Chancen und Potenziale von Bürgergenossenschaften in den Neuen Ländern
Marleen Thürling, Kristina Bayer, Burghard Flieger, Sonja Menzel
Inhalt
Bürgergenossenschaften – Engagiert für das Gemeinwesen
Neue Organisationsform für bürgerschaftliches Engagement
Aktuelle Gründungsdynamik und Praxisbeispiele
Lernmöglichkeiten für zukünftige gemeindenahe Initiativen
Bürgerschaftliches Engagement braucht öffentliche Mitverantwortung
Literatur
Autor*innen
Redaktion
Bürgergenossenschaften – Engagiert für das Gemeinwesen
Pünktlich zum Antritt der neuen Bundesregierung ist eine neue Studie zu Bürgergenossenschaften erschienen, die im Auftrag des Bundeswirtschaftsministeriums erstellt wurde. Mit Blick auf den Leitsatz »Fortschritt wagen«, der die Arbeit der Koalition in den kommenden vier Jahren prägen soll, ist die Lektüre sehr zu empfehlen. Denn die hier dargestellten Beispielen zeigen, wie engagierte Bürger:innen, Innovation, Nachhaltigkeit und sozialen Zusammenhalt praktisch umsetzen. Mit dem Schwerpunkt auf die jüngeren Entwicklungen in den Neuen Ländern und hier vor allem die ländlichen Räume, untersucht die Studie »Bürgergenossenschaften - Engagiert für das Gemeinwesen« neue Formen der genossenschaftlichen Selbsthilfe an der Schnittstelle zur Zivilgesellschaft.
Die Ausarbeitung liefert einen komprimierten Einblick zu Entstehung und Rahmenbedingungen, aber auch den besonderen Herausforderungen und Schwierigkeiten, mit denen sich Gründer:innen von Bürgergenossenschaften konfrontiert sehen. Sie richtet sich an Interessierte in Politik, Verwaltung und Zivilgesellschaft. Durchgeführt wurde die Studie von der innova eG, einer Genossenschaft, die seit mehr als zwanzig Jahren neue Genossenschaften berät und auf dem Weg zur Gründung kompetent begleitet. Sie wurde in Kooperation mit dem IfG (Institut für Genossenschaftswesen der Humboldt Universität zu Berlin) und dem IDZ (Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft) in Jena erstellt.
Neue Organisationsform für bürgerschaftliches Engagement
Seit Anfang der 2000er Jahre sind zahlreiche neue Bürgergenossenschaften in den Bereichen Nahversorgung, Infrastruktur, Kultur, Mobilität und nachbarschaftliche Hilfen entstanden. Sie gründen sich häufig als Reaktion auf konkrete Bedarfe und Problemlagen und schließen Versorgungslücken in ihrem Gemeinwesen. Dort stellen sie Angebote und Dienstleistungen bereit, wo sich der Staat aus Kostengründen aus der Leistungserbringung zurückgezogen hat oder der Markt mangels Profitabilität kein passendes Angebot mehr erbringt.
Bei den Bürgergenossenschaften handelt es sich um unternehmerische Lösungen an der Schnittstelle zur Zivilgesellschaft, maßgeblich initiiert und getragen vom bürgerschaftlichen Engagement ihrer Mitglieder. Im Unterschied zum klassischen Genossenschaftsmodell erbringen Bürgergenossenschaften ein Angebot, das über den Mitgliederkreis hinausreicht und als Gemeingut allen Bürger:innen vor Ort zur Verfügung steht und von diesen mitgestaltet werden kann.
Aktuelle Gründungsdynamik und Praxisbeispiele
In den vergangenen zwanzig Jahren wurden in Deutschland insgesamt 540 Bürgergenossenschaften gegründet (Zeitraum von 2005-2018; vgl. Thürling 2019). Gut belegt ist, dass sich das Gründungsgeschehen dieser Genossenschaften regional stark unterscheidet. So werden in Regionen, die im Hinblick auf ihre demographische Situation und soziale Lage mit Risiken konfrontiert sind, weniger Bürgergenossenschaften gegründet als in den Regionen, die hinsichtlich dieser Faktoren besser aufgestellt sind (vgl. ebd.). Die Befunde stimmen mit den Erkenntnissen aus der Engagementforschung überein. Sie bestätigen, dass bürgerschaftliches Engagement mit höheren Einkommen, Bildungsabschlüssen und niedriger Arbeitslosigkeit korreliert (vgl. BMFSFJ 2017: 125ff.).
Die jetzt erschienene Studie mit dem Schwerpunkt auf die Neuen Bundesländer verdeutlicht gleichzeitig, dass das Gründungsgeschehen hier ähnlich dynamisch wie in den westdeutschen Ländern verläuft. Allerdings lösen sich Bürgergenossenschaften in Ostdeutschland im Zeitverlauf häufiger wieder auf. Das heißt, einige konnten ihre Vorhaben nicht umsetzen bzw. den Aufbau eines soliden Geschäftsmodells seltener erfolgreich realisieren (vgl. Bayer et al. 2021: 30). Der Erfolg dieser Sozialunternehmen wird demnach von den Rahmenbedingungen vor Ort beeinflusst. Vor allem die Zusammenarbeit mit der Kommune spielt hier eine entscheidende Rolle.
Lernmöglichkeiten für zukünftige gemeindenahe Initiativen
Das verdeutlichen auch die zehn analysierten Fallstudien. Befragt wurden Vorstände und Gründer:innen von Genossenschaften aus den Bereichen Nahversorgung, Kunst und Kultur, Mobilität und Nachbarschaftliche Hilfen. Kurz präsentiert werden auch neuere Ansätze im Bereich Wohnen (Urbane Dörfer, Co-Working) und Gesundheit (Ärztehäuser, Medizinische Versorgungszentren). Die Praxisbeispiele illustrieren anschaulich, wie die Akteure mit hohem persönlichen Einsatz, Verantwortungsbereitschaft und Überzeugungskraft ihre Vorhaben auf den Weg bringen. Sie entwickeln dabei neue Lösungsansätze und reaktivieren das gemeinschaftliche Leben vor Ort.
Deutlich wird in den Erfahrungsberichten aber, dass die Gründung von Bürgergenossenschaften sehr voraussetzungsvoll ist. Es braucht ein enormes Maß an Durchhaltevermögen, um bürokratische Hürden zu überwinden. Erforderlich sind auch unternehmerisches Know-how und finanzielle Ressourcen, um den gemeinschaftlichen Geschäftsbetrieb aufzubauen. Häufig gehen die Engagierten dafür in Vorleistung und der Entwicklungsprozess ist von großen Unsicherheiten geprägt. Mühsam mussten viele notwendige Informationen zusammengetragen werden. Hier könnte das bereits vorhandene Erfahrungswissen stärker gebündelt und Akteure besser vernetzt werden. Zudem macht die Studie deutlich, dass es erheblichen Informationsbedarf auf der kommunalen Ebene gibt: Die Gründer:innen mussten in ihren Gemeinden zum Teil »dicke Bretter bohren«, um die Verantwortlichen von der Idee der Genossenschaft als bürgergetragenes Partizipationsmodell zu überzeugen.
Bürgerschaftliches Engagement braucht öffentliche Mitverantwortung
Mit Blick auf mögliche Unterstützungsstrukturen zeigt sich, dass hier vor allem die Kommunen eine Schlüsselfunktion einnehmen (vgl. Bayer et al. 2021: 78ff.; vgl. dazu auch Thürling/Hanisch 2021). Ohne eine gute und vertrauensvolle Zusammenarbeit vor Ort lässt sich eine Bürgergenossenschaft nur schwer erfolgreich umsetzen. Die Kommune kann das Vorhaben in vielfältiger Weise unterstützen, u.a. beim Zugang zu Fördermitteln, Genehmigungsverfahren, der Grundstücksvergabe, bei der Bereitstellung oder Überlassung von Räumlichkeiten und der Vermittlung von notwendigen Kontakten und Informationen. Hilfreich dafür wären feste Ansprechpartner:innen oder Kontaktstellen auf kommunaler Ebene.
Deutlich wird, dass die Aktiven in Bürgergenossenschaften sich als Impulsgeber für ihre Regionen verstehen und mit innovativen Ideen vorangehen wollen, um die Lebensqualität in ihrem Gemeinwesen zu verbessern. Dafür wünschen sie sich mehr Wertschätzung und konkretere Unterstützung, z.B. durch Anschubfinanzierungen, Erleichterungen bei der Beantragung von Fördermitteln, Beratungsmöglichkeiten, eine stärkere Vernetzung und Wissenstransfer sowie Gründungserleichterungen. Zukünftige Initiator:innen von Bürgergenossenschaften könnten es so leichter haben. Sie müssten das Rad nicht immer wieder neu erfinden. Die Studie greift diese Erfahrungen auf und formuliert mit einem Sieben-Punkte-Plan konkrete Handlungsempfehlungen, um Bürgergenossenschaften zu fördern und die aktuelle Gründungsdynamik zu verstetigen (vgl. dazu das Kapitel Handlungsempfehlungen; Bayer et al. 2021: 75ff.).
In Gemeinden, in denen Gründungen gelingen und eine Genossenschaft ihr Geschäftsmodell erfolgreich umsetzen kann, ergeben sich daraus häufig Anstöße für weitere Aktivitäten und Unternehmensgründungen im Ort. So schaffen Bürgergenossenschaften Bleibefaktoren in ländlichen Räumen und stärken die regionale Wertschöpfung. Mit einer Bürgergenossenschaft entsteht immer auch ein »Möglichkeitsraum« für Teilhabe und Mitbestimmung. Wenn Bürger:innen die Erfahrung machen, dass sie mit ihrem Engagement die Lebensqualität im Ort verbessern können, dann stärkt das demokratische Prozesse und den gesellschaftlichen Zusammenhalt.
Literatur
• Bayer, Kristina/Flieger, Burghard/Menzel, Sonja/Thürling, Marleen (2021): Bürgergenossenschaften in den Neuen Ländern - engagiert für das Gemeinwesen, Studie im Auftrag des Bundeswirtschaftsministeriums, Stand: September 2021 (Download: https://www.innova-eg.de/seite/512280/studien,-berichte,-analysen.html).
• BMFSFJ (Hg.) (2017): Zweiter Bericht über die Entwicklung des bürgerschaftlichen Engagements in der Bundesrepublik Deutschland, März 2017.
• Thürling, Marleen/Hanisch, Markus (2021): Genossenschaften für das Gemeinwesen: Bürgerschaftliches Engagement zur Sicherung der Daseinsvorsorge?, Zeitschrift für Sozialreform (ZSR) 69 (3), S. 260-290 (Download: https://doi.org/10.1515/zsr-2021-0009).
• Thürling, Marleen (2019): Zur Gründung von gemeinwesenorientierten Genossenschaften - Eine vergleichende Regionalanalyse, Zeitschrift für das gesamte Genossenschaftswesen (ZfgG) 69(2): 85–116 (Download: https://doi.org/10.1515/zfgg-2019-0010).
Beitrag im Newsletter Nr. 3 vom 10.2.2022
Für den Inhalt sind die Autor*innen des jeweiligen Beitrags verantwortlich.
Autor*innen
Dr. Marleen Thürling ist Soziologin und hat am Institut für Genossenschaftswesen der Humboldt-Universität zu gemeinwesenorientierten Genossenschaftsgründungen promoviert. Sie ist Mitglied der innova eG.
Dr. Kristina Bayer, Vorstandsmitglied der innova eG, forscht und berät seit 20 Jahren zu Solidarischen Wirtschaftsformen. Aktuell setzt sie sich besonders für genossenschaftliche Lösungen in ländlichen Räumen ein.
Dr. Burghard Flieger, Vorstand der innova eG, promotet und qualifiziert seit 40 Jahren sozialinnovative Genossenschaftsprojekte von der Nachbarschaftshilfe über Unternehmensnachfolge bis hin zur Solidarischen Landwirtschaft.
Dr. Sonja Menzel ist Ökonomin, berät und forscht seit langem mit dem Schwerpunkt genossenschaftliche Wohnprojekte.
Kontakt: info@innova-eg.de
Weitere Informationen: Download der Studie
Redaktion
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