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Interview
Das Interview führten für das BBE Theresa Spreckelsen, Leitende Referentin Onlineredaktion, und Anna Wegenschimmel, Referentin »Engagierte Stadt / Engagiertes Land«.
BBE-Newsletter: Lieber David Adler, vielen Dank, dass wir uns heute treffen und über eure Arbeit im Kulturlandbüro sprechen können. Hauptsächlich gefördert vom Bundesprogramm TRAFO – Modelle für Kultur im Wandel habt ihr euren Sitz auf Schloss Bröllin, einem Produktionszentrum für darstellende Künste an der deutsch-polnischen Grenze in Mecklenburg-Vorpommern (MV). Inwiefern trägt nach eurem Verständnis das Kulturlandbüro zur Stärkung von bürgerschaftlichem Engagement im ländlichen Raum bei?
David Adler: Meine fünf Kolleginnen und ich haben seit der Gründung des Kulturlandbüros im Jahr 2020 eine Netzwerk-, Beratungs- und Kommunikationsstelle für Kultur im ländlichen Raum eingerichtet. Wobei wir unsere Netzwerkarbeit ganz wesentlich mittels partizipativer Kunstformate umsetzen und anstoßen.
Kultur im ländlichen Raum wird überwiegend durch Ehrenamtler*innen umgesetzt. Von 48 Gemeinden in unserer Projektregion in MV werden 43 ehrenamtlich geleitet. Das heißt, das ehrenamtliche Engagement fängt beim Bürgermeister oder der Bürgermeisterin an und zieht sich weiter in die Vereine. Insofern arbeiten wir fast ausschließlich mit ehrenamtlich Engagierten zusammen, sprechen aber alle an, die mit Kultur zu tun haben. Dies zieht auch einen erweiterten Kulturbegriff nach sich.
BBE-Newsletter: Wie würdest du dann den Kulturbegriff in »Kultur«-landbüro definieren?
David Adler: Ich würde Kultur immer im weiteren Sinne definieren. Wir unterstützen das Zusammenleben vor Ort, indem wir Kunstprojekte initiieren, begleiten und fördern. Und wenn im Dorf das Zusammenleben wesentlich durch die Arbeit der Jugendfeuerwehr geprägt ist, ist das eine Kultur, die wir unterstützen. Im Vordergrund steht, unbedingt eine inkludierende und keine exkludierende Gemeinschaft zu schaffen und das hat sehr viel mit Kultur zu tun: Wie redet man und wo redet man (Stichwort »Dritte Orte«) und für welche Aktivitäten treffen sich die Menschen? Das ist ganz eng verbunden mit Kultur. »Gemeinschaft stärken durch Kultur« ist unser Slogan.
BBE-Newsletter: Wie kann man sich eure Arbeit konkret vorstellen, wie startet ihr die Zusammenarbeit mit einer Gemeinde?
David Adler: Wir beginnen mit Eins-zu-eins-Gesprächen mit den Bürgermeister*innen, gehen also proaktiv zu den Menschen vor Ort. Zweitens: Wir hören zu. Und drittens: ohne Forderungen zu stellen. Wir sind komplett offen, um die ersten Potenziale und Herausforderungen der Gemeinden zu erfahren und die Wünsche zu hören. Mittlerweile – nach Abschluss einiger partizipativer Formate – sind viele neue Netzwerke entstanden oder vorhandene wiederbelebt worden. Wir haben immer noch sehr viel mit den Gemeinden zu tun, allerdings längst nicht mehr nur mit dem Bürgermeister oder der Bürgermeisterin. Unsere Ansprechpartner*innen sind viele aktive Kreative, die ihre Ideen und Vorhaben mit uns besprechen.
BBE-Newsletter: Ein wichtiger Baustein eurer Arbeit ist die Vernetzung dieser »aktiven Kreativen«. Wie geht ihr hier vor?
David Adler: Genau. Konkret sammeln wir alle Wünsche und Angebote und bilden sie im Sinne eines schwarzen Brettes ab – immer stärker auch mittels digitaler Tools. Über einen Newsletter verbreiten wir unsere partizipativen Formate und die daraus entstehenden Veranstaltungen. Zusätzlich bilden wir das, was es vor Ort gibt, in unserer Kulturlandschatzkarte ab. Das ist ja die Basis, um sich vernetzen zu können: zu wissen, was und wen es wo gibt. Oft ist das schon ein Dorf weiter nicht bekannt.
BBE-Newsletter: Was sind neben der Vernetzung der Kreativen und den partizipativen Projekten – über die wir gleich noch genauer sprechen – weitere Serviceleistungen des Kulturlandbüros?
David Adler: Daneben gibt es die mobilen Beratungen, hier helfen wir ganz konkret und individuell bei der Projektentwicklung: Wir gehen hin, hören zu, geben Tipps zu Förderprogrammen und helfen auch bei der Antragstellung. Ein weiterer wichtiger Pfeiler ist die Beratung zu Vereinsgründungen, wofür wir eng auch mit der Ehrenamtsstiftung MV zusammenarbeiten. Unser Alltag ist also zusammengefasst: sammeln, vernetzen, abbilden, beraten und natürlich die partizipativen Projekte umsetzen.
BBE-Newsletter: Ihr seid alle keine Ortsansässigen – hattet ihr Probleme, in der Region angenommen zu werden? Seid ihr oft dem Vorwurf ausgesetzt, den Menschen vor Ort euren (Berliner) Kunstbegriff aufzuzwingen?
David Adler: Nein. Da kann ich ganz klar sagen: Es ist egal, wo wir herkommen. Es geht nur um die passende Haltung, das heißt: das offene, ehrlich-interessierte Zuhören. Wenn ich in ein Dorf komme, wertschätzend bin, zuhöre und die Menschen ernst nehme, dann kann ich aussehen und herkommen, wie bzw. woher ich will. Völlig egal. Die Menschen, die da nicht akzeptiert werden, akzeptieren die Menschen vor Ort nicht.
BBE-Newsletter: Dann nun endlich zu den partizipativen Projekten, genauer zu eurem Format der sogenannten »Dorfresidenzen«. Könntest du erklären, was das ist?
David Adler: Im Vordergrund steht der aktive Austausch mit den Menschen vor Ort – der Künstler oder die Künstlerin setzt Kunstprojekte gemeinsam mit den Bürger*innen um. Das ist der Unterschied zu klassischen Künstler*innenresidenzen, wo Künstler*innen einfach an einem Ort wohnen, um dort ihre Kunst zu machen.
BBE-Newsletter: Und wie werden die Künstler*innen ausgewählt? Partizipative Kunst ist – besonders im ländlichen Raum – sehr anspruchsvoll und liegt auch nicht jedem.
David Adler: Es gibt einen Open Call für Künstler*innen, wobei bis zu 180 Bewerbungen pro Jahr eingehen. Aus diesem Pool wählt eine Jury geeignete Künstler*innen aus den Sparten Literatur, Film, Tanz, Performance, Bildende Kunst etc. aus, wobei neben der künstlerischen Qualität auch die Offenheit für partizipative Formate im Vordergrund steht: Spürt man, dass die Künstler*innen Lust darauf haben, mit den Menschen in Kontakt zu treten? Und sind sie dazu auch in der Lage? Unser Jury-Mitglied Julia Novacek hat das mal sehr schön auf den Punkt gebracht: »Wir suchen Leute, die sich mit einem tollen Projekt vorstellen, aber bereit sind, am ersten Tag das Projekt über Bord zu werfen und ganz neu anzufangen, wenn sie spüren, der Ort braucht jetzt was anderes.«
Parallel bewerben sich Gemeinden für eine Dorfresidenz, wobei die Jury darauf achtet, dass eine möglichst diverse Gruppe dahintersteht.
In einem dritten Juryentscheid kommt die Vorauswahl der Künstler*innen zu den ausgewählten Gemeinden, woraufhin die Gemeinden letztendlich selbst auswählen, wer zu ihnen ins Dorf kommt. Das können Einzelkünstler*innen oder Gruppen sein.
BBE-Newsletter: Warum ist es euch so wichtig, dass die Gemeinde selbst entscheidet, mit wem sie ein Projekt umsetzen wollen?
David Adler: Weil hier von Anfang an eine Aushandlung stattfindet, bei der eine Alternative zu den demokratisch gewählten Gremien aufgemacht wird. Vor der Entscheidung ist ja bereits ein halbes Jahr lang Reflexion passiert – auf Wunsch gehen wir zum Beispiel auch in Gemeindeversammlungen und stellen das Format noch einmal vor.
Diesen Jury-Prozess durchzuführen, ist ganz entscheidend in unseren Augen, weil eine Dynamik entsteht, sich möglichst viel schon im Vorfeld mit Kunst auseinandersetzen und auch eine Diskussion über die Legitimität solcher Entscheidungen entsteht. Deswegen ist es wichtig, dass der*die Bürgermeister*in auch mit dabei ist und, dass diese Projekte intensiv von uns begleitet und moderiert werden.
BBE-Newsletter: Und wenn das Matching abgeschlossen ist zwischen Gemeinde und Künstler*in …?
David Adler: … dann leben die Kunstschaffenden vier bis sechs Monate in der Gemeinde, wobei sie ein Budget, ein monatliches Honorar aus unseren Projektmitteln für den Aufenthalt sowie im besten Fall eine Wohnung von der Gemeinde gestellt bekommen.
BBE-Newsletter: Wie reibungsvoll oder reibungslos läuft die Partizipation dann ab?
David Adler: Dadurch, dass die Menschen selbst entscheiden, wer an ihren Ort kommt, ist Partizipation grundsätzlich bereits gewährleistet. Alle wissen davor, dass sie auch selbst aktiv mitwirken müssen. Probleme entstehen trotzdem in diesen Prozessen. Bei diesen Projekten tritt sehr viel zutage. Unsere Erfahrung hat uns gezeigt: Es sind immer die gleichen Phasen. Nach zwei Monaten ist absolute Depression – Leute springen ab, die Künstler*innen finden uns scheiße, der Bürgermeister findet uns scheiße und es gibt richtig Ärger. Das ist aber auch eine Stärke dieser Projekte: Wer sich so über Kunst streitet, der nimmt sie total ernst. Und warum wird sie ernst genommen? Weil diese Kunst als Gefäß für die Belange der Menschen, die sie in ihrem Alltag haben, dient. Kunst hat hier wirklich eine Katalysator-Funktion und bringt ganz viele Themen auf den Tisch!
Auf der anderen Seite ist das auch extrem anstrengend und dynamisch und diese Konflikte sind manchmal schwer auszuhalten. Da braucht es sehr viel Moderation unsererseits. Wir standen auch schon kurz davor, Projekte abzubrechen, es kam dann aber nie dazu.
BBE-Newsletter: Klingt nach vielen Verhandlungen, bei denen auch mit persönlichen Befindlichkeiten umgegangen werden muss. Worin liegt hier der Mehrwert?
David Adler: Es ist ein sehr schwieriger Prozess und die Partizipation ist wirklich nur qualitativ erfassbar. Es steht nicht im Zentrum, wie viele Menschen beim ersten Treffen dabei waren. Wenn sich am Ende zwei bis drei Menschen eingebracht haben, die vorher nie aktiv waren, weil sie sich nicht getraut haben, wenn diese Menschen durch so ein Projekt gewonnen wurden, sich auch im Nachhinein intensiv im Dorf zu engagieren, Leute zusammenzubringen, Aktionen auf die Beine zu stellen, dann ist uns das wesentlich mehr wert als 5.000 Leute, die zur Abschlussveranstaltung kommen. Wenn über die Dorfresidenz hinaus Gemeinschaft belebt wird, dann ist das ein ganz großer Effekt.
BBE-Newsletter: Hast du Beispiele von Projekten, die nachhaltig gewirkt haben? Was bleibt denn, wenn die Dorfresidenz zu Ende ist und die Künstlerin oder der Künstler wieder »auszieht«?
David Adler: Alle unsere Residenzen haben Wirkungen erzeugt. Der Schwung und die Dynamik der abschließenden Kunstprojekte will eigentlich immer bewahrt werden, da steckt ja auch ganz viel Herzblut dahinter. Es kann sich direkt im Anschluss oder auch erst ein Dreivierteljahr später etwas ergeben. Ein Beispiel ist die Gemeinde Nieden, unsere erste Residenz, aus der heraus eine Initiative für einen Dorfkulturverein entstand, dessen Gründung wir begleitet haben. Der Verein ist die Basis für das zukünftige Gemeinschaftsleben geworden. In Pasewalk hat die Künstlerin barbara caveng während ihrer Residenz einen Leerstand belebt und dadurch sind Aktive auf die Idee gekommen: »Hey, das machen wir jetzt selber« und haben das nach Abschluss der Residenz selbst in die Hand genommen.
Oder im Rahmen eines anderen Formates – der Kulturlandschau – ist ein Projekt entstanden, in dem Jugendliche ältere Menschen für einen eigenen Film interviewt haben. Da kam es zu einem ganz neuen Erfahrungsaustausch, der darin gipfelte, dass die Jugendlichen über ein Jahr lang der Gemeindevertretung auf den Geist gegangen sind und nun wirklich einen Jugendclub gegründet haben.
BBE-Newsletter: In all diesen Beispielen spielt der Aspekt der Mitgestaltung und Selbstwirksamkeit auch eine große Rolle.
David Adler: Genau. Und auch viel politische Bildung. Die Frage zu verhandeln: Was kann ich in meinem Ort bewirken? Und da waren die konkreten Auswirkungen jetzt in unseren Fällen Vereinsgründungen, Leerstandsbelebung, Jugendclub-Gründungen, aber auch Erzählcafés in einem Projekt von Sabrina Dittus.
BBE-Newsletter: Warum ist hier ausgerechnet die Kunst eurer Meinung nach das richtige Mittel zum Zweck?
David Adler: Ich mach es mal ganz kurz und dicht: Kunst ist ein unverfängliches Thema. Da ist nicht so viel Schwere drin wie zum Beispiel bei »Die Feuerwehr braucht neue Uniformen, die Straße muss gebaut werden«. Auch wenn es prinzipiell nicht gut ist, dass Kunst auf kommunaler Ebene eine freiwillige Leistung ist, birgt es in dieser Hinsicht auch eine Stärke, weil es irgendwie leicht ist. Oder umgekehrt: Mit Reden allein gewinnt man die Leute nicht. So richtig in Kontakt kommt man immer erst, wenn man etwas gemeinsam tut. Das ist gemeinschaftsstiftend.
Dazu kommt, dass die Künstler*innen niemals nach Defiziten fragen, sondern immer nach Potenzialen und Möglichkeiten. So eine positive Grundstimmung über sechs Monate hinweg in einem Dorf zu haben, löst ganz viel aus. Diese Projekte bringen (quasi durch den Umweg über die Kunst) massiv viel in Bewegung.
BBE-Newsletter: Glaubst du, dass das Konzept des Kulturlandbüros auch auf andere Bundesländer übertragbar wäre? Weißt du von anderen Ländern, die ähnliche Konzepte haben? Oder ist das spezifisch für Mecklenburg-Vorpommern?
David Adler: Auch wenn die regionalen Besonderheiten projektseitig unbedingt in den Blick genommen werden müssen, gibt es große Ähnlichkeiten der ländlichen Räume. Einer der Bürgermeister bei uns stammt ursprünglich aus Friesland und hat uns gesagt, dass die Bedingungen dort ganz ähnlich sind. Warum soll da ein Kulturlandbüro nicht auch viel bewirken können? Am Kulturlandbüro ist besonders, dass wir Netzwerkarbeit mit partizipativen Kunstprojekten verbinden. Das gibt es meines Wissens in Deutschland sonst nicht.
BBE-Newsletter: Zum Abschluss: Was wären drei Wünsche an die Landkreisebene, das Land Mecklenburg-Vorpommern und den Bund bezüglich Kultur im ländlichen Raum?
David Adler: Der erste Wunsch ist, dass jeder Landkreis oder jede Region so eine Netzwerkstelle finanziert. Diese sollte meiner Meinung nach über die Landkreise finanziert werden, aber nicht direkt dort angesiedelt sein, um eine größere Flexibilität und Mobilität zu ermöglichen. Und um Vertrauen bei bestimmten Menschen zu generieren, die vielleicht mit der Verwaltung Probleme haben. Also eine Stelle komplementär zur Verwaltung.
Der zweite Wunsch ist, dass flächendeckend anerkannt wird, dass Kulturarbeit und politische Bildungsarbeit essentiell zusammenhängen. Gerade in ländlichen Räumen ist Geld, das in partizipative Kulturprojekte angelegt wird, oft besser investiert als für politische Bildung. Weil man über Kunstprojekte auch Menschen gewinnen kann, die man mit Angeboten der klassischen politischen Bildung nicht erreicht.
Und der dritte Wunsch ist: Partizipative Kulturprojekte bedürfen sehr flexibler Förderbedingungen, die einen Fokus auf Prozesse legen. Es braucht prozessorientierte Förder-Tools, die eine große Flexibilität ermöglichen und die prinzipiell auch das Scheitern zulassen. Wenn man Projekte nicht ergebnisoffen hält, dann können sie auch nicht partizipativ sein.
BBE-Newsletter: Herzlichen Dank für das interessante Gespräch und alles Gute auch für die eigene Verstetigung, die nach Ende eurer Förderung ansteht.
David Adler: Vielen Dank! Wir sind dran, unser Landkreis steht hier glücklicherweise hinter uns.
Endnoten
[1] https://www.kulturlandbuero.de/kulturlandschatzkarte/
[2] https://www.ehrenamtsstiftung-mv.de/
Beitrag im Newsletter Nr. 24 vom 14.12.2023
Für den Inhalt sind die Autor*innen des jeweiligen Beitrags verantwortlich.
Autor
David Adler (geboren 1979 in Greiz) studierte Philosophie, Musikwissenschaften, Psychologie und Betriebswirtschaft. Er war unter anderem als Kulturmanager, Redakteur und Verwaltungsleiter tätig bei der Haydn Sinfonietta Wien, den Berliner Festspielen und an den Theatern Vorpommern, Baden-Baden und Bremen. Seit 2020 ist David Adler Leiter des Kulturlandbüros, das sich vor allem der Konzeption und Umsetzung partizipativer Kunstformate in ländlichen Räumen widmet. Außerdem ist er als Moderator, Workshopleiter, Kulturwissenschaftler und Musiker aktiv.
Weitere Informationen www.kulturlandbuero.de
www.facebook.com/Kulturlandbuero
www.instagram.com/Kulturlandbuero
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