Theresa Bernemann
Die Rolle des ländlichen Raums im Politikgeschehen in Deutschland – Eine Kluft in der Wahrnehmung
Inhalt
Einleitung
Stadt-Land-Unterschiede
Stadt und Land in Deutschland
Gesellschaftliche und politische Spaltung?
Was kann die Politik tun?
Literatur
Autorin
Redaktion
Einleitung
Sowohl im öffentlichen und medialen Diskurs als auch in den Sozialwissenschaften nimmt der Zustand ländlicher Räume, eine mögliche Polarisierung zwischen Stadt und Land sowie dessen Auswirkungen auf das politische Geschehen in den letzten Jahren eine zunehmend größere Rolle ein. Getrieben wurde diese Entwicklung vor allem durch den Blick in andere westliche Länder: Gesellschaftliche (Auseinander-)Entwicklungen, die insbesondere bei Wahlen zutage treten, wurden intensiv vor dem Hintergrund einer Stadt-Land-Spaltung diskutiert und analysiert, wie bspw. die Anhängerschaft Donald Trumps in den USA oder die Zustimmung zum Brexit-Referendum im Vereinigten Königreich. Daraufhin erhielten auch in Deutschland mögliche Stadt-Land-Unterscheide in den Einstellungen, bei sensiblen gesellschaftlichen Konfliktthemen und nicht zuletzt im Wahlverhalten verstärkt Aufmerksamkeit.
Stadt-Land-Unterschiede
Um zu ergründen, ob und inwiefern der ländliche Raum das politische Geschehen in Deutschland beeinflusst, braucht es zunächst ein klareres Verständnis davon, was sich hinter »Stadt« und »Land« verbirgt. Denn so prägend und identitätsstiftend diese Begriffe für Menschen, die dort leben, auch sein mögen, aus wissenschaftlicher Perspektive können sie nicht zufriedenstellend sein, sind sie doch lediglich grobe geografische Beschreibungen. Vielmehr stellt sich die Frage, was ländliche und städtische Regionen ausmacht und worin genau sie sich unterscheiden. Generell lassen sich mögliche Unterschiede zwischen urbanen und ruralen Räumen auf erstens verschiedene kontextuelle Bedingungen zurückführen. Das heißt: Stadt und Land unterscheiden sich bspw. hinsichtlich ihrer ökonomischen Situation oder infrastruktureller Gegebenheiten. Zweitens kann die Bevölkerungskomposition differieren, in ländlichen Regionen also bspw. mehr ältere Menschen leben, während in urbanen Zentren mehr Menschen mit Migrationshintergrund wohnen.
Stadt und Land in Deutschland
Ein nüchterner Blick auf die Situation in Deutschland: Der Deutschlandatlas des BMI zeigt, dass es durchaus Unterschiede zwischen urbanen und ruralen Räumen gibt, insbesondere bezüglich der demografischen Situation und der öffentlichen Daseinsvorsorge. In ökonomischer Hinsicht ist ein striktes Ost-West-Gefälle allerdings deutlich schwerer auszumachen. Ländliche Regionen sind daher nicht per se gleichzusetzen mit strukturschwachen Regionen. Auch die Bevölkerungszusammensetzung variiert zwischen städtischen und ländlichen Regionen, besonders hinsichtlich Alter und Migrationshintergrund und in Ostdeutschland auch hinsichtlich des Geschlechts. Diese Unterschiede sind jedoch nicht ausreichend, um Polarisierung der Sozialstruktur im Sinne einer gegenläufigen Entwicklung ländlicher und städtischer Regionen konstatieren zu können, wie Dirk Konietzka und Yevgeniy Martynovych feststellen. In mancherlei Hinsicht, bspw. bezüglich der Arbeitslosenquote oder der Schulabbrecher*innenquote, schneiden ländliche Regionen sogar durchschnittlich besser ab, wie Dirk Assmann von der Friedrich-Naumann-Stiftung darlegt. Anders als in anderen Ländern ist die Abgrenzung zwischen ländlichen und urbanen Räumen in Deutschland also weniger gradlinig und tiefgreifend.
Gesellschaftliche und politische Spaltung?
Übersetzen sich die (moderaten) Unterschiede zwischen städtischen und ländlichen Umgebungen und der dort lebenden Bevölkerung in gesellschaftliche und politische Spannungen? Hier offenbart sich ein überraschendes Bild: Zwar lebt die Mehrheit der deutschen Bevölkerung in ländlichen Regionen, dennoch entsteht bei vielen der Eindruck, dass Städte als der Normalfall gelten, wohingegen der ländliche Raum von der Norm abweicht, etwas, das untersucht, erklärt und gegebenenfalls gar angepasst werden muss, wie Lukas Haffert in seinem Buch »Stadt, Land, Frust« beschreibt. Das Empfinden, »abgehängt« zu sein, von Politik und Gesellschaft nicht ausreichend beachtet und repräsentiert zu werden, ist daher im ländlichen Raum weit verbreitet: Laut einer Studie, die vom Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft in Auftrag gegeben wurde, sind über 60% der Befragten, die ländlich wohnen, der Ansicht, dass »die ländlichen Regionen und die Menschen in ländlichen Regionen zu wenig Beachtung in Staat und Gesellschaft finden«. Begleitet wird diese Wahrnehmung von Schlagzeilen wie »Wie Deutschland die Provinz retten kann« (Harald Freiberger in der SZ) oder »Inseln der Jungen und Gebildeten« (womit Städte gemeint sind) (Kristina Antonia Schäfer in der Wirtschaftswoche) oder »›Unten‹ heißt Land. ›Oben‹ heißt Großstadt« (Rainer Hank in der FAZ). Da überrascht es nicht, wenn sich die Bevölkerung ländlicher Räume als kulturell und habituell herabgesetzt wahrnimmt. Zu oft wird sie als (im räumlichen wie im übertragenen Sinne) provinziell gebrandmarkt. Allein: Das Narrativ vom rückschrittlichen Landei trifft empirisch nicht zu. Die Soziologen Mau, Lux und Westheuser analysieren in ihrem Buch »Triggerpunkte« Einstellungen zu verschiedenen gesellschaftlichen Konfliktfragen wie bspw. Migration, Klimawandel oder Umverteilung und können dabei keine gravierenden Disparitäten zwischen Stadt- und Landbewohnern ausmachen. Und Anne-Kathrin Stroppe und Nils Jungmann zeigen in ihrer Studie, dass es keinen eindeutigen Zusammenhang von Ländlichkeit und AfD-Wahl gibt. Vielmehr spielen Faktoren wie bspw. eine schlechte Infrastruktur eine Rolle, die sich jedoch nicht allein auf ländliche Regionen beschränken. Es besteht also eine Diskrepanz zwischen sowohl der öffentlichen Wahrnehmung als auch der Selbstwahrnehmung des ländlichen Raums einerseits und seiner wirklichen Rolle für das politische Geschehen in Deutschland andererseits. Die Kluft zwischen ländlichen und städtischen Räumen in Deutschland ist also mehr eine wahrgenommene, weniger eine, die in der gesellschaftlichen und politischen Realität verankert ist. Es gibt ländliche Regionen, die sich vielfältigen Problemen gegenübersehen und in denen die Frustration groß ist und die – durchschnittlichen – Einstellungen von denen in Großstädten abweichen. Diese Regionen sollten aber nicht als stellvertretend für den gesamten ländlichen Raum angesehen werden.
Was kann die Politik tun?
Der ländliche Raum ist vielfältig und heterogen. Die dort lebenden Menschen unterscheiden sich in ihren Einstellungen aber nicht so grundlegend von der Bevölkerung in urbanen Zentren, als dass man in Deutschland eine tiefgreifende »Spaltung« zwischen Stadt und Land diagnostizieren könnte. Damit das auch so bleibt, sollten Politiker*innen ein differenziertes Verständnis des ländlichen Raums in Deutschland haben und nicht das größtenteils falsche Bild eines abgehängten, hilfsbedürftigen, gar hinterwäldlerischen ländlichen Raums verbreiten. Dies würde, so steht zu befürchten, die verzerrte (Selbst-)Wahrnehmung nur verstärken. Dabei lebt laut der BMEL-Studie der Großteil, ungefähr 80 %, der Landbevölkerung gerne dort. Und wie der Freiwilligensurvey regelmäßig zeigt, engagieren sich Menschen in ländlichen Regionen häufiger freiwillig als Menschen in Städten, was auf eine lebhafte Zivilgesellschaft hindeutet. Auf dieses Fundament kann der ländliche Raum aufbauen. Sich um die Belange der Menschen in ruralen Regionen kümmern, ohne zugleich unzutreffende Klischees zu reproduzieren kann daher dazu beitragen, dass sich die dortige Bevölkerung repräsentiert fühlt und somit letztlich die Demokratiezufriedenheit gestärkt wird.
Literatur
Assmann, Dirk (2023): Stadt, Land, Spaltung? Potsdam-Babelsberg: Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit.
Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) (2021): Leben in ländlichen Regionen. Ergebnisse der repräsentativen Umfrage des Bundesministe-riums für Ernährung und Landwirtschaft.
Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat (BMI) (2020): Deutschlandat-las. Karten zu gleichwertigen Lebensverhältnissen.
Haffert, Lukas (2022): Stadt, Land, Frust. Eine politische Vermessung.
Konietzka, Dirk / Martynovych, Yevgeniy (2022): Die These der räumlichen Polari-sierung in der neuen Klassengesellschaft. Ein empirischer Beitrag zur sozialen Spal-tung von »Stadt und Land«.
Mau, Steffen / Lux, Thomas / Westheuser, Linus (2023): Triggerpunkte. Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft.
Simonson, Julia et al. (2019): Freiwilliges Engagement in Deutschland. Zentrale Er-gebnisse des Fünften Deutschen Freiwilligensurveys (FWS 2019). Berlin: Bundesmi-nisterium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.
Stroppe, Anne-Kathrin / Jungmann, Nils (2022): Stadt, Land, Wahl: Welchen Ein-fluss hat der Wohnort auf die Wahlentscheidung bei der Bundestagswahl 2021?
Medienquellen:
Freiberger, Harald – SZ: https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/stadt-land-kluft-politik-1.4393248
Hank, Rainer – FAZ: https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/hanks-welt/klassengesellschaft-die-verlierer-leben-auf-dem-land-15997413.html
Schäfer, Kristina Antonia – Wirtschaftswoche: https://www.wiwo.de/politik/deutschland/inseln-der-jungen-und-gebildeten-die-neue-spaltung-deutschlands/24594632.html
Beitrag im Newsletter Nr. 24 vom 14.12.2023
Für den Inhalt sind die Autor*innen des jeweiligen Beitrags verantwortlich.
Autorin
Theresa Bernemann ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Politikwissenschaft der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und forscht zu räumlichen Disparitäten und ihren Auswirkungen auf die Politik und auf rechtspopulistisches Wahlverhalten.
Kontakt: bernemann@politik.uni-mainz.de
Web: www.innen.politik.uni-mainz.de/theresa-bernemann-m-a
Redaktion
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