoloniale Geschichte?

Geschichte hilft uns besser zu verstehen, wie wir, individuell oder kollektiv, zu dem geworden sind, was wir sind. Und unsere gegenwärtige Welt ist nun einmal geprägt durch die Globalisierung. Diese Globalisierung ist aber keineswegs ein neues Phänomen, wie viele Menschen glauben, und wie die Debatte darüber oftmals geführt wird, sondern hat eine Geschichte, die mindestens 600 Jahre zurückreicht. Wir kennen sie nur unter anderen Bezeichnungen, etwa als »Zeitalter der Entdeckungen«, als »Europäische Expansion« oder als (europäische) Kolonialgeschichte. Wir können aber auch von der kolonialen Globalisierung sprechen, die nunmehr in die postkoloniale Globalisierung übergeht.

Wir befinden uns mitten in diesem Übergang, was zum Gefühl beiträgt, das etwas Neues, auch Beunruhigendes, geschieht. Das Neue ist aber gar nicht so neu. Was es so erscheinen lässt, und wozu wir uns positionieren müssen, ist, dass nach 600 Jahren des Machtzuwachses, der Dominanz und des Profitierens, spätestens seit Mitte des 20. Jahrhunderts, eine Dezentrierung, ein Machtverlust Europas einsetzte. Denken Sie an den Aufstieg zuerst der USA und dann etwa Chinas zu Welt- oder gar Supermächten. In vielerlei Hinsichten denken wir dagegen noch in den Kategorien der vergangenen Welt, wenn wir über die Globalisierung so diskutieren, als könnten wir bestimmen, ob sie stattfindet oder nicht, ob wir teilnehmen wollen oder nicht. Das ist der alte imperiale und eurozentrische Blick. Aber Europa ist nicht mehr der Nabel der Welt. Je eher wir das in Europa verstehen, desto schneller und besser können wir uns darauf einstellen. Die Wissenschaft, und auch die Geschichtswissenschaft, ist dazu aufgerufen, hier auf- und erklärend zu wirken, und so auch ein Stück weit Halt zu geben, indem man erklärt was gerade geschieht.

Warum haben Sie angefangen über Themen und Ereignisse im Zusammenhang mit der deutschen Kolonialgeschichte zu twittern?

Wissenschaft und vor allem auch staatlich alimentierte, hat auch die Pflicht, ihre Ergebnisse der Gesellschaft zur Verfügung zu stellen. Und es sollte auch nicht sein, dass wir Professor*innen warten, bis die Menschen in unseren Hörsaal kommen. Zentrale Debatten werden im öffentlichen Raum geführt, und es ist unsere Aufgabe als Staatsbürger*innen und Wissenschaftler*innen, uns hier mit unserer Expertise einzumischen. Und der Bereich der Sozialen Medien ist hier ein sehr wichtiger. Die Plattform Twitter, auf der ich selbst seit etwa 5 Jahren aktiv bin, erlaubt hier die direkte Kommunikation zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit. Auch ist Social Media für viele die primäre Informationsquelle und ergänzt bzw. ersetzt zunehmend die klassischen Medien. Ich denke, es ist wichtig, dass gerade Wissenschaftler*innen auch dort präsent sind. Hochschullehrer*innen werden ja oft kritisiert, dass sie den Elfenbeinturm nicht verlassen würden. Da ist was Wahres dran. Deshalb mische ich mich in die Debatten ein. Wir brauchen diese Debatten ja dringender denn je.

Dass ich mich vor allem zu Kolonialismus und Erinnerungspolitik äußere, und zunehmend auch zum Klimawandel und dessen Folgen, liegt vor allem daran, dass diese Themen Gegenstand meiner Forschungen sind. Sicherlich stößt es dem einen oder der anderen sauer auf, dass ich mich auch über die Konsequenzen äußere, die sich aus meinen Forschungsergebnissen für Politik und Gesellschaft ergeben. Was ich aber nicht verstehe: Warum, sagen wir ein journalistischer Allrounder diese Schlussfolgerungen aus meiner Arbeit und der anderer ziehen dürfen soll, oftmals manches noch falsch verstehend, wir uns selbst aber nur im engsten Sinne dazu äußern sollen. Man wird dann schnell als Aktivist geschmäht, von Leuten, die sich selbst eine neutrale Position zuschreiben. Aber schon die Auswahl der Themen, über die sie berichten, ist nicht neutral und kann es auch gar nicht sein. Twitter erlaubt hier eine unmittelbarere Diskussion, ohne dass ich die Gefahren, die davon ausgehen können, schmälern will. Es ist auch ein Resonanzraum des Rassistischen, Antisemitischen, Misogynen und Antidemokratischen. Umso wichtiger, dass sich hier Wissenschaftler*innen einmischen und nicht sofort mundtot gemacht werden.

Sie kritisieren häufig die deutsche Regierung für ihren Umgang mit der deutschen Kolonialzeit, insbesondere im Hinblick auf den Umgang mit kolonialen (Raub-)Gütern und den sehr deutlich formulierten Rückgabeforderungen aus den jeweiligen Herkunftsländern, auf Twitter, aber auch in Beiträgen beim Deutschlandfunk oder in verschiedenen Zeitungen. Welche Reaktionen bekommen Sie auf Ihre Beiträge aus der Politik und aus der Bevölkerung?

Ich kritisiere die deutsche Regierung, weil sie nun mal die Regierung ist, und die Zivilgesellschaft, und zu dieser gehöre ich als Wissenschaftler, hier ein wichtiges Korrektiv darstellt und sein muss. Das hat mit der parteipolitischen Zusammensetzung der Regierung zunächst einmal wenig zu tun. Was das Feedback angeht, so ist es meist überwiegend positiv, es gibt aber auch die Trolls, die Hatemails bis zu unverhohlenen Drohungen. Ebenso beunruhigend wie die ablehnenden Zuschriften sind manchmal aber auch die zustimmenden, etwa wenn ich einen Sender aus dem Bereich des Öffentlich Rechtlichen Rundfunks für menschenverachtende Berichterstattung und Kommentare zur Geflüchtetenpolitik etwa auf Lesbos kritisiere, und mir dann Mitarbeiter*innen schreiben, um sich zu bedanken, dass jemand mal diese Kritik anbringt. Das sollte eigentlich doch auch intern möglich sein. Ähnliches passierte mir auch bei einem Hamburger Nachrichtenmagazin.

Wie sehen Sie die Bedeutung der Zivilgesellschaft, von Vereinen, Stiftungen und losen Zusammenschlüssen von Aktivist*innen mit Blick auf die Aufarbeitung der Kolonialzeit? Welche Rolle spielte das Engagement von Vereinen, Initiativen und Einzelpersonen bisher, z. B. bei der Diskussion über den geringen Stellenwert der Kolonialgeschichte im deutschen Schulunterricht, der Anerkennung des Völkermords der Nama und Herero in Namibia in den Jahren 1904-08 durch deutsche Soldaten oder auch bei der Eröffnung des umstrittenen Humboldtforums in Berlin und dem vieldiskutierten Umgang mit Artefakten, die während der Kolonialzeit geraubt wurden oder deren Provenienz noch gar nicht erforscht wurde?

Die Rolle der Zivilgesellschaft kann eigentlich gar nicht überbewertet werden. Sie hat das Thema auf die Tagesordnung gesetzt und viele Jahre gegen erheblichen Widerstand dort gehalten. Denken Sie etwa an die Debatte um das Humboldt Forum in Berlin, wo Aktivist*innen wie Wissenschaftler*innen verlacht und diffamiert wurden, nur um jetzt lesen zu können, die Politik und die Macher*innen des Humboldt Forums hätten die Auseinandersetzung mit dem kolonialen Erbe schon immer gewollt. Ähnliches können Sie in der Frage der Anerkennung des Genozids an den Herero und Nama und der Wiedergutmachung dafür sehen. Hier waren es ebenfalls zivilgesellschaftliche Gruppen, oftmals mit großem Anteil an BIPOC (Black, Indigenous, People of Color), die in Zusammenarbeit mit Aktivist*innen und Opferverbänden in Namibia das Thema immer wieder ansprachen und auf eine Anerkennung drängten. Das Auswärtige Amt war und ist sehr zögerlich, möchte möglichst keine Zugeständnisse machen, die als rechtliche Anerkennung einer Wiedergutmachungspflicht ausgelegt werden könnten. Die Beispiele ließen sich fortsetzen. Die kritische Debatte zwischen öffentlichen Einrichtungen auf der einen und der Zivilgesellschaft auf der anderen ist aber ein zentraler Bestandteil des Willensbildungsprozesses in unserer Gesellschaft. Auffallend ist auch, dass die Zivilgesellschaft zwar Prozesse anstoßen kann, aber dann weitgehend ausgeschlossen wird vom weiteren Prozess bzw. nur punktuell eingeladen wird, und zwar zu den Bedingungen der öffentlichen Institutionen. Das steht nicht nur einem wirklich partizipativen Verfahren entgegen, sondern verhindert auch Transparenz.

Welche Auswirkungen hat zivilgesellschaftliches/bürgerschaftliches Engagement auf Ihre universitäre Arbeit als Forschender?

Ich bin ja selbst als Wissenschaftler Teil der Zivilgesellschaft, von daher lassen sich die Sphären nicht trennen. Und in der Aufnahme mancher Fragestellungen ist sicherlich auch eine bestimmte Beeinflussung zu spüren, als ich ja auch Themen mache, die mir wichtig sind, oder von denen ich merke, dass ein gesellschaftlicher Aufklärungsbedarf vorhanden ist. In der konkreten Ausgestaltung folgt das wissenschaftliche System dann schon einer anderen Logik, und muss es auch tun. Die Wissenschaft entwickelte ja Mechanismen zur Überprüfung des Wahrheitsgehaltes der eigenen Arbeit oder auch der Plausibilität bestimmter Ergebnisse. Sie muss sich daran messen lassen. Da gibt es manchmal durchaus Spannungen zu den Anforderungen seitens der Zivilgesellschaft wie auch der Politik. Beide hätten gerne möglichst eindeutige Aussagen, aber Wissenschaft ist Komplexität, und auch das Aufzeigen der Reichweite der eigenen Aussagen.

Um ein Beispiel zu nennen: Ich kann bei einem Kolonialisten, nach dem eine Straße benannt ist, etwa erforschen, was er genau gemacht hat, und auch zu einem eindeutigen Ergebnis kommen. Was für politische Folgerungen man daraus zieht, ob eine Straße umbenannt werden muss, ist jedoch eine politische. Oder, ich kann Ihnen sagen, was der Genozid an den Herero und Nama an Opfern forderte, wie und wie große Ländereien enteignet wurden etc. Ob und wie man das »wiedergutmachen« kann ist eine Frage, die man wissenschaftlich nicht beantworten kann, und die politisch geklärt werden muss, vor allem unter Einbeziehung der Opfergruppen bzw. von deren Nachkommen.

Welche Aufgaben und Herausforderungen sehen Sie für die nächsten Jahre hinsichtlich des Umgangs mit Kolonialisierung für zivilgesellschaftliches/bürgerschaftliches Engagement, aber auch den Bildungsbereich und die Politik?

Wir haben, vor allem auch Dank der unterschiedlichen zivilgesellschaftlichen Initiativen und Akteur*innen, in den letzten Jahren Fortschritte gemacht. Vor allem die Themen koloniale Denkmäler und Straßennamen sowie koloniale Raubkunst sind zu öffentlich diskutierten Themen geworden. Und die Politik, aber auch die Museen, haben darauf reagiert. Was uns weit weniger gelungen ist, ist zu zeigen, dass es bei der Auseinandersetzung um das koloniale Erbe nicht nur um Objekte, Namen und Steine geht, sondern um Menschen.

Kolonialismus war ein strukturell-rassistisches Unrechtssystem, und das müssen wir den Menschen erklären, und ihnen zeigen, dass dies Konsequenzen hat bis zum heutigen Rassismus. Wir erzählen etwa die Geschichte des »Westens« immer nur zur Hälfte. Gerne kommt in dieser identitätsstiftenden Meistererzählung der »Westen« als Hort der Demokratie, der Menschenrechte und der Gleichheit vor, und diese Ideen sind auch aller Ehren wert. Nur sollte die Geschichte nicht darauf reduziert werden. Man muss auch darauf hinweisen, dass diese Erfolgsgeschichte mit der Ausbeutung ganzer Kontinente und der Versklavung von Millionen von Menschen erkauft, ja dadurch erst ermöglicht wurde. Nur eine derart vervollständigte Geschichte ermöglicht es uns im Globalen Norden, unsere Position im Übergang von der kolonialen zur postkolonialen Globalisierung richtig zu bewerten und die richtigen Folgerungen für die Zukunft zu treffen. Und die müssen auch die Beziehungen zu den Menschen in den Blick nehmen. Wir brauchen eine neue Ethik der Beziehungen, eine Idee von Globaler Sozialer Gerechtigkeit als Ziel. Und das nicht (nur) als Reflex auf die Vergangenheit, sondern in unserem ureigensten Interesse. Die Klimakrise ist die existentielle Krise der Menschheit! Und sie hat viel mit Kolonialismus zu tun. Es war die koloniale Globalisierung, die eine bestimmte Idee des Raubbau- und Verschwendungskapitalismus über die ganze Welt verbreitete und zum allerorten adaptierten Wirtschaftsprinzip machte. Es war aber das Gegenteil von Nachhaltigkeit. Europäer*innen lebten und leben – verallgemeinernd gesprochen – seit sechshundert Jahren über ihre Verhältnisse, d.h. sie verbrauchen mehr Ressourcen als sie produzieren bzw. bei sich selbst vorfinden, und auch als ihnen gemäß des Anteils an der Weltbevölkerung zusteht. Das heißt nun nicht, dass es nicht auch innerhalb der europäischen Gesellschaften und ihrer siedlerkolonialen Ableger nicht extreme Wohlstands- und damit auch Verbrauchsunterschiede gegeben hätte. Nun, da der Globale Süden den gleichen Ressourcenverbrauch anmahnt, steht das System vor dem Kollaps. Das vermögen viele in Europa nicht zu erkennen, und auch das ist ein koloniales Erbe. Wir haben uns daran gewöhnt, über unsere Verhältnisse zu leben, es ging für uns ja immer gut. Die Kosten, human und ökologisch, wurden externalisiert, die sprichwörtliche Zeche zahlten die anderen. Nun, da die Folgen dieser Ideologie des Wachstums auch bei uns – bisher noch vergleichsweise milde – zu spüren sind, sind wir mental nicht in der Lage, das Ruder herumzuwerfen. Es ging doch immer gut, oder? In diesem Sinne ist Dekolonisierung auch Dekarbonisierung und ein Ausbruch aus der Ökonomie des Verbrauchs. Um das zu erreichen, braucht es die verstärkte Anstrengung der Zivilgesellschaft. Denn die Kräfte des Beharrens sind stark, und sie meinen die Erfahrung auf ihrer Seite zu haben. Ein Trugschluss!


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Prof. Dr. Jürgen Zimmerer ist Professor für Globalgeschichte an der Universität Hamburg mit dem Schwerpunkt Geschichte Afrikas und Leiter der Forschungsstelle »Hamburgs (post-)koloniales Erbe/Hamburg und die frühe Globalisierung«.

Kontakt: juergen.zimmerer@uni-hamburg.de | Twitter: @juergenzimmerer


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