Inhalt
Freiwillige spiegeln nicht Diversität der Gesellschaft wider
1. Die Zielgruppenansprache – Diversität hat alle im Blick
2. Die Herausforderung annehmen
3. Diversität braucht ein kohärentes Konzept
Endnoten
Autorin
Redaktion
Freiwillige spiegeln nicht Diversität der Gesellschaft wider
Mittlerweile gehören Auslandsaufenthalte und ehrenamtliches Engagement ganz selbstverständlich in die persönliche Lebensplanung vieler junger Menschen. Die Bandbreite reicht von mehrwöchigen Kurzzeitangeboten, wie etwa internationalen Jugendbegegnungen und Workcamps bis hin zu Langzeitangeboten, wie zum Beispiel internationale Freiwilligendienste. Dass die Teilnehmendenschaft jedoch nicht die Diversität der Gesellschaft widerspiegelt, ist in der Fachwelt seit einigen Jahren Diskussionsthema. Bei den staatlich geförderten internationalen Formaten spricht man beispielsweise von einer relativ homogenen Gruppe mit einem Abiturient_innen-Anteil von rund 90%. Festzuhalten ist, dass es Gruppen gibt, die unterrepräsentiert sind. Dass dies nicht unbedingt am Desinteresse der Jugendlichen aus diesen Gruppen liegt, zeigt die »Studie zu internationalem Jugendaustausch: Zugänge und Barrieren«[1]. Es ergibt sich die Frage: An welchen Stellschrauben muss gedreht werden, damit die Programme und Angebote des Auslandsengagements zugänglicher werden für eine diverse(re) Teilnehmendenschaft?
Am Beispiel von Menschen mit Beeinträchtigung/Behinderung sollen mögliche Antworten auf diese Frage skizziert werden. Zurückgegriffen wird hierzu auf die Erfahrungen der Organisation Behinderung und Entwicklungszusammenarbeit e. V. (bezev), die sich seit vielen Jahren für eine verbesserte Teilhabe von Menschen mit Beeinträchtigung/Behinderung im Auslandsengagement einsetzt. Seit 2008 ist bezev Entsendeorganisation im entwicklungspolitischen Freiwilligendienst »weltwärts« und hat dadurch Erfahrung mit der Entsendung von Freiwilligen mit Beeinträchtigung/ Behinderung in Länder des Globalen Südens gesammelt. Zudem wird seit drei Jahren ein Modellprojekt umgesetzt, das Beratungsangebote für Interessierte mit Beeinträchtigung/Behinderung zu den verschiedenen Möglichkeiten des Engagements im Ausland umfasst. Im Rahmen der wissenschaftlichen Begleitung dieses Projekts durch die INBAS-Sozialforschung GmbH wurden Entsendeorganisationen und Beratungsstellen von Auslandsfreiwilligendiensten befragt, aber auch ehemalige Freiwillige und Interessierte. Ein zentrales Erkenntnisinteresse lag in der Frage, wo mögliche Ansatzpunkte sind, um unterrepräsentierten Gruppen, in diesem Fall Menschen mit Beeinträchtigung/Behinderung, gleichberechtige Teilhabechancen zu bieten.
1. Die Zielgruppenansprache – Diversität hat alle im Blick
»Ich hatte bislang keine Interessenten aus dieser Zielgruppe, habe mich auch nicht aktiv um die Ansprache bemüht« (Zitat aus der Befragung von Entsendeorganisationen)
Alle im Blick zu haben bedeutet, sich über die Diversität und Unterschiedlichkeit von Menschen, ihren Lebenswelten und ihren Bedürfnissen im Klaren zu sein und diese dann konkret anzusprechen und wahrzunehmen. In der Umsetzung bedarf es einer Ansprache und Aufbereitung der Informationen, die bei der Zielgruppe auch ankommt. Wie in der Begleitforschung deutlich wurde, sind Entsendeorganisationen grundsätzlich an einer diversen Teilnehmendenschaft interessiert, jedoch wird selten eine entsprechende Zielgruppenansprache umgesetzt.
»Vermutlich wissen viele Menschen mit Behinderung nicht, dass es diese Möglichkeiten auch für sie gibt.« (Zitat aus der Befragung von Entsendeorganisationen)
Ein weiterer Faktor, den es zu bedenken gibt, sind Ausgrenzungs- und Diskriminierungserfahrungen von Menschen mit Beeinträchtigung/Behinderung, die dazu führen können, sich von Angeboten, die sich pauschal an »alle« richten, nicht angesprochen zu fühlen. Es geht darum, dass sich Personen aus der Zielgruppe – in diesem Fall Menschen mit Beeinträchtigung/Behinderung – in dem Angebot wiederfinden. Durch die jahrzehntelange Trennung in Regel- und Sonderstrukturen sind Parallelstrukturen im Bildungssektor für Jugendliche mit und ohne Beeinträchtigung/Behinderung entstanden, die in die Lebensrealitäten hineinwirken und die es notwendig machen, proaktiv junge Menschen mit Beeinträchtigung/Behinderung aufzusuchen, anzusprechen und zu informieren.
2. Die Herausforderung annehmen – inklusives und diversitätsorientiertes Arbeiten ist ein bewusster Prozess
»Wir haben Zweifel, dass wir das leisten können.« (Zitat aus der Befragung von Entsendeorganisationen)
In den Befragungen zeigte ein Großteil der Entsendeorganisationen und Beratungsstellen die Bereitschaft, inklusiv zu beraten und zu entsenden. Allerdings wurde der generellen Bereitschaft nicht selten der Mehraufwand inklusiver Beratung und Begleitung entgegengesetzt. Die ohnehin hohe Arbeitsdichte und begrenzte personelle Ressourcen macht es Organisationen schwer, sich mit einem neuen und strukturverändernden Thema zu befassen. Um eine Diversifizierung der Teilnehmendenschaft im internationalen Freiwilligenbereich auf den Weg zu bringen, ist ein wichtiger Schritt, Organisationen so auszustatten, dass sie eine inklusive Öffnung mittragen können. Neben der finanziellen Ausstattung, die Thema des nächsten Absatzes ist, müssen Mitarbeitende von Organisationen entsprechend sensibilisiert und geschult sein, um sich zuzutrauen, in diesen Prozess einzusteigen. bezev macht die Erfahrung, dass es wesentlich ist, Mitarbeitenden von Organisationen das Prozesshafte des inklusiven Konzepts zu vermitteln. Es geht darum, dort anzufangen, wo die Organisation auf anschlussfähige Strukturen zurückgreifen kann, um dann Schritt für Schritt weiterzugehen.
3. Diversität braucht ein kohärentes Konzept – konsequent inklusive Programmleitlinien und finanzielle Ausstattung sind ein Muss
»Die Dienste sollten eigentlich ganz normal alle Menschen gleichbehandeln und wo erhöhter Hilfebedarf da ist, diesen auch finanziell ausgleichen, damit Teilhabe möglich ist.« (Zitat aus der Befragung von Entsendeorganisationen)
Damit gleichberechtigte Teilhabechancen realisiert werden können, ist ein kohärentes Herangehen gefragt: Die Programmformate und die bestehenden Strukturen sollten auf Hürden und Barrieren durchleuchtet und die verschiedenen Lebensrealitäten junger Menschen in den Blick genommen werden, um dann eine entsprechende Anpassung der Programmleitlinien machen zu können. Dass Inklusion und Diversität ohne finanzielle Mittel nicht möglich sind, liegt auf der Hand. Mit der Finanzierung von Bedarfen von Freiwilligen mit Beeinträchtigung/Behinderung, wie z. B. Assistenzen und Gebärdenverdolmetschung im weltwärts-Programm, wurde schon ein großer Schritt gemacht. Auch die Strategie des Europäischen Solidaritätskorps zur Einbeziehung junger Menschen mit geringeren Chancen ist ein Statement für Vielfalt. Damit inklusives Arbeiten möglich ist, müssen auch personelle Ressourcen für die Ansprache, Beratung und pädagogische Begleitung in die finanzielle Ausstattung mit einkalkuliert werden.
Der Wunsch von einer diversen Teilnehmendenschaft in den verschiedenen Programmen des Auslandsfreiwilligendiensts ist löblich. Nun müssen auf die wissenschaftlich gewonnenen Erkenntnisse konkrete Schritte folgen, um die bestehenden Hürden abzubauen und bislang unterrepräsentierte Zielgruppen zu erreichen. Dies ist ein längerfristiger Veränderungsprozess, da neben der Anpassung der Rahmenbedingungen der Formate auch tief verankerte gesellschaftliche Denk- und Handlungsmuster aufgebrochen werden müssen.
Endnoten
[1] Broschüre »Die Zugangsstudie - Ergebnisse des Forschungsprojektes«, Forschung und Praxis im Dialog – Internationale Jugendarbeit (FPD) 2019
Beitrag im Newsletter Nr. 23 vom 19.11.2020
Für den Inhalt sind die Autor*innen des jeweiligen Beitrags verantwortlich.
Autorin
Regina Fuchs ist Projektkoordination für Inklusives Auslandsengagement bei Behinderung und Entwicklungszusammenarbeit e. V. (bezev).
Kontakt: fuchs@bezev.de
Weitere Informationen: bezev
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