Beitrag im Newsletter Nr. 23 vom 18.11.2021

Gemeinsam engagiert

Florian Dünckmann & Jens Reda

Inhalt

Verantwortlichkeiten von Bürger*innen, Politik und Wissenschaft für ländliche Räume
Ein Einblick in laufende Projekte
Bürgerschaftliches Engagement als Politikum
Engagement entsteht selten aus dem Nichts
Abschluss
Autoren
Redaktion

Verantwortlichkeiten von Bürger*innen, Politik und Wissenschaft für ländliche Räume

– Bericht zum Workshop am 23. und 24.09.2021 am Thünen-Institut in Braunschweig –

Im Zuge des gegenwärtigen Wandels ländlicher Lebensbedingungen wird in Politik und Wissenschaft die steigende Bedeutung bürgerschaftlichen Engagements in vielen weiteren Bereichen des alltäglichen Lebens betont. Während dabei die gemeinschaftliche Verantwortung staatlicher und zivilgesellschaftlicher Akteur*innen für die Gestaltung der lokalen Lebensverhältnisse unterstrichen wird, sehen sich viele Engagierte mit einer Vielzahl von Herausforderungen konfrontiert. Im Rahmen des 1,5-tägigen Workshops »Gemeinsam engagiert – Verantwortlichkeiten von Bürger*innen, Politik und Wissenschaft für ländliche Räume« haben Aktive aus der ländlichen Zivilgesellschaft, der ländlichen Engagement- und Förderpolitik und der Wissenschaft die vielfältigen Herausforderungen und Verantwortungsstrukturen bürgerschaftlichen Engagements in ländlichen Räumen diskutiert. Das Ziel des Workshops war es, einen multiperspektivischen Blick auf das ländliche Engagement einzufangen und gemeinschaftlich Perspektiven für dessen erfolgreiche Gestaltung anzuregen.

Konkret interessierten dabei folgende Leitfragen:

• In welcher Weise sind und fühlen sich die Bürger*innen für die Gestaltung der Lebensbedingungen vor Ort verantwortlich?

• Wie werden Ziele und Verantwortlichkeiten auf der lokalen Ebene ausgehandelt und wer ›entscheidet‹, wann und wie etwas gemacht wird?

• Welche Verantwortung tragen politische und wissenschaftliche Akteur*innen und wie können Sie das lokale Engagement von Bürger*innen unterstützen?

Ein Einblick in laufende Projekte

Den inhaltlichen Auftakt des Workshops bildeten schlaglichtartige Einblicke in laufende Forschungsprojekte der gastgebenden Institutionen, die sich aus verschiedenen Perspektiven mit Fragen des bürgerschaftlichen Engagements in ländlichen Räumen beschäftigen. So wird Engagement im Rahmen des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Projektes »Engagement und Alltag« (CAU Kiel, 2018-2022) als eine soziale Praxis gefasst, deren Gestalt und Bedeutung wesentlich von der körperlichen Ausübung konkreter Praktiken sowie den damit verbundenen Erfahrungen und Wahrnehmungen der Engagierten abhängig ist.

Das im Rahmen des Bundesprogramms Ländliche Entwicklung (BULE) geförderte Projekt »Selbst ist das Dorf?« (CAU Kiel/Universität Leipzig, 2021-2023) versteht das Dorf als konkreten Resonanzraum des Engagements, welches einen wichtigen Kontext für engagiertes Tun und damit zusammenhängende Erfahrungen bildet und gleichzeitig durch ebendiese Engagementpraktiken und -erfahrungen gekennzeichnet wird.

Das ebenfalls BULE-geförderte Verbundprojekt »Innovative Ansätze der Daseinsvorsorge in ländlichen Räumen – Lernen von Erfahrungen anderer europäischer Länder« (InDaLE; Thünen-Institut für Ländliche Räume u.a., 2020-2022) untersucht innovative, verstetigte Projekte der Daseinsvorsorgeerbringung im EU-Ausland und ihre Übertragbarkeit auf ländliche Räume in Deutschland. Dabei geraten auch die verschiedenen Umgangsweisen und Anpassungsstrategien tradierter ehrenamtlicher Strukturen in ländlichen Räumen in den Blick.

Das europäisch angelegte und in Teilen von der DFG geförderte Projekt »STAYin(g)Rural« (Thünen-Institut für Ländliche Räume u.a., 2019-2022) interessiert sich hingegen für die unterschiedlichen Formen des Bleibens in ländlichen Regionen, welche bisher eine vergleichsweise geringe Beachtung im wissenschaftlichen Diskurs erfahren haben. Entlang von Wohnbiographien und Vorstellungen über das zukünftige Wohnen werden hier die Zusammenhänge von Zugehörigkeitsgefühlen, Bleibeprozessen und der aktiven Beteiligung am gesellschaftlichen Leben vor Ort analysiert.

Bürgerschaftliches Engagement als Politikum

Im Anschluss an die Präsentation dieser Forschungsprojekte erhielten die Teilnehmer*innen die Möglichkeit, sich und ihre Projekte bzw. Institutionen dem Plenum vorzustellen und in den Austausch mit anderen Teilnehmer*innen zu treten. Den inhaltlichen Abschluss des ersten Workshoptags bildete der Keynote-Vortrag von Dr. Barbara Sutter von der Universität Hamburg. Unter dem Titel »Verantwortung wollen sollen?! Bürgerschaftliches Engagement als Politikum« diskutierte die Soziologin die Entstehung, Besonderheiten und Herausforderungen gegenwärtiger Engagementpolitiken sowie die damit verbundenen Modi der Inverantwortungnahme von Bürger*innen. Im Kontext eines sich wandelnden Wohlfahrtsstaates, der zunehmend auf die Aktivierung (selbst-)verantwortlicher und leistungsbereiter Individuen setze, werde bürgerschaftliches Engagement immer mehr zu einer Praxis, bei der das Gemeinwohl über das Interesse an und die Sorge um sich selbst realisiert werde (»Tue etwas Gutes, um dir selbst etwas Gutes zu tun.«). In der Konsequenz sei der*die Einzelne nicht mehr allein qua Bürgerrecht ein anerkanntes Mitglied der Gesellschaft, sondern müsse sich über die Bereitschaft zu deren Mitgestaltung qua Engagement als »guter Bürger« qualifizieren. In der Diskussion dieses Befundes lenkte das Plenum den Blick u.a. auf Fragen nach der Rolle raumbezogener Gemeinschaften, die in ländlichen Kontexten häufig mit dem Dorf gleichgesetzt werden. Letzteres erscheint als ein spezifischer Ort sozialer Beziehungen, in welche die Bewohner*innen in gewisser Weise aufgrund ihrer physischen Anwesenheit im Dorf eingebettet sind. Aber ist man durch das Leben im Dorf bereits Teil der Dorfgemeinschaft oder besteht auch hier ein moralischer Druck, sich qua Engagement als Teil dieser Gemeinschaft zu qualifizieren?

Engagement entsteht selten aus dem Nichts

Der zweite Tag des Workshops stand im Zeichen des konkreten Austausches unter den Teilnehmenden. Unter der Überschrift »›Neue‹ Personen in gemeinschaftliche Verantwortung bringen« wurde zunächst der Frage nachgegangen, wie es gelingen kann, bisher nicht oder wenig engagierte Personen(gruppen) stärker in lokale Engagementstrukturen einzubinden. Dabei wurde auf die impliziten Regeln dörflichen Lebens und Miteinanders verwiesen, die neben bestimmten Formen der Kommunikation und des nachbarschaftlichen Umgangs oftmals auch Erwartungen einer aktiven Beteiligung am gemeinschaftlichen Dorfleben umfassen. Dementsprechend sei es wichtig, Anlässe für Kommunikation und gegenseitigen Austausch zu schaffen, um bestehende Erwartungshaltungen und Unsicherheiten abzubauen. Engagement sei zwar ein »Integrationsmotor«, entstehe aber selten aus dem Nichts. Es bedürfe vielmehr eines gewissen Grades sozialer Beziehungen unter den Dorfbewohner*innen, die dann über das Engagement verfestigt und erweitert werden können.

Danach stand die »Aushandlung von Verantwortlichkeiten zwischen Bürger*innen, Kommune und Staat« im Fokus der Diskussion. Welche Verantwortung tragen die jeweiligen Akteur*innen für die Gestaltung dörflichen Lebens? Und welche Verantwortung sehen sie bei den jeweils anderen Akteur*innen? Im Ergebnis zeigte sich, dass die zugeschriebenen Verantwortungsgrade an einzelne Akteur*innen sehr unterschiedlich sein können und dass die Rolle des Engagements fallspezifisch zu betrachten sei. Handelt es sich um ein Engagement, das ein bestehendes bzw. drohendes Leistungsdefizit auffängt oder wird durch das Engagement eine qualitative Verbesserung bestehender Leistungen bewirkt? Baut das Engagement auf tradierten (sozialen) Strukturen und Handlungsweisen auf oder werden »neue« Netzwerke und Handlungsansätze etabliert? In diesen Zusammenhängen sei dann auch die Rolle des Staates jeweils unterschiedlich zu bewerten. Es könne nicht pauschal von einer Abwesenheit oder einem Rückzug des Staates gesprochen werden, vielmehr verändere sich die Art und Weise, in welcher sich Bürger*innen und Staat begegnen. Aus (förder-)politischer Sicht sei dabei besonders relevant, dass staatliche Akteur*innen nicht allein als »Regulierer« und »Blockierer« des Engagements erfahren werden.

Abschluss

Die Komplexität des Themenfeldes bürgerschaftlichen Engagements sowie deren vielfältige Schnittmengen mit Fragen der Zugehörigkeit, der Integration und Exklusion sowie der Ausgestaltung dörflichen Lebens waren dann auch zentrale Aspekte in der Schlussrunde des Workshops. In diesem Zusammenhang wurde auch der Wunsch eines stärkeren Erfahrungsaustausches zwischen Wissenschaft und Praxis geäußert, der nicht zuletzt eine Intention des Workshops war.

Der Workshop fand im Rahmen des DFG-geförderten Forschungsprojektes »Engagement und Alltag. Eine Analyse zivilgesellschaftlicher Daseinsvorsorge in ländlichen Räumen aus praktikentheoretischer Perspektive« (CAU Kiel, 2018-2022) statt und wurde in Kooperation mit dem Thünen-Institut für Ländliche Räume (Dr. Annett Steinführer, Franziska Lengerer) organisiert und durchgeführt. Die Organisator*innen danken der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) für die finanzielle Förderung der Veranstaltung und den Kolleg*innen des Thünen-Instituts für die Bereitstellung der Räumlichkeiten und die herzliche Gastfreundschaft vor Ort. Der größte Dank gilt abschließend den Teilnehmer*innen, die den Weg nach Braunschweig auf sich genommen haben und den Workshop mit ihren Beiträgen zu einer gelungenen Veranstaltung gemacht haben.


Beitrag im Newsletter Nr. 23 vom 18.11.2021
Für den Inhalt sind die Autor*innen des jeweiligen Beitrags verantwortlich.

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Autoren

Prof. Dr. Florian Dünckmann ist Professor für Kulturgeographie am Geographischen Institut der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Seine Forschungsschwerpunkte sind Geographie Ländlicher Räume, Politische Geographie, Umweltgerechtigkeit und Praxistheorien.

Kontakt: duenckmann@geographie.uni-kiel.de

Jens Reda ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der AG Kulturgeographie am Geographischen Institut der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen in den Bereichen Entwicklung ländlicher Räume, bürgerschaftliches Engagement und Praxistheorien in der Humangeographie.

Kontakt: reda@geographie.uni-kiel.de


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