Beitrag im Newsletter Nr. 24 vom 1.12.2022

Mehr Inklusion in Freiwilligendiensten

Hanna Schüßler

Inhalt

Abstract
Inklusive Freiwilligendienste möglich machen
Herausforderungen inklusiver Freiwilligendienste für und mit gehörlosen jungen Menschen der Gebärdensprachgemeinschaft
Inklusion auch im Alltag leben
Netzwerke
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Redaktion

Abstract

Alle jungen Menschen sollen die Möglichkeit haben, an einem Freiwilligenprojekt des Europäischen Solidaritätskorps teilzunehmen. Für hörbeeinträchtigte junge Menschen ist der Einsatz im europäischen Ausland mit zusätzlichen Hürden verbunden. Drei engagierte junge Menschen und zwei Projektträger*innen haben die Herausforderung angenommen und damit Lernprozesse auf zahlreichen Ebenen in Gang gesetzt.

Inklusive Freiwilligendienste möglich machen

Seit der Einführung des Europäischen Solidaritätskorps (ESK) im Jahr 2018 kommt dem Thema »Inklusion und Vielfalt« in dem EU-Programm besondere Bedeutung zu. Als inklusives Programm will das Europäische Solidaritätskorps allen jungen Menschen die gleichen Teilhabemöglichkeiten bieten. Unabhängig von ihrer individuellen Ausgangslage sollen sie die Möglichkeit haben, sich in Freiwilligen- und Solidaritätsprojekten zu engagieren. In der aktuellen Förderperiode 2021-2027 wird dem inklusiven Anspruch noch einmal Nachdruck verliehen. Dafür sollen unter anderem ein Durchführungsbeschluss der Europäischen Kommission über den Rahmen von Inklusionsmaßnahmen in den EU-Programmen Erasmus+ und Europäisches Solidaritätskorps und eine neue übergeordnete Inklusions- und Diversitätsstrategie für beide Programme sorgen.

Zwar wurden schon im Europäischen Freiwilligendienst unter dem Vorgängerprogramm Erasmus+ JUGEND IN AKTION Maßnahmen für eine größere Diversität der Teilnehmenden ergriffen. Doch insbesondere junge Menschen mit Beeinträchtigungen und Behinderungen sind heute im individuellen Freiwilligendienst im ESK – wie auch in anderen Freiwilligendienstprogrammen – noch deutlich unterrepräsentiert. Es gibt jedoch Vorreiterprojekte, die zeigen, wie inklusive Freiwilligendienste ermöglicht werden können. Sie zeigen dabei gleichzeitig fortbestehende Hürden und Handlungsbedarfe auf – so auch zwei Projekte der Internationalen Jugendgemeinschaftsdienste e. V. (IJGD) Berlin und des Gehörlosenverband München und Umland e. V. (GMU). Hier engagieren sich gehörlose Freiwillige aus dem europäischen Ausland.

Bereits 2018 bot der GMU einem jungen Mann aus Slowenien einen Einsatz in der eigenen Einrichtung an. Samo erhielt dort Einblick in alle Arbeitsbereiche, darunter die Vermittlung von Dolmetschenden für Gebärdensprache, den Sozialdienst und die Gebärdensprachschule, in der er auch Deutsche Gebärdensprache lernte. Trotz einiger Herausforderungen, wie der Kostenübernahme für Gebärdensprachdolmetschende bei Arztbesuchen, waren sowohl der Verband als auch Samo mit der Erfahrung sehr zufrieden.

Andersherum lief es bei Johanna, einer tauben Studentin aus Bayreuth. Auf der komplizierten Suche nach einer Organisation, die ihr die Teilnahme an einem Freiwilligenprojekt im europäischen Ausland ermöglichen würde, war sie schließlich bei den IJGD Berlin erfolgreich. Ohne vorherige Erfahrung mit gehörlosen Teilnehmenden und Kommunikation in Gebärdensprache begaben sie sich auf die Suche nach Projektpartner*innen und wurden in Turin fündig, wo sie seither mit einem Gehörloseninstitut zusammenarbeiten.

Zusätzlich zur Entsendung von Johanna nahmen sie Marco aus Turin auf und machten erste Erfahrungen mit der inklusiven Gestaltung eines Freiwilligendienstprojekts mit Teilnehmenden aus der Gehörlosengemeinschaft. Marco arbeitete in einer inklusiven Grundschule, schloss Freundschaften in seiner Freiwilligen-Wohngemeinschaft (WG) sowie darüber hinaus und knüpfte Kontakte zur Berliner Gehörlosengemeinschaft. Insgesamt verlief das »Tandem-Projekt« sehr gut. Johanna und Marco waren glücklich mit ihren Einsätzen und konnten sich untereinander über die Erfahrungen im jeweils anderen Land austauschen und sich gegenseitig unterstützen. Zudem freundeten sie sich über die Distanz an.

Gleichzeitig wurden in diesen Learning-by-Doing-Projekten Hürden und Herausforderungen offenbar, die mit einer inklusiven Projektgestaltung einhergehen. Für JUGEND für Europa war es von großem Wert, dass sowohl die IJGD und der GMU als auch Johanna und Marco ihre Erfahrungen teilten. Dadurch konnte auch die Nationale Agentur dazulernen, wie Projektträger*innen und die Gehörlosengemeinschaft bei der Gestaltung zukünftiger inklusiver Freiwilligenprojekte besser unterstützt werden können. Dieses Wissen ist nicht zuletzt bei der Bearbeitung von Förderanträgen relevant, in der auch die finanziellen Bedarfe und die Inklusionsförderung von inklusiven Projekten bewertet und bewilligt werden.

Herausforderungen inklusiver Freiwilligendienste für und mit gehörlosen jungen Menschen der Gebärdensprachgemeinschaft

Dass junge Menschen mit Hörbeeinträchtigungen im europäischen Ausland vor größeren Kommunikationshürden stehen als Hörende, ist offensichtlich. Nicht nur im schriftlichen Austausch mit Projektträger*innen und Einsatzstellen muss eine Fremdsprache – zunächst meist Englisch – genutzt werden. Für den Alltag in Deutschland sollten die Freiwilligen sich darüber hinaus Kenntnisse in deutscher Schriftsprache und möglichst in Deutscher Gebärdensprache aneignen. Bei der Gebärdensprache handelt es sich, anders als häufig angenommen, keineswegs um eine Universalsprache. Vielmehr haben sich, ähnlich den Lautsprachen, in unterschiedlichen Regionen und Ländern unterschiedliche Gebärdensprachen herausgebildet.

Gebärdensprachkurse in Deutschland wiederum richten sich fast ausschließlich an Hörende, sodass Unterricht für gehörlose Ausländer*innen individuell organisiert werden muss. Zudem haben nicht alle Gehörlosen Zugang zu ihren nationalen Gebärdensprachen und zu adäquaten Bildungsmöglichkeiten, was die Verständigung zusätzlich erschweren kann. Nicht zuletzt wird das Erlernen der fremden Gebärdensprache dadurch erschwert, dass die jungen Menschen der Sprache nicht stetig im Alltag begegnen, wie es mit deutscher Lautsprache für hörende Lernende der Fall ist.

Zur internationalen Kommunikation wird vor allem die Pidgin-Sprache International Sign Language genutzt. Für einen leichteren Einstieg der Freiwilligen ist es von Vorteil, wenn sowohl Schriftsprachkenntnisse in Englisch als auch Kenntnisse in International Sign Language vorliegen. Letzteres steht jedoch keineswegs auf dem Lehrplan von (Förder-)Schulen für gehörlose Menschen. Unterschiedliche Ausprägungen der internationalen Gebärdensprache werden eher auf informellen Wegen erlernt, z. B. durch internationale Erfahrungen und die Medien. Dies wiederum bedeutet, dass ein Auslandsfreiwilligendienst deutlich einfacher für junge gehörlose Menschen zu realisieren ist, die ohnehin über einen guten Bildungshintergrund verfügen und schon internationale Erfahrungen sammeln konnten.

Nicht in allen Situationen ist die Kommunikation in Schrift- oder Gebärdensprache als selbstverständlich gegeben. Zu zahlreichen Gelegenheiten muss daher Gebärdensprachdolmetschung organisiert werden, um eine adäquate Kommunikation und gleichberechtigte Teilhabe gehörloser Freiwilliger zu gewährleisten. Das betrifft je nach Einsatzstelle Mentoring-Situationen, Teamtreffen und Personalgespräche, Arztbesuche, die Begleitseminare im Freiwilligendienst und mehr.

Je nach Einsatzort ist es nicht einfach, Dolmetschende zu finden, insbesondere, da gerade zu Beginn des Freiwilligendienstes eher seltene Sprachkombinationen benötigt werden, z. B. Deutsch/Englisch-International Sign. Dies muss somit meist sehr vorausschauend geplant werden – zumal für mehrtätige Seminare, bei denen auch die Kommunikation in den informellen Situationen nicht zu kurz kommen sollte. Selbstverständlich sind damit zudem Kosten verbunden, die im Europäischen Solidaritätskorps im Rahmen der Inklusionsförderung zu hundert Prozent übernommen werden können. Besonders hilfreich ist in diesem Zusammenhang die Möglichkeit, für erst im Verlauf des Projekts offenbar werdende Kosten Förderung nachbeantragen zu können. Der erhöhte administrative Aufwand für die Projektträger*innen kann mit der vorhandenen Inklusionspauschale bisher jedoch kaum ausgeglichen werden.

Trotz der genannten Herausforderungen hat sich in den bisherigen Projekten gezeigt, dass die Verständigung letztlich gelingt, wenn alle Beteiligten sich mit Interesse und Offenheit begegnen.

Inklusion auch im Alltag leben

Nicht zuletzt gehört es zu jedem Freiwilligendienst dazu, in die Alltagskultur des Gastlandes einzutauchen, Freundschaften zu schließen und neben der Arbeit die eigene Freizeit zu gestalten. Auch dies ist für taube Freiwillige mit Kommunikationshürden verbunden. Somit sind Projektträger*innen, Einsatzstellen und vor allem die Mentor*innen gehörloser Freiwilliger gefragt, hier besonders zu unterstützen und die jungen Menschen auf möglichst inklusive und attraktive Freizeitangebote hinzuweisen.

Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang das Vorhaben der IJGD, den hörenden WG-Mitgliedern ihrer gehörlosen Freiwilligen in Zukunft Gebärdensprachkurse anzubieten. Dadurch wird der inklusive Ansatz gleich auf mehreren Ebenen gelebt und die Freiwilligengemeinschaft ebenfalls für das Thema sensibilisiert. Für einen erhöhten Aufwand in der Begleitung und Betreuung von Freiwilligen kann im Europäischen Solidaritätskorps auf die zusätzliche Förderung durch eine Inklusionspauschale zurückgegriffen werden.

Auch ist es für taube junge Menschen ein Mehrwert, Kontakte mit der Gehörlosengemeinschaft vor Ort knüpfen zu können. Das wiederum hat den positiven Nebeneffekt, die Kenntnis über Freiwilligendienstprogramme und den europäischen Gedanken in der Gemeinschaft zu verbreiten. So besuchte Marco während seines Aufenthalts in Berlin regelmäßig das Jugendzentrum der Organisation Sinneswandel, einer Ausgründung der Gesellschaft zur Förderung der Gehörlosen in Berlin e. V., die in ihren Einrichtungen heute selbst europäische Freiwillige der IJGD beschäftigt und sich freut über die neuen Impulse, die diese dort einbringen.

Netzwerke

Die obigen Ausführungen machen bereits deutlich, wie wichtig Netzwerke für die inklusive europäische Jugendarbeit sind. Auf lokaler Ebene können darüber Projektträger*innen und Einsatzstellen zusammenfinden, um gemeinsam inklusive Projekte zu realisieren. Auch kann dadurch bei der Projektgestaltung gegebenenfalls auf die Expertise von Selbstvertretenden und erfahrenen Organisationen zurückgegriffen werden, was den Umgang mit Herausforderungen und inklusiver Projektgestaltung anbelangt. Nicht zuletzt spielen lokale Netzwerke für die soziale Integration der Freiwilligen vor Ort eine Rolle.

Lokale und nationale Netzwerke bieten zudem die Möglichkeit des Erfahrungsaustauschs unter Projektträger*innen und Einsatzstellen. Gleichzeitig bieten sie Plattformen, um junge Leute und Organisationen auf die Möglichkeiten von Freiwilligendienstprogrammen aufmerksam zu machen.

Nicht zuletzt sind für das Europäische Solidaritätskorps europäische Netzwerke von Bedeutung, damit Entsende- und Aufnahmeorganisationen jeweils Partnerorganisationen im Ausland finden und Freiwilligendienstplätze in Projekten nicht unbesetzt bleiben. 2021 veranstaltete JUGEND für Europa daher gemeinsam mit europäischen Partneragenturen für das Europäische Solidaritätskorps eine Partnership-Building Activity, in der Organisationen und Vertretende der Gehörlosengemeinschaft und der europäischen Jugendarbeit aus acht Ländern zusammenkamen und sich über Projektideen austauschen konnten. Die Online-Veranstaltung mit Dolmetschung in International Sign Language und ungarische Gebärdensprache war eine weitere Lernerfahrung für alle Beteiligten. Zudem sind daraus erste Partnerschaften und neue Freiwilligendienstprojekte entstanden.

In Deutschland bieten sowohl der GMU als auch die IJGD seit dem letzten Jahr wieder bzw. weiterhin Freiwilligendienste für gehörlose junge Menschen an und haben vor, dieses Angebot in den nächsten Jahren fortzuführen. Mit jedem neuen Einsatz lernen die Einsatzstellen, Projektträger*innen und wir als Nationale Agentur für das Europäische Solidaritätskorps stetig dazu und tragen zu mehr Inklusion und Vielfalt in der Freiwilligendienstlandschaft bei.


Beitrag im Newsletter Nr. 24 vom 1.12.2022
Für den Inhalt sind die Autor*innen des jeweiligen Beitrags verantwortlich.

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Hanna Schüßler arbeitet als Fachreferentin Inklusion und Vielfalt bei JUGEND für Europa.

Kontakt: schuessler@jfemail.de


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