Beitrag im Newsletter Nr. 6 vom 30.3.2020

Corona und die Folgen – Zivilgesellschaft im Ausnahmezustand

Ansgar Klein

Inhalt

Strikt begrenzt: Öffentlichkeit, Bürgerrechte und zivilgesellschaftlicher Alltag
Die Corona-Pandemie und die Folgen für Zivilgesellschaft
Solidarität und soziale Distanz
Digitalisierung der zivilgesellschaftlichen Arbeitsformate
Corona: Engagementstrategische Folgen für die organisierte Zivilgesellschaft
Endnoten
Autor
Redaktion

Der demokratische Staat ist in der Krise handlungsfähig. Doch was bedeuten die Maßnahmen gegen die Pandemie für Demokratie und Zivilgesellschaft?

Strikt begrenzt: Öffentlichkeit, Bürgerrechte und zivilgesellschaftlicher Alltag

Die Corona-Pandemie hat auch die Zivilgesellschaft hart getroffen. Das, was Öffentlichkeit ausmacht, ist reduziert auf die medialen und digitalen Formen von Kooperation und Austausch. Versammlungen ab 3 Personen sind aus Gründen der Prävention verboten, ganz zu schweigen von all den Begegnungen und Versammlungen der Initiativen, der Vereine und Verbände. Auch Mobilisierung und Protest unterliegen dem Kontaktverbot, auch wenn absehbar ist, dass sich Proteste etwa gegen das Kontaktverbot entwickeln. Rupert Strachwitz spricht angesichts dieser Entwicklung von »Closed Public Spaces«, also von geschlossenen Räumen der Öffentlichkeit, die das Lebensexilier zivilgesellschaftlicher Aktivitäten bilden. Zuvor hatte die Zivilgesellschaft angesichts der Ausweitung autoritärer Regierungspraxis in einer deutlich gewachsenen Anzahl von Ländern, auch in Europa, von »Shrinking Spaces«, also vor der Einschränkung zivilgesellschaftlicher Handlungsräume, von Bürgerrechten, Gewaltenteilung oder kritischer Öffentlichkeit gewarnt. Nun sind wir alle in Zeiten einer Pandemie mit einer Schließung aller öffentlichen Handlungsräume jenseits der elektronischen wie gedruckten Medien und des digitalen Raums konfrontiert, der sich aktuell hochdynamisch entwickelt. Der Wegfall der öffentlichen Räume, in Zeiten der Pandemie erforderlich, darf nur Instrument eines solchen Notstandes in einer medizinisch bedingten Ausnahmesituation sein. Er muss im Interesse der Demokratie und der zivilgesellschaftlichen Rechte strikt auf die Kernzeiten der Pandemie begrenzt werden. Aktuell ist angesichts eines dramatischen Verlaufs der Pandemie weltweit das Verständnis für die Notwendigkeit dieser weitreichenden Maßnahmen gegeben. Bürgerrechtler warnen allerdings jetzt schon, dass derart weitreichende Einschränkungen der Bürgerrechte und demokratischen Grundrechte nach klaren Kriterien auch wieder zu beenden sein müssen, wenn wir nicht Gefahr laufen wollen, das demokratische Gemeinwesen selber nachhaltig zu beschädigen. Über die Dauer einer solchen Phase wird derzeit diskutiert – ohne effektive Medikamente und Impfstoffe dürfte das rasche Ende nicht in Sicht sein. Für Medikamente werden derzeit ungefähr 6 Monate Entwicklungszeit, für die Entwicklung und Produktion eines wirksamen Impfstoffs mindestens ein Jahr prognostiziert. Wie lange sich also der Ausnahmezustand hinzieht, ist derzeit offen. Je länger, umso gravierender die Herausforderungen eines Re-Entry in die bürgerschaftliche und demokratische Normalität und in einen zivilgesellschaftlichen Alltag. Langfristige Folgen sind derzeit nicht nur für die Wirtschaft, sondern auch für die Zivilgesellschaft unabsehbar.

Die Corona-Pandemie und die Folgen für Zivilgesellschaft

Der Ausnahmezustand hat natürlich für die Praxis der zivilgesellschaftlichen Organisationen und Einrichtungen enorme Konsequenzen. Machen wir uns klar: Zivilgesellschaftliche Organisationen leisten unverzichtbare Beiträge für ein funktionierendes öffentliches Leben, besonders in Krisensituationen. Sie bilden das Rückgrat und den Rahmen für das Engagement von Millionen Bürgerinnen und Bürgern und den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Zudem fließen in Deutschland jedes Jahr ca. 100 Milliarden Euro in den gemeinnützigen Sektor. Jeder zehnte sozialversicherungspflichtig Beschäftigte ist in einer zivilgesellschaftlichen Organisation angestellt (im Umfang in etwa vergleichbar mit der gesamten Baubranche in unserem Land). Derzeit steht das Engagement in der Nachbarschaft, aber natürlich auch in den Feldern desGesundheitssystems und der Pflege, der Not- und Rettungsdienste und des Katastrophenschutzes besonders im Fokus. Aber auch das Engagement bei der Versorgung von armen oder obdachlosen Menschen bleibt hoch relevant und ist durch das Kaufverhalten in Krisenzeiten (die Tafeln) oder das Schließen von Einrichtungen etwa in der Obdachlosenbetreuung derzeit extrem belastet und gefährdet. Das müssen wir alle genau beobachten, um Förderungen dort anzusetzen, wo sie in Corona-Zeiten für eine Engagementstrategie dringlich sind. Dieses Engagement gerade jetzt zu unterstützen ist ohne Zweifel derzeit prioritär.

Solidarität und soziale Distanz

Wir alle nehmen derzeit an einem gesellschaftlichen Reallabor teil, das die Routinen unserer sozialen Systeme, den Berufsalltag wie auch das öffentliche Leben und die Aktivitäten der Vielzahl zivilgesellschaftlicher Akteure in einem Ausmaß betrifft, zu dem Kanzlerin Merkel nur der 2. Weltkrieg als passender Vergleich eingefallen ist. Zugleich wird allseits der »gesellschaftliche Zusammenhalt« als zentrale Zielsetzung eingefordert. Und es wird an die Solidarität der Bürger*innen appelliert. Das weitgehende Einhalten der Kontaktsperren wie auch der kreative Umgang mit privaten Rückzugs- wie auch digitalen Kommunikationsräumen erwecken den Eindruck, dass in diesen Krisenzeiten die Bereitschaft zur Mitwirkung an Prävention und an einer Deeskalation der Epidemie sehr hoch ist. Allerdings gilt es zu berücksichtigen, dass Vertrauen und Solidarität, also das Sozialkapital der Gesellschaft nicht nur von den politischen und ökonomischen, sondern auch von zivilgesellschaftlichen Rahmenbedingungen und Voraussetzungen gespeist werden. Direkter Austausch und die Praxis des Engagements und eines vitalen zivilgesellschaftlichen Assoziationswesens, so die Forschungen von Putnam u.a., sind die Bedingung der Möglichkeit für das Entstehen von Vertrauen und sozialem Zusammenhalt. Können aber neue Kooperations- und Kommunikationsformate der digitalen Räume hier kompensierende Funktionen übernehmen? Oder bleibt die digitale Kommunikation weiter angewiesen auf Formate der direkten Interaktion? Diese Frage scheint offen.

Digitalisierung der zivilgesellschaftlichen Arbeitsformate

In Zeiten eines »Kontaktverbots« ist insbesondere die digitale Entwicklung von Arbeitsformaten in den Organisationen und in den Infrastruktureinrichtungen zur Förderung von Engagement und Beteiligung erforderlich. Diese Entwicklung gilt es seitens der öffentlichen Hand energisch zu unterstützen. Die Bedarfe einer Digitalisierung der Arbeitsformate in der Zivilgesellschaft sind aktuell Thema eines nationalen Forumsprozesses, den das BBE mit Unterstützung des BMI und der Robert Bosch Stiftung in nunmehr ebenfalls digitalen Formaten startet. Das ursprünglich als Diskussionsforum mit Realpräsenz konzipierte Forum Digitalisierung und Engagement wird derzeit vollständig digitalisiert und auf entsprechende Formate umgestellt [1]. Damit soll nicht »nur« ein Projekt des BBE »gerettet« werden. Vielmehr ist damit auch die Frage verbunden, wie sich der digitale Wandel ganz praktisch für die Bedürfnisse der organisierten Zivilgesellschaft gestalten lässt. Die Arbeit des BBE selber muss sich in diesen Zeiten viel stärker auf digitale Arbeitsformate stützen. Anstelle von Sitzungen der Gremien werden derzeit digitale Arbeitsformate entwickelt. Arbeitsgruppen werden dabei begleitet, ihre Facharbeit im Zuge von Videokonferenzen weiter zu führen. Geplante Vorhaben wie das jährliche BBE-Länderforum, bei dem Vertreter*innen der Länder und der zivilgesellschaftlichen Strukturen auf Länderebene über engagementpolitische Entwicklungen strategisch beraten, sich fachlich austauschen und vernetzen, müssen neu durchdacht und konzipiert werden. Die sektorenübergreifende Diskussion über aktuelle politisch brisante Themen im vertraulichen Rahmen, wie sie im Zuge der BBE-Mittagsgespräche eine Rolle spielt, wird nun digital umgesetzt. Im Rahmen des Programms »Engagierte Stadt«, an dem sich das BBE in der kommenden dritten Phase als Partner und Träger des Programmbüros beteiligt, gilt es, Infrastrukturbedarfe nun erst recht sichtbar zu machen und für nachhaltige Weiterentwicklungen zu sorgen, indem neue Formate des Zusammenwirkens eingeführt werden und die Bewegung auch digital weiter unterstützt wird. Natürlich gilt die Neu- und Weiterentwicklung auch für die »Woche des Bürgerschaftlichen Engagements« und für diverse weitere geplante BBE-Fachveranstaltungen, die nun auch perspektivisch nicht nur als Präsenzveranstaltungen geplant werden, sondern zusätzlich stets in einem alternativen digitalen Format. Zugleich wird das BBE in seinen Arbeitsformaten auf die Herausforderungen der Corona-Krise für die Engagementlandschaft reagieren und seine Agenda entsprechend neu fokussieren müssen (das kommende BBE-Jahrbuch 2021 wird die Folgen von Corona für die Zivilgesellschaft als Schwerpunktthema haben). Mit dem hoch relevanten Thema der Digitalisierung eng verbunden ist das Thema der Bildung: Die nun sehr viel mehr genutzten und benötigten digitalen Lernräume bieten für eine Entwicklung lokaler Bildungslandschaften eine herausragende Entwicklungschance. Es gilt die Lernräume und Inhalte der Zivilgesellschaft zu vermitteln für Kooperationen mit Kitas, Schulen und Berufsschulen, mit Fachhochschulen und Hochschulen und auch mit der Forschungslandschaft (»Citizen Sciences«). Vor diesem Hintergrund sind etwa die BBE-Arbeitsgruppen »Digitalisierung« und »Bildung« zentral angesprochen. Das BBE bemüht sich, die notwendige Aktualisierung der BBE-Agenda für die Fachdiskurse in enger Abstimmung mit Arbeitsgruppen, Themenpat*innen wie auch den Gremien des BBE vorzunehmen. Dies gilt auch für Kampagnenplanung und geplante Fachveranstaltungen.

Corona: Engagementstrategische Folgen für die organisierte Zivilgesellschaft

Engagementpolitisch rückt jetzt die Bearbeitung der Folgen der Corona-Pandemie für die Zivilgesellschaft ins Zentrum! Große Engagementbereiche wie Sport oder Kultur haben bereits auf die direkten politischen Handlungsbedarfe der öffentlichen Hand zur Unterstützung der organisierten Zivilgesellschaft, der Vereine und Einrichtungen hingewiesen. Der Koordinierungsausschuss des BBE hat am 26. März 2020 dringliche Handlungsempfehlungen vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie und ihrer Folgen für die Zivilgesellschaft an das BBE und an die öffentliche Hand beschlossen. Diese finden sich dokumentiert im nachfolgenden Newsletter-Beitrag. Das Bundesnetzwerk (BBE) hat die dringendsten Handlungsbedarfe dem Engagementministerium des Bundes, dem BMFSFJ, vorgelegt.

Endnoten


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PD Dr. Ansgar Klein ist Geschäftsführer des BBE, Sozialwissenschaftler und Publizist.

Kontakt: ansgar.klein@b-b-e.de


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