Inhalt
Zivilgesellschaft im Digitalen Wandel
Zentrale Themenfelder
Fazit – Runder Tisch Digitalpolitik
Autor
Redaktion
Zivilgesellschaft im Digitalen Wandel
Die Frage, in welcher der möglichen digitalisierten Welten wir leben wollen, ist von hoher Brisanz und Dringlichkeit, weil bislang weitgehend unklar ist, wie der Prozess, den wir landläufig als Digitalisierung bezeichnen, sich eigentlich auf die Gesellschaft auswirkt. Bislang läuft der Zivilgesellschaftsdiskurs weitgehend nicht in Richtung kritischer, hinterfragender Aufmerksamkeit. Vielmehr erleben wir, beschleunigt durch eine »Notdigitalisierung« (Roland Roth) im Zusammenhang mit derCorona-Pandemie, einen technikdeterminierten Diskurs der Selbstertüchtigung gemeinnütziger Organisationen. Die Zivilgesellschaft und ihre Organisationen durchlaufen eine Art nachholende digitale Modernisierung. Meist ohne danach zu fragen, wo eigentlich die Server stehen, auf denen die zahlreich produzierten sensiblen Daten deponiert sind, welches ökologische Zerstörungspotenzial das scheinbar virtuelle Arbeiten in Clouds und auf Plattformen nach sich zieht, wer von unserer Nutzung scheinbar kostenloser Tools profitiert und wie hoch der Preis ist, den man als Gratis-Datenlieferant dabei zu entrichten hat. Die Diskussion über eine Digitalisierung im Sinne des Gemeinwohls hat dagegen gerade erst begonnen. Für die Zivilgesellschaft kommt es darauf an, ihre ganz spezifische Sichtweise auf den Digitalen Wandel zu artikulieren und Staat und Wirtschaft damit zu konfrontieren.
Damit Zivilgesellschaft das kann, muss sie auf zwei Ebenen operieren. Die erste Ebene ist die Ebene der Engagement-Praxis. Hier geht es um die praktischen Aspekte der eigenen Nutzenperspektive im Digitalen Wandel. Aus den Erfahrungen, die Ehren- und Hauptamtliche in Vereinen, Verbänden und Initiativen hier machen, resultiert die zweite Ebene. Dies ist die gesellschafts- oder engagementpolitische Ebene, auf der es um die Bewertung und Kritik der digitalen »Lösungen« und »Anwendungen« geht und aus der dann Alternativen abgeleitet werden können. Eine informierte Kritik der Digitalisierung kann nur Wirkung entfalten, wenn sie von entsprechender, in der Alltagspraxis entstandener Digitaler Kompetenz getragen ist. Ohne diese Verbindung der beiden Ebenen bleibt die Kritik entweder konkretistisch (»Warum kann ich über ›Slack‹ keine Video Calls machen?« / »Meine Kamera funktioniert nicht!«) oder abstrakt (»Digitalisierung dient nur ökonomischen und staatlichen Interessen« / »Digitalisierung ist Ausbeutung 4.0«). Die folgenden Ausführungen liefern erste Hinweise für die Verbindung der beiden Ebenen und damit für eine Standortbestimmung aus zivilgesellschaftlicher Perspektive.
Zentrale Themenfelder
Auf der Ebene der Engagement-Praxis zeigen sich dabei vielfältige und bislang erst in Ansätzen konkretisierte Themenfelder, die hier kurz skizziert werden und welche im Projekt Forum Digitalisierung und Engagement im BBE in den letzten beiden Jahren ausführlich behandelt wurden.
Digitale Kompetenz: Der Begriff der Digitalen Kompetenz ist hierbei sicherlich zentral. Digitale Kompetenz muss als Sammelbegriff für eine Vielzahl unterschiedlicher Kompetenzen im Zusammenhang mit der Nutzung digitaler Medien und Technologien verstanden werden. Sehr viele Engagierte und ihre Vereine, Verbände und Initiativen nutzen Social-Media-Kanäle für die öffentliche Kommunikation und Kollaborationswerkzeuge für den Austausch untereinander sowie die gemeinsame Arbeit. Mittels digitaler Tools kann Engagement beweglicher, kurzzeitiger und kleinteiliger funktionieren. Die Vermittlung, der Einsatz und die Koordination von Engagierten durch digitale Hilfsmittel bieten die Möglichkeit, sich einfacher und besser zu organisieren. Digitale Tools ermöglichen darüber hinaus eine ortsunabhängige Vernetzung.
Um all das (und noch einiges mehr) bewerkstelligen zu können, benötigt man viele und neue Kompetenzen. Dazu zählen Grundwissen zu Themen wie Datenschutz und Datensicherheit (Cookies, sichere Passwortvergabe, Datensparsamkeit usw.), Datenverarbeitung (Suchmaschinenverwendung, Einschätzung von Quellen, Datenspeicherung usw.), Kommunikation (Social Media, kollaboratives Arbeiten, Erstellung von Inhalten etc.) und Problemlösung (zum Beispiel Reaktion auf technische Probleme bei der Computernutzung, Wissen um die Notwendigkeit der regelmäßigen Erweiterung der eigenen Fähigkeiten).
Doch der Kompetenzdiskurs findet im Spannungsfeld von Generationenunterschieden, sozialer Spaltung und persönlichen Hemmnissen statt. Problematisch ist zudem, dass unterschiedliche Qualifikationsstände die konstruktive Zusammenarbeit erschweren. Nicht nur das digitale »Equipment«, sondern auch die Digitalen Kompetenzen werden oft als eine individuelle Eigenschaft betrachtet, die man entweder hat oder nicht hat. Es sind diese scheinbar rein pragmatischen Aspekte, die auf dem Weg zu Digitaler Souveränität berücksichtigt werden müssen. Hier beginnt der Übergang zur zweiten Ebene der kritischen Diskussion.
Organisationsentwicklung: Darüber hinaus geht es auf der Ebene des gemeinnützigen Vereins oder Verbandes um die Entwicklungsperspektive der Organisation. Digitalisierung verändert nicht nur die Arbeit und das Engagement der Einzelnen in gemeinnützigen Organisation, sondern hat auch Auswirkungen auf die Organisation selbst. Während sich viele Wirtschaftsunternehmen bereits seit Jahren mit Digitalisierung beschäftigen oder gar treibende Kraft des Digitalen Wandels sind, von extra auf sie abgestimmten Förderprogrammen profitieren und für sich adäquate Strategien entwickeln, führt das Thema Organisationsentwicklung in der Zivilgesellschaft bislang ein Nischendasein. Hier besteht Nachholbedarf, weil die Digitalisierung für gemeinnützige Organisationen zahlreiche Potenziale bereithält.
Die Veränderungen des bürgerschaftlichen Engagements und seiner Organisationen durch Digitalisierung zeichnen sich bereits deutlich sichtbar ab. Dazu zählen zum Beispiel die Umstellung der eigenen Verwaltung, das Freiwilligenmanagement, die Steuerung von Projekten, die interne und externe Kommunikation sowie die Veränderung von Entscheidungsprozessen. Digitalisierung wirkt jedoch nicht nur in bereits etablierten Organisationen, sondern führt auch zur Entwicklung und Gründung neuer, genuin digitaler Organisationsformen (Nachbarschaftsnetzwerke, Crowdfunding- und Kollaborationsplattformen etc.). Die Nachfrage nach neuen, agilen, flexiblen, wertebasierten und nutzerzentrierten Arbeitsmethoden ist in den letzten Jahren stark gestiegen. Wenn die Rede von der »Netzwerkgesellschaft« zur Weiterentwicklung des demokratischen Gemeinwesens einen profunderen Sinn haben soll, müsste er sich genau hier konkretisieren.
Datenschutz und Datensicherheit: Datenschutz und Datensicherheit sind zentrale Begriffe der Digitalisierung und haben ganz praktische Auswirkungen auf die Arbeit im bürgerschaftlichen Engagement. Sie sind für zivilgesellschaftliche Organisationen besonders im Hinblick auf die vielen personenbezogenen und teilweise sensiblen Daten, die bei der täglichen Arbeit entstehen, essenziell. Die zahlreichen Datenskandale der letzten Jahre, die Einführung der europäischen Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) und auch die Diskussionen um Datenschutz in der Corona-Pandemie haben wiederholt vor Augen geführt, welchen Einfluss Datenschutz und eine sichere Dateninfrastruktur auf unser gesellschaftliches Leben haben – und vor allem, welch hohes Gut der Datenschutz darstellt. Datenschutz und Datensicherheit sind nichts weniger als Schutzmechanismen für Grundrechte.
Doch der Diskurs um Datenschutz und Datensicherheit war und ist nach wie vor von Unverständnis und einer gewissen Sorglosigkeit geprägt. Aufgrund der Komplexität und der Techniklastigkeit des Themas herrscht allgemein große Verunsicherung. Online-Tools werden oft rein pragmatisch eingeführt oder ad hoc wie in der Corona-Pandemie implementiert, wobei in der Eile oder aus Unwissenheit der Datenschutz oft missachtet wird. Dabei sollte er aber integrales Bestandteil jeder Entscheidung für oder gegen ein (neues) Tool sein. Da aber oftmals das individuelle Wissen über die verwendete Technik fehlt, lassen sich die Funktionsweisen und mögliche Datenschutzprobleme oft nicht richtig einschätzen. Problematisch ist aber auch, dass häufig einfach nicht klar zu sein scheint, was man darf und welche Tools man besser nicht benutzen sollte. Viele »Lösungen« werden etwa von Datenschutzbeauftragten unterschiedlich bewertet. Ein bekanntes Beispiel stellt die Videokonferenz-Software Zoom dar. Wenn selbst Experten sich nicht sicher sind, wie soll dann ausgerechnet ich die richtige Entscheidung treffen können?
Demokratieentwicklung: Der Digitale Wandel wirft zahlreiche Fragen zur Entwicklung der Demokratie auf. Einerseits wird der Digitale Wandel als Chance für die Stärkung und den Ausbau der Demokratie betrachtet, andererseits stellt er uns hinsichtlich des Schutzes der demokratischen Gesellschaft vor große Herausforderungen. Für die Zivilgesellschaft und das bürgerschaftliche Engagement ergeben sich somit neue Fragen. Welchen Einfluss hat die Digitalisierung auf die demokratische Kultur? Welche Herausforderungen ergeben sich für die Zivilgesellschaft? Wie kann diese sich den digitalen Raum zunutze machen, um das demokratische Gemeinwesen vor Angriffen zu schützen? Der öffentliche digitale Raum bietet zahlreiche Möglichkeiten des anonymen und pseudonymen Austauschs. Anonymität im Netz bedeutet einerseits Wahrung des Rechts auf informelle Selbstbestimmung und Selbstschutz zur freien Meinungsäußerung. Andererseits scheint gerade hier das, was man die Etikette der Kommunikation nennt, keine tragende Rolle mehr zu spielen, um es an dieser Stelle ganz vorsichtig zu formulieren.
Hate Speech, Desinformation, Trolle, Fake News, Filterblasen und weitere Phänomene sind längst an der Tagesordnung. Wissen ist wie nie zuvor abrufbar, zeitgleich nehmen aber Phänomene wie Anti-Intellektualismus und Verschwörungsmythen zu. Besonders am rechten Rand des politischen Spektrums wird das Internet häufig zur Platzierung demokratieverneinender und menschenverachtender Inhalte genutzt. Dies führt zunehmend zu einer Verrohung der Sprache und der Kommunikationsverhältnisse. Die Zivilgesellschaft, die häufig Ziel von Anfeindungen und Unterstellungen, braucht hier neue Strategien.
Eine weitere Ambivalenz: Digitalisierung ermöglicht einerseits neue Formen der Teilhabe und Beteiligung, auch im Engagement. Prinzipien, die sich auch bereits in der Online-Sphäre etabliert haben (Open Government, Open Data sowie Online-Partizipation), können eine demokratiestärkende Wirkung entfalten und sollten weiter gefördert werden. Andererseits bleibt das alte Problem bestehen, dass die Möglichkeiten der Teilhabe nur sehr selektiv und fast immer nur von einem bestimmten Soziotop genutzt werden. Es ist immer das Juste Milieu der oberen Mittelschicht, das hier aktiv ist. Andere Teile der Bevölkerung, insbesondere die oft als »prekär« bezeichneten Schichten, kommen bei den neuen Formen der Online-Partizipation so gut wie gar nicht vor. Wenn der Digitale Wandel tatsächlich zu einer Vitalisierung der Demokratie und zu neuen Formen demokratischer Beteiligung führen soll, dann bedarf es großer Anstrengungen, dem sogenannten Mittelschichts-Bias entgegenzuwirken. Ehrlicherweise muss hinzugefügt werden, dass dazu bislang erst sehr wenig praktische Ansätze entwickelt worden sind.
Fazit – Runder Tisch Digitalpolitik
Insgesamt brauchen wir eine visionärere und innovativere Nutzung der Chancen der Digitalisierung bei einem klaren Bewusstsein für die Risiken. Der Digitale Wandel ist so allumfassend in allen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Bereichen, dass er einer dezidierten Gestaltung bedarf. Die Zivilgesellschaft sollte das Heft des Handelns in die Hand nehmen, damit die Digitalisierung im Sinne gesellschaftlicher Teilhabe und demokratischer Werte geprägt und gestaltet wird.
Das ist heute überwiegend nicht der Fall. Heute haben wir es mit einer Digitalisierung zu tun, bei der vor allem Geschäftsmodelle im Vordergrund stehen, die ausschließlich durch die massenweise Sammlung personenbezogener Daten funktionieren. Technisch gesehen wäre es nicht notwendig, bei der Verbesserung von Navigationssystemen, Suchmaschinen, Onlineshops oder sonstigen Online-Dienstleistungen individualisierte Daten zu speichern. Das geschieht nur, damit im Rahmen der Plattform-Ökonomie personalisierte Werbefeldzüge unternommen werden können. Das Internet ist in den letzten 20 Jahren zu einer großen Marketing-Arena geworden, in der es im großen Stil um die Verbesserung der Verwertungsbedingungen für Kapital geht.
An diesem Punkt gilt es anzusetzen, wenn ernsthaft von einer visionäreren und innovativeren Nutzung der Chancen der Digitalisierung die Rede sein soll. Nachhaltigkeit und Souveränität wären hier zwei zentrale Gelingensbedingungen. Nachhaltigkeit bedeutet dabei wirtschaftliche, ökologische und soziale Nachhaltigkeit. Nur wenn es gelingt, Geschäftsmodelle in Bezug auf Datenschutz, Arbeitsbedingungen und ökologische Folgeschäden nach den Kriterien der Fairness und im Einklang mit unseren natürlichen Lebensgrundlagen zu gestalten, kann man von einer gemeinwohlorientierten Digitalisierung sprechen.
Um eine solche Entwicklung zu forcieren beziehungsweise überhaupt erst zu ermöglichen, wäre die Einrichtung eines Runden Tisches Zivilgesellschaft und Digitalpolitik sinnvoll, welcher als Forum für eine gemeinwohlorientierte Digitalisierung dienen könnte. Staat, Wirtschaft und Zivilgesellschaft könnten sich hier gleichberechtigt begegnen und – bei aller Unterschiedlichkeit bezüglich der Interessenlage – Perspektiven für eine andere, eine bessere Digitalisierung entwickeln. Die Verknüpfung der beiden Ebenen, die hier umrissen wurden, wäre dafür die Grundlage.
Der vorliegende Text ist die gekürzte Fassung eines Beitrags für das Forschungsjournal Soziale Bewegungen (FSB, Nr. 1/2022, im Erscheinen).
Beitrag im Newsletter Newsletter Nr. 7 vom 7.4.2022
Für den Inhalt sind die Autor*innen des jeweiligen Beitrags verantwortlich.
Autor
Dr. Serge Embacher, Politikwissenschaftler und Publizist, arbeitet als leitender Referent in der Geschäftsstelle des BBE.
Kontakt: serge.embacher@b-b-e.de
Redaktion
BBE-Newsletter für Engagement und Partizipation in Deutschland
Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement (BBE)
Michaelkirchstr. 17/18
10179 Berlin
Tel.: +49 30 62980-115