Inhalt
Kapitalismus ignoriert Sorgearbeit und planetare Grenzen
Zusammenhang von Care und Klima
Bündnisse für Veränderung
Care Revolution als Transformationsstrategie
Verkürzung der Erwerbsarbeitszeit
Aufbau einer solidarischen Unterstützungsstruktur
Entwicklung demokratischer Beteiligungsformen
Unterstützung vielfältiger Lebensentwürfe
Solidarische Gesellschaft
Autorin
Redaktion
Kapitalismus ignoriert Sorgearbeit und planetare Grenzen
Die Menschheit steht an einem Scheidepunkt. Ein beinahe weltweit herrschendes kapitalistisches System, das konkurrenzgetrieben dem Wachstumszwang unterliegt, führt in eine Klimakatastrophe, sofern sich nicht große Teile der Bevölkerung dagegen zur Wehr setzen. Die insbesondere durch die fortgesetzte Verbrennung fossiler Energieträger verursachte, rasch voranschreitende Erderwärmung führt dazu, dass sich Wüsten ausbreiten und Ernteflächen verlorengehen, dass es Regionen gibt, in denen es zum Leben zu heiß wird, dass die Zerstörungskraft von Wirbelstürmen zunimmt, dass der Meeresspiegel steigt und Küstenregionen und -städte überschwemmt werden, dass viele Arten aussterben. Viele dieser Auswirkungen treten insbesondere im globalen Süden zutage. Den betroffenen Menschen bleibt häufig nur die Flucht.
Zeitgleich mit der Zerstörung ökologischer Systeme erleben wir aus ähnlichen Gründen eine Zerstörung sozialer Beziehungen. Im neoliberalen Kapitalismus ist für die unentlohnte – familiäre und ehrenamtliche – Sorgearbeit kein Zeitfenster mehr vorgesehen. Jede erwerbsfähige Person ist aufgefordert, Vollzeit erwerbstätig zu sein, um für das eigene Einkommen aufzukommen – unabhängig von der Anzahl der zu versorgenden Kinder oder der zu betreuenden Angehörigen. So geraten viele Menschen mit umfangreichen Sorgeaufgaben, insbesondere Frauen, entweder in Armut oder an die Grenzen ihrer Kräfte, wenn sie eine Berufstätigkeit in Vollzeit mit Sorgeaufgaben gegenüber Kindern und ihren unterstützungsbedürftigen Angehörigen oder Freund*innen verbinden müssen. Beide Entwicklungen führen zu Stress und Erschöpfung, bis hin zu insbesondere psychischen Erkrankungen.
Zusammenhang von Care und Klima
Häufig werden jedoch in sozialen Bewegungen noch keine Zusammenhänge gesehen zwischen dem Leid der Care-Beschäftigten in Krankenhäusern und Kitas sowie den Eltern und pflegenden Angehörigen einerseits und den zunehmenden Belastungen durch Hitze, Stürme und Fluten andererseits. Für mich sind diese zwei zerstörerischen Entwicklungen zumindest in dreierlei Hinsicht eng verbunden:
Zunächst hat die Klimakatastrophe unmittelbare Auswirkungen auf Sorgebeziehungen. Denn damit Menschen füreinander sorgen können, brauchen sie einen stabilen, unterstützenden Rahmen. Diese Sicherheit ist bereits durch ungenügende Maßnahmen der öffentlichen Daseinsvorsorge beschädigt, wird aber durch die vielfältigen Folgen der Erderwärmung immer weiter erschüttert.
Zudem lässt sich Sorge nicht nur als eine Tätigkeit, sondern auch als eine Haltung verstehen, die die Bedeutung sozialer Beziehungen betont und damit auch auf die Bedürfnisse anderer gerichtet ist. In diesem umfassenden Sinn tragen heute in Deutschland lebende Menschen auch die Verantwortung für die Lebensbedingungen der Menschen im globalen Süden oder der zukünftigen Generationen. Auch der Bezug auf die nicht-menschliche Natur und auf den gesamten Planeten Erde ist als Sorge zu begreifen.
Schließlich sind sowohl die rapide zunehmende Erderwärmung als auch die schnell wachsende Zahl von erschöpften Menschen Folgen des derzeitigen kapitalistischen Wirtschaftssystems. Denn in diesem System gelten sowohl familiäre und ehrenamtliche Sorgearbeit wie auch ökologische Kreisläufe als unentgeltliche und scheinbar uneingeschränkt vorhandene Ressourcen. Sie dienen dem Zweck der Kapitalverwertung ohne Rücksicht auf die Grenzen der menschlichen Leistungsfähigkeit und der Belastbarkeit von Ökosystemen. Zudem ist Ökonomie im Kapitalismus zwangsläufig mit Konkurrenz zwischen Unternehmen sowie mit Wachstum verkoppelt. Wachstum bedeutet aber, dass immer mehr Stoffe und immer mehr Lebenszeit in den Kapitalverwertungsprozess eingesaugt werden. Und Konkurrenz bedeutet, dass möglichst wenig Mittel zur Reproduktion des menschlichen Lebens und der ökologischen Kreisläufe aufgewandt werden.
Entsprechend ist das derzeitige Wirtschaftssystem weder in der Lage, die notwendigen Einschränkungen der Treibhausgas-Emissionen kurzfristig zu erreichen, noch, die finanziellen Mittel für Bildung, Gesundheit und Pflege hinreichend zu erhöhen. Ich spreche in diesem Zusammenhang von Krisen der sozialen und ökologischen Reproduktion (Winker 2021: 69-95). Die Gefährdung von Sorgebeziehungen und die ökologische Zerstörung sind also systemisch bedingt. Eine kapitalistische Gesellschaft, die auf unbegrenztem Wachstum und permanenter Konkurrenz beruht, kann weder die erschöpften Sorgearbeitenden entlasten noch die in die Atmosphäre emittierten Treibhausgase reduzieren. Das bedeutet gleichzeitig, dass auf dieser Stufe der kapitalistischen Entwicklung mit einer drastischen Verschlechterung der Lebensbedingungen zu rechnen ist.
Wir stehen also vor der riesigen Aufgabe, profitorientiertes Wirtschaften zunächst einzuschränken und letztlich zu überwinden, um tatsächlich solidarisch und mit Rücksicht auf die planetaren Grenzen leben zu können. Zudem sind diese grundsätzlichen Veränderungen innerhalb kurzer Zeit notwendig, um den Kollaps der Ökosysteme zu verhindern. Notwendig ist es jetzt, zügig Rahmenbedingungen zu schaffen, in denen familiäre und ehrenamtliche Sorgearbeit einen Platz haben; es ist zugleich erforderlich, die Endlichkeit von Naturressourcen ebenso zu beachten wie die Aufnahmefähigkeit der Atmosphäre für Treibhausgase. Dafür ist eine gesellschaftliche Mobilisierung von sehr vielen Menschen ebenso notwendig wie eine politische Zusammenarbeit von Aktiven in Klima- und Care-Gruppen.
Bündnisse für Veränderung
Immer mehr Menschen entziehen sich der Selbstoptimierung als Daueraufgabe, dem Leistungsdruck, der den gesamten Alltag durchzieht. Das permanente Arbeiten am Limit kann durchaus zu der Frage führen, ob dieses Leben tatsächlich den eigenen Wünschen entspricht. Manche verkürzen heute bereits ihre Erwerbsarbeitszeit, um besser für sich und andere zu sorgen sowie Zeit für ehrenamtliches und politisches Engagement zu haben.
Auch gibt es bereits längere Erfahrungen mit politischer Zusammenarbeit über einzelne Interessenlage hinaus. So setzen sich beispielsweise in Gesundheitsbündnissen Gewerkschafterinnen zusammen mit Patientinnen, potenziellen Patientinnen und Care-Aktivistinnen etwa für die Abschaffung der Fallpauschalen und eine bedarfsgerechte Personalbesetzung in den Krankenhäusern ein. Dabei kam es auch bereits zu ersten Formen der Zusammenarbeit zwischen der Care- und der Klimabewegung. So gab es auf der großen Klimastreik-Demonstration im September 2019 an mehreren Orten einen Gesundheits- oder Care-Block. Denn unbestreitbar bedroht der Temperaturanstieg schon jetzt Leben und Gesundheit. Allerdings gibt es derzeit noch zu wenige Beispiele für das gemeinsame politische Agieren von sozialorientierten und Klima-Gruppen.
Um mehr Durchsetzungskraft zu erreichen, scheint mir ein politisches Handeln notwendig, das an den häufig leidvollen Erfahrungen der so unterschiedlichen Menschen ansetzt und die Bedürfnisse der einzelnen Menschen ernst nimmt. Das bedeutet zunächst, ihnen wirklich zuzuhören, um zu verstehen, was Einzelne bewegt. Auch ist es enorm wichtig, bei all den vielfältigen Herausforderungen, vor denen Menschen heute stehen, sich auch in den politischen Gruppen umeinander zu kümmern, sprich konkrete Unterstützung zum Beispiel bei der Kinderbetreuung anzubieten. Auch gilt es, mehr Orte zu schaffen, an denen wir mit Zeit und ohne Alltagshektik voneinander lernen können.
Care Revolution als Transformationsstrategie
Letztlich benötigen gemeinsame Aktivitäten auch eine gemeinsame Idee, in der die Ziele von Care- und Klima-Bewegten zugleich aufgenommen werden. Diesbezüglich plädiere ich, wie auch das Netzwerk Care Revolution (www.care-revolution.org), für die Strategie der Care Revolution und damit für einen grundlegenden Perspektivwechsel, der die Profitorientierung überwindet. Wir setzen uns für ein gutes Leben ein, in dem alle Menschen ihre Bedürfnisse befriedigen können – und zwar umfassend, ohne jemanden auszuschließen und nicht auf dem Rücken anderer; auch nicht unter Inkaufnahme der Zerstörung ökologischer Systeme. Indem die Sorgearbeit als Bezugspunkt der Gesellschaftsveränderung gewählt wird und dabei Geschlechterkonstruktionen und geschlechtliche Arbeitsteilung grundlegend infrage gestellt werden, ist diese Konzeption feministisch. Um bereits innerhalb des kapitalistischen Systems erste dringend nötige soziale und ökologische Verbesserungen der Lebensbedingungen zu erreichen und dabei auch bereits die Tür zu einer solidarischen Gesellschaft zu öffnen, sehen wir folgende vier Ansatzpunkte.
Verkürzung der Erwerbsarbeitszeit
Zunächst benötigen Menschen deutlich mehr verfügbare Zeit, als gegenwärtig beispielsweise vollzeit-berufstätigen Eltern mit Kindern zur Verfügung steht. Deswegen ist eine deutliche Reduktion der Vollzeit-Erwerbsarbeit auf zunächst nicht mehr als 30 Stunden pro Woche für alle unabdingbar, damit sich alle an der unentlohnten Sorgearbeit beteiligen können. Alle erwerbsfähigen Personen haben dann höchstens eine kurze Vollzeit mit aus Sicht der Beschäftigten steuerbaren flexiblen Langzeitkonten, sodass auch die individuelle Zeitsouveränität steigt.
Grundlegend ist, dass diese Verkürzung der Erwerbsarbeitszeit mit einem Lohnausgleich für schlechter verdienende Beschäftigtengruppen einhergeht sowie ohne Erhöhung der Arbeitsintensität verwirklicht wird. Damit verringert sich das gesamte Volumen der Erwerbsarbeit und die Gesellschaft ist gezwungen, eine Debatte über den Stellenwert einzelner Wirtschaftsbereiche zu führen: Die Produktion welcher Güter soll abgebaut werden und in welchem Umfang sollen gleichzeitig beispielsweise das Gesundheits- und Bildungswesen ausgebaut werden? Eine solche Reflexion und Umsetzung ökonomischer Schwerpunktsetzungen kann einen großen Beitrag dazu leisten, die Erderwärmung tatsächlich auf unter 2 Grad zu begrenzen.
Aufbau einer solidarischen Unterstützungsstruktur
Weiter gilt es, eine existenzielle Absicherung für alle auch jenseits der Lohnarbeit durchzusetzen, beispielsweise durch die Realisierung eines bedingungslosen Grundeinkommens. Ferner ist es wichtig, die öffentliche soziale Infrastruktur in Bildung und Erziehung, in Gesundheit und Pflege auszubauen, sie gebührenfrei zu gestalten und ihre Qualität durch Ausbildung und Einstellung von mehr Fachpersonal zu steigern. Selbstverständlich müssen auch die Arbeitsbedingungen und Löhne der meist weiblichen Care-Beschäftigten, beispielsweise von Erzieher*innen und Altenpflegekräften, deutlich verbessert werden. Letzteres gilt auch für die häufig migrantischen Beschäftigten in Privathaushalten.
Mit dem Ausbau der sozialen Infrastruktur lässt sich der Care-Bereich gegenüber der Sphäre der Güterproduktion deutlich stärken. Dies unterstützt nicht nur Menschen in ihren Sorgebeziehungen, sondern mit dieser Verschiebung lässt sich auch die rasch voranschreitende Erderwärmung bremsen. Denn im Bereich personennaher Dienstleistungen sind die Treibhausgas-Emissionen deutlich geringer als im Bereich der Güterproduktion.
Entwicklung demokratischer Beteiligungsformen
Weiter ist es wichtig, den erforderlichen Ausbau öffentlicher Infrastruktur demokratisch zu gestalten, da Menschen am besten selbst beurteilen können, was sie benötigen. Notwendig sind Organe der Selbstverwaltung wie Vollversammlungen und Räte, beispielsweise Care- oder Energie-Räte, sowie auch Volksentscheide mit Gestaltungsmacht.
Voraussetzung einer solchen Demokratisierung ist zudem, den bisher vorherrschenden Trend zu Privatisierungen zu stoppen und gleichzeitig die Vergesellschaftung all derjenigen Institutionen und Unternehmen voranzutreiben, die keine umfassende Mitsprache der Nutzer*innen und der Beschäftigten erlauben. Dies gilt für Wohlfahrtsverbände und Privatunternehmen, die Pflegeheime oder Krankenhäuser betreiben, ebenso wie für Energie- oder Mobilitätskonzerne.
Unterstützung vielfältiger Lebensentwürfe
Für den Aufbau einer solidarischen Care-Ökonomie sind viertens auch vielfältige Gemeinschaftsprojekte beispielsweise im Stadtteil oder auf dem Dorf, die heute bereits neue Wege ausprobieren, enorm wichtig. Sie sollten deswegen durch staatliche finanzielle Mittel unterstützt werden. Ich denke dabei an Nachbarschaftszentren und Mehrgenerationenhäuser, aber auch an Betriebe wie Polikliniken oder Betriebe der solidarischen Landwirtschaft. Diese Projekte machen bereits heute wichtige Erfahrungen mit vergemeinschaftetem Besitz und organisieren ihre Entscheidungsprozesse kollektiv.
Teilweise wird dort das Einkommen gleichmäßig oder aber auch nach Bedarf aufgeteilt, sodass für alle gesorgt ist. Häufig nutzen diese Projekte Gebrauchsgegenstände gemeinsam, womit sich ökologisch sinnvoll die Güterproduktion reduzieren lässt. Dies sind Leuchttürme, die schon ein wenig auf die Zukunft hinweisen, sich stark an ökologischen Zielen orientieren und teils auch Lebensweisen jenseits der Kleinfamilie attraktiv erscheinen lassen.
Solidarische Gesellschaft
Werden die hier genannten Schritte durchgesetzt, lassen sich schon innerhalb der bestehenden kapitalistischen Produktionsweise wesentliche Verbesserungen der Rahmenbedingungen für Sorgebeziehungen und Klimaschutz erreichen. Mit einer solchen Perspektive steht dann auch nicht mehr im Fokus, was wir alles »verlieren«, wenn wir aus ökologischen Gründen auf motorisierten Individualverkehr, Flugreisen, Fleischkonsum und vieles mehr verzichten, sondern der Gewinn an Lebensqualität, wenn es genügend Zeit und Raum für soziale Beziehungen gibt, wird bedeutsam.
Allerdings wird es auch in einer solchermaßen veränderten Gesellschaft zur Abwertung familiärer, ehrenamtlicher und auch politischer Arbeit kommen. Um dies zu durchbrechen, gilt es, die für den Kapitalismus funktionale Sphärentrennung zwischen entlohnter und nicht entlohnter Arbeit aufzuheben. Das bedeutet nicht, dass die bisher unentlohnte Sorgearbeit entlohnt werden und damit auch dieser Bereich der Leistungskontrolle unterworfen werden soll. Vielmehr geht es darum, die Lohnarbeit zu überwinden und Arbeit in ihrer unentlohnten, direkt auf die Befriedigung von Bedürfnissen gerichteten Form zu verallgemeinern.
Diese Utopie ist im Kapitalismus nicht zu verwirklichen, da Kapitalverwertung Lohnarbeit voraussetzt. Sie stellt allerdings einen Orientierungsrahmen für den Aufbau einer solidarischen Gesellschaft dar. In einer solchen Gesellschaft haben alle Menschen freien Zugang zu dem, was in arbeitsteiliger Praxis geschaffen wird, und alle tragen gemäß ihren Bedürfnissen zur notwendigen Arbeit bei. Das bedeutet, sie entscheiden selbst über ihren Beitrag. In einer solchen Gesellschaft stehen nicht mehr Konkurrenz und Wachstum im Fokus, sondern das zentrale Gestaltungsprinzip ist Solidarität.
Beitrag im Newsletter Nr. 5 vom 10.3.2022
Für den Inhalt sind die Autor*innen des jeweiligen Beitrags verantwortlich.
Autorin
Dr. Gabriele Winker ist Sozialwissenschaftlerin und Care-Aktivistin. Sie war bis 2019 als Professorin für Arbeitswissenschaft und Gender Studies an der TU Hamburg tätig und ist Mitbegründerin des Netzwerks Care Revolution. Ihr aktuelles Buch trägt den Titel »Solidarische Care-Ökonomie. Revolutionäre Realpolitik für Care und Klima« und ist 2021 im transcript-Verlag erschienen.
Weitere Informationen zum Buch
Kontakt: winker@tuhh.de
Redaktion
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