Beitrag im Newsletter Nr. 22 vom 5.11.2020

Wertorientierungen – Befunde aus der 18. Shell Jugendstudie

Ulrich Schneekloth & Mathias Albert

Inhalt

»Eine Generation meldet sich zu Wort«
Familie und Beziehungen bleiben die zentralen Orientierungspunkte
Bewusste Lebensführung und eigener Gestaltungsanspruch
Junge Frauen als Trendsetter einer bewussteren Lebensführung
Eine neue Kultur des Engagements?
Autoren
Redaktion

»Eine Generation meldet sich zu Wort«

Die 18. Shell Jugendstudie trägt den Untertitel »Eine Generation meldet sich zu Wort«. Bereits seit 1953 widmet sich dieses sozialwissenschaftliche Langzeitprojekt den Entwicklungen bei den Lebenslagen und den typischen Lebensentwürfen der jeweiligen jungen Generation in Deutschland. Zuletzt haben wir im Frühjahr 2019 etwas über 2.500 junge Menschen im Alter zwischen 12 und 25 Jahren auf repräsentativer Basis befragt, ihre prägenden Einstellungen erkundet und dann verglichen, inwieweit sich die heutigen Jugendlichen in ihren Haltungen von denjenigen unterscheiden, die in den vorangegangenen Studien in den früheren Jahren einbezogen waren.

Trotz des auch weiterhin prägenden pragmatischen Grundmusters in den Einstellungen und Haltungen lassen sich inzwischen wichtige Veränderungsprozesse feststellen. Die gegenwärtige junge Generation benennt wieder nachdrücklicher eigene Ansprüche, insbesondere hinsichtlich der Gestaltung der Zukunft der Gesellschaft, und fordert aktiver als früher ein, dass bereits heute dafür die aus ihrer Sicht erforderlichen Weichenstellungen vorgenommen werden. Als zukunftsrelevante Themen haben vor allem Umweltschutz und Klimawandel erheblich an Bedeutung gewonnen. Sie bilden Kristallisationspunkte sowohl für die Artikulation der Forderung nach Mitsprache als auch für die Handlungsaufforderung, die an die älteren Generationen gerichtet ist, insbesondere an die Politikerinnen und Politiker.

Die Haltung der jeweiligen jungen Generation beschreiben wir anhand von zentralen Wertorientierungen. Hierunter verstehen wir in der Shell Jugendstudie drei konstitutive und dabei alltagsnahe Aspekte:

  1. Angestrebte Lebensziele, wie etwa Unabhängigkeit, ein hoher Lebensstand oder Partnerschaft und Familie:
  2. Tugenden als normative Ideale, die man für sich als wichtig empfindet, wie etwa Fleiß und Ehrgeiz oder ein gutes Familienleben führen; sowie
  3. spezifische Haltungen, mit denen man sich gegenüber gesellschaftlichen oder alltagspraktischen Fragestellungen positioniert, wie etwa Umweltbewusstsein, die eigene Phantasie und Kreativität entfalten oder auch sozial Benachteiligten zu helfen

Diese Wertorientierungen bilden zusammen genommen den Wertekanon, der als Kompass für die eigenen Einstellungen, Bewertungen und das Handeln dient.

Familie und Beziehungen bleiben die zentralen Orientierungspunkte

Partnerschaft, Familie und der Wunsch nach guten Freunden sind nach wie vor die mit Abstand wichtigsten Wertorientierungen, die so gut wie alle Jugendliche für sich gewährleistet sehen wollen. Diese Lebensziele sind sogar noch etwas wichtiger als Eigenverantwortlichkeit und Unabhängigkeit, diese benennen aber ebenfalls mehr als vier von fünf Jugendlichen und damit ebenfalls die große Mehrheit als für sich und ihre Lebensführung wichtig. Auch an der Betonung von Tugenden, wie etwa der Respektierung von Gesetz und Ordnung, fleißig und ehrgeizig zu sein oder nach Sicherheit zu streben, hat sich seit 2002 nichts geändert. Auch hier sind es etwa vier von fünf Jugendlichen, die dies für sich selbst als wichtig bezeichnen. Familie stellt einen »sicheren Heimathafen« dar, der jungen Menschen Halt und Unterstützung gibt, wohingegen die Orientierung am Tüchtigkeitsideal für das »Versprechen« steht, dadurch gesellschaftliche Anerkennung zu finden und am Leben teilhaben zu können. Gesellschaftliche Konformität und Leistungsnormen werden demnach auch von der gegenwärtigen jungen Generation akzeptiert und nicht in Frage gestellt. Dass Jugendliche gleichzeitig aber auch offen für Neues sind und die Bereitschaft vorhanden ist, eine Rolle als Träger von Veränderungen zu übernehmen, zeigt sich hingegen daran, dass ebenfalls vier von fünf »die eigene Phantasie und Kreativität entwickeln« als ähnlich wichtiges Lebensziel benennen.

Nach wie vor kennzeichnend für die Jugendlichen in Deutschland ist ihre pragmatische Grundorientierung. Die Jugendlichen sind, wie auch schon in den letzten Shell Jugendstudien beschrieben, bereit, sich in hohem Maße an Leistungsnormen zu orientieren und hegen gleichzeitig den Wunsch nach stabilen sozialen Beziehungen im persönlichen Nahbereich. Sie passen sich auf der individuellen Suche nach einem gesicherten und eigenständigen Platz in der Gesellschaft den Gegebenheiten so an, dass sie Chancen, die sich auftun, dadurch möglichst gut ergreifen können. Die Konturen dieses Grundmusters haben sich in den letzten Jahren allerdings erkennbar hin zu einer bewussteren Lebensführung und einer Artikulation von eigenen Ansprüchen an eine nachhaltige Gestaltung der Zukunft der Gesellschaft verschoben.

Bewusste Lebensführung und eigener Gestaltungsanspruch

Die deutlichste Veränderung im Wertekanon von Jugendlichen zeigt sich bei den Wertorientierungen, die für eine bewusste Lebensführung stehen. Gesundheitsbewusstsein ist vier von fünf Jugendlichen wichtig, und damit ungefähr gleich wichtig wie der Wunsch nach Unabhängigkeit, die Bedeutung von Fleiß und Ehrgeiz sowie der Lebensgenuss. Der Schutz der Umwelt liegt 71 % am Herzen und ist damit inzwischen sogar wichtiger als ein eigener hoher Lebensstandard (63 %). Der Trend und die damit verbundenen Veränderungen sind an dieser Stelle klar ersichtlich: Im Jahr 2002 haben noch 60 % der Jugendlichen Umweltbewusstsein als wichtigen Wert benannt, inzwischen trifft dies für fast drei von vier Jugendlichen zu. Das ist ein ungewöhnlich hoher Bedeutungsanstieg, es gibt, mit nur einer Ausnahme, keinen anderen Bereich, der seitdem ähnlich stark an Relevanz gewonnen hat. Diese Ausnahme bildet interessanterweise das politische Engagement, dessen Bedeutung aus der Sicht der Jugendlichen, wenn auch auf einem niedrigeren Niveau, sogar noch etwas stärker angestiegen ist. Umwelt-, Klima- und Gesundheitsbewusstsein sowie eine bewusste Lebensführung gehen Hand in Hand mit der Haltung, sich bei den eigenen Entscheidungen auch von seinen Gefühlen leiten zu lassen, drei von vier Jugendlichen stufen dies als wichtig ein. Gut in dieses Bild passt auch, dass auch die Respektierung von Vielfalt bei etwas mehr als vier von fünf Jugendlichen mit an der Spitze der Werteliste steht. Die große Bedeutung, die damit einer bewussten und achtsamen Lebensführung beigemessen wird, dürfte auch eine wesentliche Triebkraft dafür sein, dass Jugendliche das eigene politische Engagement wieder höher bewerten: aktuell sind dies 34 %.

Für junge Menschen haben demnach die idealistischen, also die eher sinnstiftenden Wertorientierungen an Bedeutung gewonnen. Gegenläufig ist die Entwicklung bei eher materialistischen Orientierungen, die darauf abzielen, die persönliche Macht- und Durchsetzungskraft zu steigern. Nur jeder dritte Jugendliche betont den Stellenwert, selbst Macht und Einfluss zu haben. Dies sind damit deutlich weniger als diejenigen, denen es wichtig ist, sozial Benachteiligten zu helfen (62 %). Sich und seine eigenen Bedürfnisse gegen andere durchzusetzen ist für jeden zweiten wichtig, und damit ebenfalls für weniger Jugendliche als diejenigen, die Toleranz gegenüber anderen Meinungen betonen (59 %). Dies hat nichts mit fehlender eigener Zielstrebigkeit zu tun. Fast alle Jugendlichen (87 %) reklamieren für sich, die eigenen Ziele und Erfolgsvorstellungen auch in die Tat umsetzen zu wollen, und knapp ebenfalls zwei von drei Jugendlichen halten es für wichtig, mehr zu leisten als die anderen.

Ein hoher Lebensstandard bleibt für zwei von drei Jugendlichen ein relevantes Lebensziel. Im Vergleich zur Shell Jugendstudie von 2015 ist auch hier ein Rückgang feststellbar, allerdings war die Bedeutung dieser Orientierung ab 2010 stärker anstiegen. Aktuell hat sich diese materielle Anspruchshaltung wieder auf das Niveau der Studien von 2002 und 2006 eingependelt. Wertemuster, die Tradition und Konformität kennzeichnen, verlieren an Bedeutung. Es ist der Non-Konformismus, der nach wie vor die Lebensphase Jugend prägt. Noch 2015 hatte es den Anschein, dass die traditionsbezogenen Wertemuster leicht ansteigen würden. Dies hat sich aktuell allerdings wieder umgekehrt.

Junge Frauen als Trendsetter einer bewussteren Lebensführung

Junge Frauen repräsentieren die Veränderungen im Wertekanon besonders deutlich. Ihnen liegen insbesondere die Orientierungen aus dem Wertemuster Bewusste Lebensführung häufiger am Herzen. So halten es fast vier von fünf weiblichen Jugendlichen im Vergleich zu etwas mehr als zwei von drei männlichen Jugendlichen für wichtig, sich unter allen Umständen umweltbewusst zu verhalten. Auch die soziale Orientierung ist bei ihnen stärker ausgeprägt. Hier sind es zwei von drei junge Frauen – im Vergleich zu etwas mehr als jedem zweiten jungen Mann –, die es wichtig finden, sozial Benachteiligten zu helfen. Die Bedeutung eines eigenen politischen Engagements ist bei jungen Frauen ebenfalls angestiegen (34 %) und wird von ihnen jetzt genauso hoch wie von jungen Männern bewertet.

Junge Männer orientieren sich weniger gefühlsbetont und stärker materialistisch als junge Frauen. Deutlich ausgeprägter ist vor allem ihr Wunsch, selbst Macht und Einfluss zu haben. Immerhin mehr als jeder dritte junge Mann, aber nur etwa jede vierte junge Frau halten dies für wichtig. Beim hohen Lebensstandard gehen die Vorstellungen jedoch wieder zusammen: Junge Männer benennen dies zu 65 % und junge Frauen zu 61 %. Junge Frauen lassen es dabei auch keinesfalls an Durchsetzungsanspruch mangeln. Sie schätzen sich als genauso zielstrebig ein wie junge Männer (88%) und finden es für ihre Lebensführung ebenfalls genauso wichtig, sich und ihre Bedürfnisse gegenüber anderen durchzusetzen (49 %).

Diese teilweise unterschiedlich ausgeprägten Akzentuierungen im Wertekanon sollte jedoch nicht so verstanden werden, dass es zwischen weiblichen und männlichen Jugendlichen eine grundlegend andere Orientierung im Sinne eines »tiefen Grabens« geben würde. Die angesprochene pragmatische Grundorientierung charakterisiert die Mehrheit aller Jugendlichen. Die aufgezeigten Unterschiede verweisen aber darauf, dass die in der gesamten Gesellschaft spürbaren Trends einer bewussteren Lebensführung im Kontext mit der gestiegenen Sorge um den Klimawandel erkennbar stärker durch junge Frauen als durch junge Männer befördert werden.

Eine neue Kultur des Engagements?

Die beschriebenen Veränderungen in den Wertorientierungen von Jugendlichen bilden wichtige Anknüpfungspunkte für eigenes gesellschaftliches und auch politisches Engagement. Insbesondere letzteres wurde vor allem beim sogenannten Klimaprotest von »Fridays for Future« in der jüngsten Vergangenheit sichtbar. Seit dem weltweiten Ausbruch der Corona-Pandemie zu Beginn des Jahres 2020 hat sich der Fokus allerdings geändert. Der mit erheblicher medialer Resonanz vorgetragene Protest dieser vor allem von Jugendlichen und dabei von auffällig vielen weiblichen Protagonistinnen getragenen Bewegung ist seitdem öffentlich deutlich rückläufig, was natürlich auch an den im Zuge der Corona-Krise ausgesprochenen Kontaktbeschränkungen liegt. Inwieweit Corona und die damit verbundenen Einschränkungen an dieser Stelle zu einem Bruch bis hin zu einem neuerlichen Wandel in den prägenden Einstellungen führt, kann momentan noch nicht abschließend beurteilt werden. Die von uns in der letzten Shell Jugendstudie von 2019 beschriebenen Veränderungen in den Wertorientierungen lassen allerdings eher Gegenteiliges vermuten. Auch die Corona-Pandemie rückt die bereits im Kontext der Debatte um den Klimawandel aufgekommene Frage in den Vordergrund, welche Lebensführung unter den heutigen globalen Bedingungen eigentlich verträglich ist und wie man sein Leben entsprechend gestalten muss. Nach wie vor offen ist allerdings, ob dies dann auch in der Breite der Jugendlichen zu einem nachhaltigen Engagement, sei es gesellschaftspolitisch oder auch einfach nur im eigenen Umfeld zum Wohle anderer Menschen, führt.

Weitere Informationen zur Shell Jugendstudie


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Autoren

Ulrich Schneekloth ist Sozialwissenschaftler und ist bei Kantar Public Senior Direktor und Leiter des Forschungsbereichs »Familie, Bildung, Bürgergesellschaft«. Er leitet das Kantar Public-Team für die Jugendstudie und forscht zur Lebenslagenforschung, Familie, Kindheit, Generationenbeziehungen, und zu Methoden der empirischen Sozialforschung.

Kontakt: ulrich.schneekloth@kantar.com



Prof. Dr. Mathias Albert ist seit 2001 Professor für Politikwissenschaft an der Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld. Zu seinen Forschungsgebieten zählen sowohl verschie-dene Bereiche der internationalen Politik als auch die Jugendforschung. Prof. Albert ist als Leiter des Autorenteams für die Shell Jugendstudie verantwortlich.

Kontakt: mathias.albert@uni-bielefeld.de


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