Bürgerschaftliches Engagement und die Corona-Pandemie: Herausforderungen für die Zivilgesellschaft – am Beispiel Kolumbiens
Wolfang Goede
Inhalt
Perspektive aus einem Land im totalen Lockdown
Alle Räder Kolumbiens stehen still
»Nur« 35 Corona-Tote, bisher
Keine Debatte über Shutdown
Kolumbiens Zivilgesellschaft: die sozialen Führer*innen
In der Krise liegt die Kraft
Endnoten
Autor
Redaktion
Perspektive aus einem Land im totalen Lockdown
Ich sitze auf dem Balkon unserer Wohnung in Medellín im Stadtteil Laureles. Es ist Montag und normalerweise würde der Verkehr tosen. So laut mit keuchenden Lastern und schrill-hochtourigen Motorrädern, dass ich sofort wieder in die Wohnung ginge und die Tür fest verschlösse. Auch wegen der Luftqualität. Bis vor zwei Wochen verkündeten die Messstationen der Stadt permanent und über Tage hinweg den roten Alarmzustand. Die Stadt liegt in einem Tal und von unserem 15. Stockwerk haben wir einen guten Blick über die Stadt. Bilder wie wir von Peking gewohnt waren: dichter grauer Smog. Jetzt, um 8.45 in der Frühe, nachdem sich der Morgennebel legt, habe ich einen perfekten Blick über die morgendliche Stadt, einer Mischung aus den eher älteren roten Backsteinbauten und Hochhäusern aus gräulichem Beton. Medellín, die nach der Hauptstadt Bogotá zweitgrößte Metropole Kolumbiens mit ca. fünf Millionen Menschen im Einzugsbereich, liegt seit 17 Tagen im totalen Lockdown/Shutdown. Und seit 14 Tagen das gesamte Land. Die Maßnahme sollte bis zum Ostermontag fortbestehen, diese Woche wurde sie von Präsident Iván Duque um weitere zwei Wochen bis zum 27. April verlängert, insgesamt also für fünf Wochen lang. Als ich im Januar erstmals von der hermetischen Abschottung des chinesischen Wuhan las, hätte ich gewettet, dass das im quirligen Kolumbien nicht möglich wäre.
Alle Räder Kolumbiens stehen still
Es ist möglich. Selbst im 11-Millionen-Chaos von Bogotá. In den Abendnachrichten im Fernsehen ist zwar zu sehen, dass der Shutdown dort immer wieder von den Bewohnern partiell durchbrochen wird, aber insgesamt: Alle Räder stehen still in diesem südamerikanischen Lande. Kolumbien war gut vorgewarnt: Als in Italien und dann auch noch im Mutterland Spanien die Infektionszahlen alarmierende Werte erreichten und die Länder ins Chaos stürzten, läuteten hier alle Alarmglocken. Dann kam das Coronavirus über Touristen aus Madrid nach Kolumbien. Unser eine Stunde entferntes Hostel in den Kordilleren wurde bekannt als »Corona-Hostel«. In Hostal la Finca ortete die Polizei eine der Mitreisenden der infizierten Italienerin aus dem Flugzeug. Sofort waren Polizei und Gesundheitsbehörden vor Ort und stellten das Hostel mit den 15 Gästen unter zweiwöchige Quarantäne. Das und der negative Ruf waren für uns unangenehm – auch alle unseren Sozialprojekte liegen brach, aber ich zog den Hut vor dieser logistischen Leistung. Normalerweise würde man diese Effizienz kolumbianischen Behörden nicht zutrauen. Das alles ist Geschichte aus der Zeit von Mitte März 2020. Die Italienerin wurde negativ getestet, die Gäste durften weiterziehen, mittlerweile ist das Hostel wie alle anderen touristischen Betriebe, Gaststätten, Produktionseinrichtungen geschlossen.
»Nur« 35 Corona-Tote, bisher
Einmal die Woche dürfen wir hier in Medellín zum Einkaufen. Das war bei mir am Samstag. Auch die Straßen der Stadt liegen wie im Dornröschenschlaf. Und der Supermarkt prüfte akkurat, ob ich zum Einkaufen auch berechtigt war. Nur bestimmte und täglich wechselnde Endziffern auf dem kolumbianischen Personalausweis sind zugelassen. Was ist das Ergebnis dieses Shutdowns? Derzeitiger statistischer Stand (6. April 2020): 1485 Erkrankte, 88 Wiedergenesene, 35 Verstorbene. Im internationalen Vergleich ist das für das 50-Millionen-Land Kolumbien sehr positiv. Im kleinen Nachbarland Ecuador ist das Gesundheitssystem vor Tagen bereits zusammengebrochen mit Toten auf den Straßen. Brasiliens Präsident Bolsonaro schreitet wie eh und je ungeschützt durch die Menschenmengen. Zuerst war die Pandemie für ihn – wie zuvor die Klimakrise – ein Fake. Mittlerweile verkündet er, dass Corona »eine Sache Gottes sei« und der Glaube heile ... Mit Blick auf diese Zahlen sowie Entwicklungen in den Amerikas – nicht zuletzt die über New York hereinbrechende Coronawelle und US-Präsident Trumps stümperhaftes Krisenmanagement – fühle ich mich nicht unwohl in Kolumbien. In den letzten zehn Tagen gab es von Bogotá drei Rückholflüge des Auswärtigen Amts nach Deutschland. Die nahmen nicht nur gestrandete Touristen, sondern auch viele »Expats« in Anspruch, Deutsche, die seit vielen Jahren in Kolumbien leben und professionell tätig sind. Das ist ein Verlust. Ich bin nur saisonal in der europäischen Winterzeit im Lande und fühlte mich von den Rückholflügen nicht angesprochen, gleichwohl für die nächsten Wochen der gesamte Flugverkehr ruht und ich mich wie im Mauseloch fühlen könnte.
Keine Debatte über Shutdown
Wie geschildert, als Europa zum Corona-Hotspot wurde und von dort die ersten Erkrankungsfälle nach Kolumbien gelangten, gingen hier die roten Lämpchen an. Innerhalb von drei Tagen wurde der Shutdown von den Regierungen der Departements, Kommunen und Städten sowie in oberster Instanz dem Präsidenten des Landes und seinem Kabinett dekretiert. Das, ohne jeglichen Protest. Alle Parteien inklusive Opposition sowie alle Medien standen hinter der Maßnahme. Auch kein Widerwort von der Industrielobby. Und jetzt, per präsidialer Ordre per Mufti eine zweiwöchige Verlängerung. Das finde ich mittlerweile auch ein wenig alarmierend, nachdem ich die Debatte über Freiheitsrechte in Deutschland intensiv verfolge und mit Betroffenheit registriere, wie Ungarns Rechtspopulist Orban die Krise für Notstandsgesetze nutzte. Und aus den USA ist zu hören, wie das Trump-Lager insgeheim diskutiert, die Wahlen im Herbst möglicherweise auszusetzen – Trump for ever? Insofern sind die Schnelligkeit und Debattenlosigkeit in Kolumbien möglicherweise ein Alarmzeichen. Aber die Statistiken, gleichwohl wie in vielen anderen Ländern mit hoher Dunkelziffer sowie verwässert durch das Fehlen von Testmöglichkeiten, lassen sich als Indiz betrachten, dass Kolumbien richtig reagiert hat. Eine Lockerung, wie in Deutschland, und das Setzen auf die »Herdenimmunität«, wie in Schweden, ist hier derzeit nicht absehbar. Das führt zum Kern: Was ist die Rolle der Zivilgesellschaft in der Corona-Krise in diesem Land? Welcher Zivilgesellschaft? Der Begriff klingt für die meisten Kolumbianer vermutlich »spanisch«. Seit der Konquista vor 500 Jahren und der Übernahme des mittelalterlich-spanischen Königtums ist das Land strikt top-down organisiert, mit einem stark ausgeprägten Zentralismus. Ohne die bürokratische und in langen Schleifen erfolgende Bearbeitung amtlicher Vorgänge aus Bogotá passiert in Kolumbien kaum etwas. Die europäische Aufklärung hat das Land wie auch die lateinamerikanischen Nachbarländer über die Unabhängigkeitsbewegungen im 19. Jahrhundert erreicht, aber den Charakter von Demokratie und Selbstb estimmung kaum befördert. Mit dem großteils nicht aufgearbeiteten europäischen Kolonialismus wurde auch die soziale Ungleichheit und ungerechte Verteilung des Agrarlandes zementiert, bis heute – der anhaltende Funke revolutionären Aufbegehrens.
Kolumbiens Zivilgesellschaft: die sozialen Führer*innen
Das hat aber bis heute auf dem Kontinent wenig verändern können. Das reiche Venezuela ist darüber ausgeblutet. Che Guevara und Castro bleiben für viele Menschen, hüben wie drüben, Helden. Aber was haben sie verändert? Der Großteil der kolumbianischen FARC hat zwar Frieden geschlossen, während ein Teil seiner alten Führer wieder in den Untergrund abgetaucht ist und von dort mit den Säbeln rasselt. Die ELN, weiterhin unbefriedet, rührt sich immer wieder. Jetzt, in der Krise, hört man von beiden nichts. Aber, natürlich, sie sind ja auch nicht Teil der Zivilgesellschaft, militärisch straff von oben nach unten durchorganisiert, sexistisch, zum Teil immer noch einem steinzeitlichen Stalinismus anhängend. Die wahre Zivilgesellschaft hier in Kolumbien reduziert sich auf mehrere hundert »soziale Führer*innen« (líderes sociales). Sie versuchen in den ländlichen Regionen, in denen anders als in den urbanen Zentren die staatlichen Organe wenig präsent sind und oft kriminelle Banden, Kokain-Mafia und Paramilitärs das Sagen haben, das Leben zu organisieren und erträglich zu machen. Damit sind sie Zielscheibe von Repressionen, gerade der Ungesetzlichen – und Polizei und Staat drücken oft beide Augen zu. Weil deren Vertreter nicht in die Konflikte geraten wollen, oder schlimmer, weil sie in Korruption darin verstrickt sind.
Trauriger Rekord: Wie »El Tiempo« [1] Anfang April berichtete, sind in 2020 bereits 71 soziale Führerinnen und Führer in Kolumbien ermordet worden, zusätzlich 20 der ehemaligen FARC Kämpfer (die jetzt u.a. die massiv benötigen Atemschutzmasken herstellen helfen). In diesen Wochen der Pandemie, Krise und Shutdowns ist das nationale Sicherheitsthema an den Rand der politischen Agenda gerückt. Das öffnet für die Kriminellen Tür und Tor, weiterhin gegen die »Sozialführer« vorzugehen, die Spitzenvertreter der kolumbianischen Zivilgesellschaft.
In der Krise liegt die Kraft
Der deutsche Friedensforscher Stefan Peters leitet das 2016 vom damaligen Außenminister Frank-Walter Steinmeier ins Leben gerufene Deutsch-Kolumbianische Friedensinstitut CAPAZ. Es soll helfen, den Weg in den Post-Konflikt zu ebenen. Mit seinem Essay »Ungleichheit tötet« in renommierten deutschen und kolumbianischen Medien rüttelte Peters unlängst die Öffentlichkeit wach [2]. Die Hälfte der Bevölkerungen Lateinamerikas wie auch Kolumbiens sind prekär Beschäftigte, Tagelöhner, die von der Hand in den Mund leben. Sie werden von der Pandemie und dem derzeitigen Shutdown am stärksten getroffen. Hier tickt eine soziale Bombe, immer lauter, je länger die Pandemie und die Maßnahmen dagegen andauern. Internationale Solidarität mit den Ärmsten ist die Antwort, so Peters. Oft reklamiert in diesen Tagen, mit Wirkung? Seit einigen Tagen trägt ein Downtown-Gebäude in Medellín einen sich über mehrere Stockwerke erstreckenden großen Leuchtschriftzug: »Zur Normalität kehren wir nicht zurück, denn die Normalität war das Problem« (No volveremos a la normalidad porque la normalidad era el problema). Mit anderen Worten: Diese Krise legt ihren Zeigefinger in die Wunden und Unzulänglichkeiten unserer modernen und vor allem vom Abendland geprägten Zivilisation – im Falle von Kolumbien und Lateinamerika seit einem halben Jahrtausend verschleppt. Jetzt ist die Zeit tiefgreifender Umorganisation und mutigen Neustarts, wussten doch bereits unsere Kulturväter, die alten Griechen: In der Krise liegt die Kraft! Im Umgang damit hat Kolumbien reiche Erfahrung. Daraus könnten wir im Süd-Nord-Dialog viel Honig saugen.
Endnoten
- https://www.eltiempo.com/justicia/conflicto-y-narcotrafico/cifras-de-lideres-sociales-y-desmovilizados-de-farc-asesinados-en-2020-segun-indepez-480144
- https://www.ipg-journal.de/regionen/global/artikel/detail/ungleichheit-toetet-4191/ https://www.semana.com/mundo/articulo/coronavirus-el-problema-de-la-desigualdad-en-america-latina/659053
Beitrag im Newsletter Newsletter Nr. 7 vom 9.4.2020
Für den Inhalt sind die Autor*innen des jeweiligen Beitrags verantwortlich.
Autor
Wolfgang Chr. Goede, Wissenschaftsjournalist, Autor, Facilitator. In München und Medellín wohnhaft. Regelmäßiger Beobachter Kolumbiens, Autor von Romanen wie auch Dokumentationen übers Land, etwa »Alpha Deus« oder »Colombia`s Negative Peace«. Mitbegründer und Kümmerer von »Hostal la Finca – Cultures United« hostallafinca.com, Projekt für internationale Zusammenarbeit. Vorstandsmitglied der Deutschen Angst-Hilfe DASH e.V. und Co-Autor von angstfrei.news.
Kontakt: w.goede@gmx.net Facebook und Twitter
Weitere Informationen: Laufende Berichterstattung über Entwicklungen in Kolumbien beim Deutsch-Kolumbianischen Freundeskreis DKF und dem Kolumbien-Blog: http://www.dkfev.de/
Redaktion
BBE-Newsletter für Engagement und Partizipation in Deutschland
Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement (BBE)
Michaelkirchstr. 17/18
10179 Berlin
Tel.: +49 30 62980-115