Ein Gespräch über Intersektionalität
Engagement Macht Stark! im Interview mit Dr. Emilia Zenzile Roig vom Center for Intersectional Justice
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Interview
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Dr. Emilia Roig ist Gründerin des Centers for Intersectional Justice. Im Gespräch mit der Kampagne »Engagement macht stark!« erklärt sie, was Intersektionalität bedeutet, warum es so wichtig ist, Diskriminierungen intersektional zu bekämpfen und wie wichtig die Rolle bürgerschaftlichen Engagements dabei ist.
Engagement macht stark!: Frau Dr. Roig, Sie sind Gründerin des Center for Intersectional Justice (CIJ). Können Sie kurz erklären, mit welcher Definition von Intersektionalität Sie beim CIJ arbeiten?
Intersektionalität analysiert die Verschränkung von unterschiedlichen Unterdrückungssystemen. Das heißt, dass wir Unterdrückung, Diskriminierung und Ungleichheiten als ein Phänomen der unterschiedlichen Systeme sehen, welche diese beinhalten. Diese Systeme verstärken sich gegenseitig und ernähren sich voneinander. Deswegen ist es kontraproduktiv, die Wirkungen von Unterdrückung, Diskriminierung und Ungleichheiten nur auf einer Achse zu bekämpfen. Denn dadurch werden automatisch die anderen Ebenen verstärkt. Es ist ein bisschen wie bei einem Fass: stellen wir uns ein Fass mit drei Löchern vor. Wird ein Loch geschlossen, dann fließt das Wasser noch stärker aus den zwei anderen Löchern. In der Praxis ist es folglich kontraproduktiv, beispielweise das Patriarchat zu bekämpfen ohne gleichzeitig den Kapitalismus und den Rassismus als Systeme zu bekämpfen. Umgekehrt gilt das natürlich genauso.
Anders gesagt geht es bei Intersektionalität darum, Diskriminierung innerhalb von Diskriminierung zu bekämpfen, Ungleichheiten innerhalb von Ungleichheiten sichtbar zu machen und zu bekämpfen und Minderheiten innerhalb von Minderheiten zu empowern und sichtbar zu machen. Wir gehen also in die Tiefe: bei der Bekämpfung von Ungleichheit zwischen Männern und Frauen betrachten wir nicht nur die Achse Gender und schauen, wie es sich zwischen Männern und Frauen verhält. Sondern wir gehen darüber hinaus und werfen einen Blick, wie es innerhalb der Kategorie Frau aussieht. Wir bewegen uns also weg von homogenen Definitionen von Kategorien. Wir betrachten beispielsweise die Kategorie »Frau« als sehr heterogene, diverse Kategorie, die unterschiedliche Achsen der Diskriminierung beinhaltet, wie zum Beispiel Hautfarbe, Geschlechtsausdruck und Geschlechtsidentität, soziale Klasse, Nationalität etc.
EMS!: Können Sie für uns kurz die Arbeit des CIJ beschreiben?
Das CIJ ist eine Organisation, die sich der Bekämpfung von ineinandergreifenden Formen von Diskriminierung widmet. Dazu gehört einerseits klassische Advocacy-Arbeit mit politischen Entscheidungsträger*innen. Andererseits nehmen wir Einfluss auf den Policy-Prozess und politische Entscheidungen. Außerdem wollen wir den öffentlichen Diskurs mitgestalten und damit auch die Art und Weise, wie über Diskriminierungen und Ungleichheit gesprochen wird. Unser Ziel ist ein Paradigmenwechsel. Einen wichtigen Beitrag leisten wir hier auch durch unsere Forschung und Trainings.
EMS!: Warum ist das Konzept von Intersektionalität in der heutigen Zeit so wichtig?
Intersektionalität wird oft dargestellt als Mode oder Trend. Aber das ist es nicht und das war auch nie so gedacht. Im Gegenteil: die Bekämpfung von Unterdrückung und Ungleichheiten war immer intersektio-nal gemeint. Ein sehr wichtiger Erkenntnisgewinn ist, dass wir überhaupt verstehen, dass es keine einzi-ge Form von Diskriminierung gibt, die nicht mit anderen Formen verbunden ist. In diesem Zusammenhang möchte ich Dr. Martin Luther King zitieren: »Injustice anywhere is a threat to justice everywhere.« Dr. King spricht also über die Gegenseitigkeit und die Verschränkung von unterschiedlichen Formen von Ungerechtigkeit. Wollen wir also Unterdrückung und Ungerechtigkeit auf der Welt global effektiv bekämpfen, dann können wir das nicht in einer selektiven Art und Weise machen.
EMS!: Welche Bedeutung kommen in diesem Zusammenhang Quotenregelungen zu?
Quoten sind auf jeden Fall ein Teil der Lösung. Sie sind aber nicht die Lösung, das muss man auch ganz klar sagen. Mit Quoten alleine würden wir nichts erreichen. Ich glaube, wir haben eine falsche Art und Weise über Quoten zu sprechen. Wir sehen Quoten als eine Bevorzugung und als eine Art umgekehrter Diskriminierung. Das sind sie jedoch keinesfalls. Es gibt doch bereits Quoten. Sie sind einfach nur implizit, unsichtbar. Aktuell gibt es beispielsweise eine Quote für Männer, für weiße Menschen, für Menschen ohne Behinderung, für Menschen aus der Mittelschicht. Diese Quoten existieren, wir erkennen sie nur nicht. Wir leben also jetzt schon in einer Quotengesellschaft. Wie lässt es sich sonst erklären, dass zum Beispiel 90% des Managements in Banken weiße Männer sind?
Quoten sind jetzt notwendige, korrektive Maßnahmen, um die impliziten Präferenzsysteme gegenüber den dominanten Gruppen zu stoppen. Aber Quoten alleine wirken nicht. Wir müssen auch die Wurzel des Problems lösen. Warum gibt es weniger Frauen, die sich zum Beispiel in der Politik bewerben und in männerdominierten Sektoren? Im Ergebnis sind Quoten Teil einer holistischen Politik für mehr Diversität und für weniger Diskriminierung.
EMS!: Wie können Zivilgesellschaftliche Organisationen das Konzept von Intersektionalität praktisch anwenden?
Bürgerschaftliches Engagement spielt eine sehr wichtige Rolle, denn soziale Veränderungen sind noch nie nur top-down passiert. Das heißt, aus den Sphären der Macht kommt erstmal der Schutz des Status Quo. Große Veränderungen, wie das Frauenwahlrecht oder die Abschaffung der Sklaverei oder die Abschaffung der Segregation in den USA oder des Apartheidregimes kamen nicht von oben. Sie kamen durch den massiven Druck der Zivilgesellschaft. Von gesellschaftlichen Gruppen, die auf die Straße gegangen sind und Druck ausgeübt haben auf diese Stellen der Macht. Deshalb ist es ganz wichtig zu verstehen, dass es ohne die Zivilgesellschaft keinen sozialen Wandel gibt.
EMS!: Was sehen Sie als ganz konkrete Möglichkeiten?
Das große Problem ist, dass zivilgesellschaftliche Organisationen ihre Macht über den Staat bekommen, indem er sie finanziert. Diese Finanzierung verhindert jedoch die nötige Lobbyarbeit der Organisationen. Es verhindert, dass sie den nötigen Druck auf die Regierung und auf die staatliche Macht ausüben. Solange die Hauptfinanzierungsquelle von zivilgesellschaftlichen Organisationen hier in Deutschland der Staat ist, wird es nicht unmöglich, aber sehr schwierig sein, einen Wandel zu vollziehen. Denn die vielen Kontrollmöglichkeiten, der oft schwere und langwierige Weg zur Finanzierung, die Berichterstattung, die Abwicklung, die Abrechnungsprozesse, all das führt dazu, dass die Organisationen sehr stark an die Vorschriften des Staats gebunden sind. Zugleich hindert es die Organisationen daran, sehr spontan zu reagieren, wenn es nötig ist. Manchmal muss man spontan reagieren, manchmal muss man etwas chaotisch reagieren. Manchmal lässt sich die erzielte Wirkung eben nicht in Tabellen eintragen. Manchmal kann man die Zahl der erreichten Personen nicht klar beziffern, um die Wirkung zu benennen. Nein, Wirkung ist auch manchmal organisch und sie lässt sich auch nicht mischen. Wären zur Zeit der Abschaffung der Sklaverei alle Organisationen, die sich für die Abschaffung von Sklaverei einsetzten, vom Staat finanziert gewesen, dann hätten wir ein anderes Ergebnis gehabt. Deswegen braucht es mehr Freiheiten, mehr Lobby gegenüber der Regierung, um klar zu sagen: hier sind Steuergelder und wir haben Anspruch darauf. Wenn wir sehen, wieviel Finanzierung, wie viele Steuergelder in die Bundeswehr und die Polizei gehen, dann ist es wirklich unverschämt und sehr ungerecht, wie die Zivilgesellschaft im Gegensatz dazu vom Staat behandelt wird.
EMS!: Was können wir als Zivilgesellschaft tun, um da einen Wechsel zu kreieren?
Wichtig ist es, überhaupt darüber zu sprechen und eben nicht in dieser unterwürfigen Stellung zu verharren nach dem Motto: das sind unsere Geldgeber, wir müssen aufpassen, was wir sagen, wie wir das sagen, wir müssen gehorchen. Nein, im Gegenteil. Es ist wichtig, zu sagen, dass die Zivilgesellschaft ein Anrecht auf dieses Geld hat. Wir sind alle unterbezahlt, haben alle sehr magere Budgets, um sehr wich-tige gesellschaftliche Aufgaben zu leisten. Und dabei erfüllt die Zivilgesellschaft viele der Aufgaben, die eigentlich der Staat leisten sollte. Ich denke da an ›Service Provision‹, an bestimmte Dienstleistungen etc.. Darüber müssen wir uns im Klaren sein und das auch ansprechen. Es ist wichtig, dass die Zivilgesellschaft in dieser Hinsicht sensibilisiert und empowert wird.
Abschluss:
Engagement macht stark weil...es die einzige Alternative ist.
Hinweis: Dieser Beitrag ist zuerst erschienen im SonderInfoletter #2 der Kampagne »Engagement macht stark!« des BBE am 8. Dezember 2021 zum Themen-Schwerpunkt »Engagement und Inklusion«.
Beitrag im Newsletter Nr. 6 vom 24.3.2022
Für den Inhalt sind die Autor*innen des jeweiligen Beitrags verantwortlich.
Interviewpartnerin
Dr. Emilia Zenzile Roig ist Gründerin und Direktorin des Center for Intersectional Justice (CIJ) in Berlin. Sie promovierte an der Humboldt-Universität zu Berlin und an der Science Po Lyon.
Redaktion
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