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Status Quo
10 Thesen
Gibt es einen Digitalisierungsschub im Bereich des bürgerschaftlichen Engagements?
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Kontext
Organisierte Engagementstrukturen wie Vereine und Verbände bieten, ebenso wie spontan aufgesetzte Projekte und Initiativen, Menschen die Gelegenheit für kurzfristiges und dauerhaftes Engagement auf dem jeweils individuell passenden Level für eine Vielzahl unterschiedlicher Themen und Interessensgebiete. Voraussetzung dafür sind das Vorhandensein und der Erwerb von Kompetenzen für die jeweilige Aufgabenstellung. Dazu gehört heute auch der Umgang mit digitalen Medien.
Anhand von 10 provokanten Thesen wurde im Dialogforum zum Thema »Digitale Kompetenz« des Forums Engagement und Digitalisierung diskutiert, wo die engagierte Bürgergesellschaft in Bezug auf diese Kompetenzen steht und warum es so schwierig ist, rechtzeitig die Weichen für die digitale Transformation des Engagements zu stellen.
Status Quo
Digitale Kompetenzen bilden die Grundlage der Nutzung digitaler Medien für bürgerschaftliches Engagement. Einen Gradmesser der Kompetenzen der deutschen Bevölkerung stellt der jährliche Digital-Index der Initiative D21 zur Verfügung. Der Index listet die folgenden Kompetenzen und den Prozentsatz der Bevölkerung ab 14 Jahre, die nach Selbsteinschätzung darüber verfügt.
Im Hinblick auf das bürgerschaftliche Engagement sind nicht alle der durch den Digital-Index erhobenen, vorstehend genannten Kompetenzen gleichermaßen von Bedeutung. Der Dritte Engagementbericht der Bundesregierung hebt vor allem die Bedeutung der Nutzung von Social Media Plattformen für digitales Engagement hervor (S. 16, 62, 76ff) sowie die Entwicklung und den Einsatz von sogenannten Civic Tech Anwendungen, d. h. Technologien, die zur Information, zum Engagement und zum Austausch von Bürger*innen untereinander, mit Nichtregierungsorganisation (NGOs) oder mit der Regierung genutzt werden (S. 82ff). Während erstere Kompetenzen voraussetzen, die bei der Hälfte bis drei Viertel der Bevölkerung vorhanden sind, werden die für die Nutzung von Civic Tech Anwendungen erforderlichen Kompetenzen von deutlich weniger Menschen beherrscht.
Die folgenden Thesen setzen sich auseinander mit dem Status Quo der Kompetenzen für das digitale bürgerschaftliche Engagement, den Hindernissen für deren Erwerb und den Perspektiven für digitales bürgerschaftliches Engagement. Sie dienen als Ausgangspunkt einer Erörterung der Frage, auf welche Kompetenzen für digitales Engagement bereits gesetzt werden darf, wie diese weiterentwickelt werden können und welche Maßnahmen darüber hinaus sinnvoll und notwendig erscheinen.
10 Thesen
These 1: Digitale Kompetenzen sind in der Bevölkerung ungleichmäßig verteilt.
Argumentation: 14% der deutschen Bevölkerung nutzen das Internet nicht (sog. Offliner), deren Durchschnittsalter beträgt 71 Jahre, 71% haben einen Haupt- oder Volksschulabschluss, 67% sind Frauen. Bei den 86% der Bevölkerung, die das Internet nutzen, liegen diejenigen mit niedrigem Bildungsabschluss bei allen zuvor genannten Kompetenzen signifikant (rd. 20 – 25%) unter dem Bevölkerungsdurchschnitt.
Quelle(n): Digital-Index 2019 / 2020, S. 19, 27 – 29.
These 2: Digitale Spaltung verläuft entlang der sozialen Spaltung der Gesellschaft.
Argumentation: In allen Altersgruppen nutzen Menschen mit niedriger Bildung (64%) das Internet in geringerem Umfang als Menschen mit mittlerer Bildung (92%) und Höhergebildete (97%). Auch die mobile Internetnutzung ist entsprechend ungleichmäßig verteilt (niedrige Bildung 53%; mittlere Bildung 79%, hohe Bildung 86%).
Frauen (82%) nutzen in geringerem Umfang als Männer (90%); der nahezu gleiche Abstand gilt für die mobile Nutzung: 71% Frauen, 78% Männer.
Berufstätige (96%) nutzen deutlich häufiger als Nichtberufstätige (71%); ein noch größerer Abstand besteht bei der mobilen Nutzung: 88% Berufstätige, 55% Nichtberufstätige.
In allen fünf ostdeutschen Bundesländern (77 – 81%) (außer Berlin) liegt die Internetnutzung unter der in den westdeutschen Bundesländern (85 – 90%).
Insbesondere alte und hochaltrige Menschen ab 70+ Jahre sind häufig digital Außenstehende, nur 52% dieser Altersgruppe(n) nutzen das Internet am PC oder Laptop, nur 32% nutzen mobil.
Quelle(n): Digital-Index 2019/2020, S. 14 – 16.
These 3: Der digitalen Denkweise steht ein ‚analoges‘ Selbstverständnis der eigenen Aufgabe entgegen.
Argumentation: Die klassischen Formen des bürgerschaftlichen Engagements, insbesondere solche, die in Vereinen und Verbänden ausgeübt werden, werden vielfach als Aufgaben wahrgenommen, die des direkten persönlichen Kontakts bedürfen. Durch die COVID-19-Pandemie ist hier perspektivisch eine veränderte Wahrnehmung zu erwarten.
Quelle(n): Dritter Engagementbericht, S. 111f.
These 4: Die digitale Denkweise ist in der Bürgergesellschaft durchaus vorhanden. Die Nutzung digitaler Medien wird aber vielfach nicht als Teil des eigenen gesellschaftlichen Engagements wahrgenommen.
Argumentation: Soziale Medien werden von 70 Prozent der Bevölkerung regelmäßig genutzt, 56% geben an, diese ein- oder mehrmals pro Woche zu nutzen. Insbesondere bei den jüngeren sind sie fest in die Alltagsroutinen eingebettet. Gerade Messengerdienste, über die Nachrichten und Informationen geteilt werden, sind aber auch bei den ab 60-Jährigen ein Treiber der Internetnutzung.
Quelle(n): Dritter Engagementbericht, S. 74; #engagiert, S. 98; Digital-Index 2019/2020, S. 22.
These 5: Ältere verfügen in geringerem Maße über die erforderlichen Kompetenzen als Jüngere. Aber auch unter den Jüngeren schätzt ein nennenswerter Teil von rund 25 Prozent die eigenen Kompetenzen im Umgang mit digitalen Medien als niedrig ein; hier besteht ein leichtes Bildungsgefälle.
Argumentation: Nicht alle jüngeren Menschen verfügen in ausreichendem Maße über die für das digitale Engagement benötigten Kompetenzen und das Selbstvertrauen in die eigenen Fähigkeiten.
Das geringere Vorhandensein von Kompetenzen bei Älteren liegt vor allem an mangelnden Erfahrungsmöglichkeiten. Daraus resultiert eine geringere Selbstwirksamkeitserfahrung und in der Folge auch eine geringere Motivation, sich mit den Möglichkeiten der Digitalisierung für das persönliche ehrenamtliche Engagement auseinanderzusetzen.
Quelle(n): Kubicek u. Lippa: Nutzung und Nutzen des Internet im Alter (2017), Kap. 7.2; Dritter Engagementbericht, S. 70; Gensicke in: Zivilengagement (2011), S. 162f.
These 6: Vor der Bereitschaft zur Qualifizierung steht die Nutzenabwägung.
Argumentation: Ältere geben deutlich häufiger als Jüngere an, den Nutzen des Internets nicht zu (er)kennen. Von 14 % Offlinern nennen gut drei Viertel (78 %) mangelndes Interesse am Internet als Grund für die Nichtnutzung. Als mögliche Motivationen zur Nutzung werden genannt: Erkennung eines klaren Nutzens (25%), Einführung in die Funktionsweise des Internets (17%), einfachere Nutzung des Internets (17%).
Quelle(n): Internet Universality Indicators (Dt. UNESCO-Kommission, bisher unveröffentlicht, S. 99, Digital-Index 2019/2020, S. 19.
These 7: Qualifizierungsangebote sind eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung für digitales gesellschaftliches Engagement. Von breit angelegten Qualifizierungskampagnen sind nur bedingt nachhaltige Effekte auf das Online-Engagement zu erwarten.
Argumentation: Digitale Kompetenzen werden überwiegend durch informelles Lernen / Learning by Doing (76%) erworben, dies gilt insbesondere für die Altersgruppen ab 50 Jahre und für Frauen.
Formale Lernangebote spielen mit nur 22% eine deutlich geringere Rolle.
Quelle(n): Digital-Index 2019/2020, S. 26: Kapitel Wissensaneignung rund um Themen der Digitalisierung.
These 8: Es bestehen deutliche Stadt- / Landunterschiede hinsichtlich der Nutzung digitaler Medien für gesellschaftliches Engagement. Digitalisierung hat das Potenzial, infrastrukturelle Nachteile im ländlichen Raum zu kompensieren und gerade jungen Menschen im ländlichen Raum Engagementmöglichkeiten zu eröffnen und sie dazu zu befähigen.
Argumentation: Rund die Hälfte der von 2014 – 2017 zum Smart Hero Award eingereichten Projekte sind in großen Großstädten angesiedelt, nur rund 12% in Landgemeinden oder kleinen Kleinstädten.
Laut Drittem Engagementbericht ist allerdings der Anteil der Jugendlichen, die angeben, ihr Engagement überwiegend oder vollständig über digitale Medien auszuüben in kleineren Gemeinden (34,7%) oder Kleinstädten (36,7%) deutlich größer als in mittelgroßen (21,8%) oder Großstädten (27,2%). Die stärkere Fokussierung junger Menschen auf den digitalen Raum ist auch in den geringeren Möglichkeiten begründet, sich vor Ort im ländlichen Raum zu engagieren.
Quelle(n): #engagiert (2019), S. 22; Dritter Engagementbericht (2020) S. 69, S. 72f.
These 9: Die dem sozialen und gesellschaftlichen Engagement zugeschriebene demokratiefördernde Wirkung (vgl. Deutscher Bundestag, Zweiter Engagementbericht 2017, S. 6 f.) tritt auch ein, wenn dieses mit und durch Social Media ausgeübt wird.
Argumentation: Social-Media-Kanäle werden im bürgerschaftlichen Engagement – neben organisatorischen Zwecken – genutzt, um Aufmerksamkeit auf ein bestimmtes Thema oder Anliegen zu lenken, einen Dialog zu dem Thema zu initiieren und zu moderieren sowie kurz- bzw. langfristig zu einem Engagement zu motivieren. Dabei entfalten die verschiedenen Formen der Verbindung von Online- und Offline-Engagement gleichermaßen gesellschaftspolitische Wirkung. Die positiven Effekte des zivilgesellschaftlichen Engagements können durch den Einsatz von Social Media verstärkt werden und eine größere Reichweite erzielen.
Quelle(n): #engagiert, S.9f, 98.
These 10: Die Unterscheidung zwischen analogem und digitalem Engagement ist vorübergehend in der akuten Phase der digitalen Transformation der Gesellschaft von Bedeutung. Die Nutzung digitaler Instrumente wird künftig ein selbstverständlicher Bestandteil des Engagementportfolios von Einzelpersonen und Organisationen sein.
Argumentation: Wie in allen Lebensbereichen wird auch im bürgerschaftlichen Engagement die Digitalisierung weiter voranschreiten. Bisher analoge Prozesse werden durch digitale Anwendungen ersetzt oder ergänzt werden. Diese Entwicklung zeichnet sich bereits jetzt in der COVID-19-Pandemie ab, wo die Notwendigkeit besteht, aufgrund der Einschränkungen von physischen Kontakten digitale Instrumente z. B. für bisher analog praktizierte Vorgänge wie Mitgliederversammlungen und -entscheidungen oder Wahlen einzusetzen. Entsprechende Tools (z. B. https://tedme.com) sind bereits vorhanden oder werden im Bereich Civic Tech (weiter-)entwickelt und künftig ressourcenschonend stärker eingesetzt werden. Mit der Entwicklung von Civic Tech Instrumenten geht in gewissem Rahmen auch eine Befähigung zivilgesellschaftlich engagierter Menschen einher.
Quelle(n): Dritter Engagementbericht 2020, S. 41; 82f.
Gibt es einen Digitalisierungsschub im Bereich des bürgerschaftlichen Engagements?
Organisierte Engagementstrukturen wie Vereine und Verbände bieten, ebenso wie spontan aufgesetzte Projekte und Initiativen, Menschen die Gelegenheit für kurzfristiges und dauerhaftes Engagement auf dem jeweils individuell passenden Level für eine Vielzahl unterschiedlicher Themen und Interessensgebiete. Voraussetzung dafür sind das Vorhandensein und der Erwerb von Kompetenzen für die jeweilige Aufgabenstellung. Im Zuge der digitalen Transformation sind Kompetenzen im Umgang mit digitalen Medien auch für bürgerschaftliches Engagement unerlässlich. Denn durch den geschickten und strategischen Einsatz von Social Media können Einzelpersonen wie Organisationen ihr Engagement gleichsam in den digitalen Raum hinein entfalten und so eine hohe soziale Wirkung erzielen. Zugleich bieten digitale Medien auch eine Plattform für den Erwerb dieser Kompetenzen. Dies hat sich insbesondere vor dem Hintergrund der pandemiebedingten Einschränkungen physischer Kontakte gezeigt.
Der Begriff ›Digitalisierungsschub‹ liefert bei einer Google-Suche aktuell rund 182.000 Ergebnisse. Möglicherweise beruht das Beschwören eines durch die Pandemie ausgelösten Schubs auf dem Wunsch, dieser Krise etwas Positives abzugewinnen. Polemisch könnte man meinen, der Schub habe die Gesellschaft an den Rand der Klippe geschubst, von wo aus man nun in den Abgrund der digitalen Spaltung sieht. Ganz so negativ ist das Bild allerdings nicht, denn seit Beginn der Maßnahmen und Programme zur Förderung der Internetnutzung und Medienkompetenz vor rund 20 Jahren ist die Gesellschaft ein gutes Stück vorangekommen. Aber es bestehen nach wie vor große Unterschiede innerhalb der Bevölkerung. Und die Gefahr, dass diese sich tradieren und somit immer schwerer zu überwinden sind, ist nicht von der Hand zu weisen. Der Dritte Engagementbericht stellt fest: »bei der Verflechtung von Digitalem und Engagement zeigt sich, dass Jugendliche aus niedrigeren Bildungswegen sich weniger zutrauen, die Möglichkeiten von digitalen Medien für das Engagement zu nutzen und mutmaßlich auch weniger Chancen erhalten, durch gezielte Ansprache (etwa in der Schule) begeistert zu werden.« (S. 135) Derartige zielgruppenspezifische Ansprachen und niedrigschwellige Angebote zum Kompetenzerwerb werden daher auch in Zukunft notwendig sein.
Die technische Bedienung von digitalen Endgeräten ist durch Smartphones und Tablets deutlich einfacher geworden, aber die Komplexität der verfügbaren Angebote, Plattformen und Dienste sowie die Einordnung und Bewertung der darüber verfügbaren Inhalte stellen eine hohe Herausforderung dar, auch für diejenigen, die über die eingangs genannten Kompetenzen verfügen. Gleichzeitig erfordert die hohe Innovationsgeschwindigkeit ein ständiges Schritthalten mit den Entwicklungen, um sich die Chancen der Digitalisierung im persönlichen und beruflichen Umfeld ebenso wie für das eigene Engagement zunutze zu machen. Der Prozess der digitalen Transformation der Gesellschaft befindet sich derzeit in einer akuten und durch die Pandemie beschleunigten Phase, perspektivisch wird er weiter andauern und damit auch einen dauerhaften Erwerb immer neuer Kompetenzen erforderlich machen.
Beitrag im Newsletter Nr. 4 vom 18. Februar 2021
Für den Inhalt sind die Autor*innen des jeweiligen Beitrags verantwortlich.
Autorin
Jutta Croll ist Vorstandsvorsitzende der Stiftung Digitale Chancen, einer gemeinnützigen Organisation unter der Schirmherrschaft des BMWi und des BMFSFJ. Sie ist verantwortlich für das auf internationale Zusammenarbeit ausgerichtete Projekt Kinderschutz und Kinderrechte in der digitalen Welt. Als Wissenschaftlerin befasst sich Jutta Croll mit den Themen Medienpolitik und Mediennutzung, Förderung der Medienkompetenz und Entwicklung eines zeitgemäßen Kinder- und Jugendschutzes im Internet unter Berücksichtigung der Rechte von Kindern einerseits und aktueller technischer Entwicklungen andererseits sowie Usability und Accessibility im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologien, Fragen des Datenschutzes und der Nutzung von Social Media zur Förderung gesellschaftlicher Prozesse. Sie arbeitet zusammen mit dem Council of Europe, der Europäischen Kommission, der UNESCO, den Vereinten Nationen und ICANN und engagiert sich seit dem World Summit of Information Society 2003/2005 für die Belange der Internet Governance; von 2018 - 2020 war sie Mitglied der Multistakeholder Advisory Group für das Internet Governance Forum der Vereinten Nationen.
Kontakt: jcroll@digitale-chancen.de
Weitere Informationen:
- www.digitale-chancen.de
- Twitter: @digitalechancen
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