Das Kompetenzteam für Frauen mit Behinderungen: Sichtbarkeit und Handlungsspielraum in Österreich und Europa
Eva-Maria Fink
Inhalt
Kompetenzteam Frauen mit Behinderungen
Wer arbeitet mit?
Nur Frauen – Warum keine Männer?
Intersektionalität – Was ist das?
Status Quo
Arbeitsmodi
Ziele des Kompetenzteams Frauen mit Behinderungen
Forderungen des Kompetenzteams Frauen mit Behinderungen
Was hat das mit Europa(-politik) zu tun?
Endnoten
Autorin
Redaktion
Kompetenzteam Frauen mit Behinderungen
Das Kompetenzteam Frauen mit Behinderungen besteht seit März 2018 und ist beim Österreichischen Behindertenrat angesiedelt. Der Österreichische Behindertenrat ist die Dachorganisation von Behindertenverbänden und Interessensvertretungen und hat mehr als 85 Mitglieder. Die Aufgaben des Österreichischen Behindertenrats sind vielfältig. Sie umfassen u.a. Lobbying für Menschen mit Behinderungen durch die Mitarbeit in nationalen und internationalen Gremien und Ausschüssen, die Erstellung von Stellungnahmen und die Betreuung der Mitgliedsorganisationen und Vertretung der politischen Anliegen von Menschen mit Behinderungen nach außen sowie die Administration des Euro-Keys. Mit seiner Arbeit vertritt der Österreichische Behindertenrat etwa 1,8 Millionen Menschen mit Behinderungen in Österreich.
Wer arbeitet mit?
Die Mitglieder des Kompetenzteams sind vor allem Frauen, die auch größtenteils erwerbsberuflich in Mitgliedsvereinen oder bei Stakeholdern des Österreichischen Behindertenrats tätig sind. Aber auch Frauen, die sich ehrenamtlich engagieren arbeiten im Kompetenzteam mit. Die Zusammensetzung ist heterogen. Sie umfasst mittlerweile über 60 Frauen mit unterschiedlichen beruflichen und privaten Hintergründen sowie im Besonderen eine große Bandbreite an unterschiedlichen Behinderungsformen oder chronischen Erkrankungen. Aber auch ein paar wenige Frauen ohne Behinderungen arbeiten im Rahmen des Kompetenzteams regelmäßig mit.
Nur Frauen – Warum keine Männer?
Prinzipiell können Männer mit und ohne Behinderungen sehr gute Allies (= Verbündete) für Frauen mit Behinderungen sein. Trotzdem wurde während der Gründung des Kompetenzteams entschieden, Frauen bewusst Raum zu geben. Warum? Oft genug werden Entscheidungen für Frauen immer noch von Männern getroffen. Aufgrund von unterschiedlicher Sozialisierung nehmen sich Männer in Gruppen öfter Raum zum Reden und Frauen sind eher sozialisiert Raum zu geben. Um effizient arbeiten zu können, wurde die Entscheidung getroffen das KT für Frauen mit Behinderungen als »Safe Space« (sicheren Raum) zu etablieren. Die Positionen, die im KT Frauen mit Behinderungen erarbeitet werden, sind dadurch geprägt, dass sie den Leitlinien der UN-BRK folgen: Nichts ohne uns, über uns.
Arbeitsmodi
Das KT-Frauen findet alle zwei bis drei Monate in unterschiedlichen Settings, sowohl offline im Büro des Österreichischen Behindertenrats als auch online statt. Die Teilnehmerinnenzahl der Treffen variiert, befindet sich aber meist zwischen 15 und 25 Frauen. Die Treffen zur inhaltlichen Arbeit dauern zwei Stunden. In Präsenz gibt es davor und danach noch die Möglichkeit, sich außerhalb der vorbereiteten Themenschwerpunkte auszutauschen und zu vernetzen. Im Anschluss werden Protokolle an alle Mitglieder versendet, damit auch die, die nicht am Treffen teilnehmen konnten, Feedback und Input geben können. Dies erfolgt meist via E-Mail-Korrespondenz. Eine Grundvorrausetzung, die sich etabliert hat, ist das Offenbleiben für Neues. Intersektionale Diskriminierung hat unterschiedliche Facetten und um die Interessen aller Personen gut nach außen vertreten zu können, hören wir in erster Linie aufmerksam zu. Durch diese Fülle an Erfahrungen lassen sich patriarchale und ableistische Strukturen leichter erkennen. Das führt zu einem Zugehörigkeitsgefühl – wir sind mit unseren Erfahrungen nicht allein – sie sind nicht »individuelle Überempfindsamkeit«, sondern haben System. Mit diesem Wissen im Hinterkopf und einer Community im Rücken lassen sich leichter Schwachpunkte des Systems benennen und Forderungen formulieren.
Intersektionalität – Was ist das?
Die Intersektionalität beschreibt die Überschneidung von mehreren Diskriminierungsfaktoren. Gesamtgesellschaftlich werden Männer aufgrund patriarchaler Sozialisation und Machtstrukturen mit stärkeren Adjektiven verbunden als Frauen. So wird das Wort »Mann« positiv bewertet, weil Männer als stark, mutig und selbstbewusst gelten, während »Frau« eher negativ assoziiert wird, mit schwach, empfindsam oder eitel. Der Aspekt Behinderung wird gesellschaftlich negativ beurteilt, entweder geprägt durch Mitleid oder einen Blick auf Wertigkeit des Lebens. Kombiniert man nun vorgestellte Eigenschaften:
• Mann (+) ohne Behinderungen (+) • Frau (-) ohne Behinderungen (+) • Mann (+) mit Behinderungen (-) • Frau (-) mit Behinderungen (-)
erhält man eine einfache schematische Darstellung davon, welche Diskriminierungspotentiale Personengruppen haben. Überschneiden sich zwei oder mehrere Aspekte wird dies Intersektion genannt. Je mehr Eigenschaften nicht einem eurozentristischen, patriarchalem Weltbild entsprechen, desto größer ist das Potential Diskriminierungserfahrungen zu machen. Dabei potenzieren sich Diskriminierungsfaktoren, da die Abgrenzung zueinander immer komplexer wird. Neben Geschlecht und Behinderung sind Erstsprache, ethnische oder religiöse Zugehörigkeit, Hautfarbe, sexuelle Orientierung, Alter und Körpergewicht weitere Diskriminierungsfaktoren.
Status Quo
Prinzipiell gibt es in allen Bereichen des intersektionalen Themas »Frauen mit Behinderungen« kaum Daten. Trotzdem ist klar zu erkennen, dass Frauen und Mädchen mit Behinderungen schwerwiegenderen Diskriminierungen ausgesetzt sind als Männer und Buben mit Behinderungen oder Frauen und Mädchen ohne Behinderungen. Das betrifft alle Aspekte des täglichen Lebens. In den Bereichen Bildung, Beruf, Gesundheit, Partnerschaft, politische Teilhabe und gesellschaftliche Partizipation sind besonders große Missstände zu erkennen. Dadurch stehen Frauen mit Behinderungen häufiger als Frauen ohne Behinderungen und Männer mit Behinderungen in Abhängigkeitsverhältnissen und sind dadurch auch häufiger von psychischer, physischer, sexueller und struktureller Gewalt betroffen. Durch das Fehlen von ganzheitlich barrierefreien Opferschutz- und Beratungseinrichtungen verbleiben Frauen mit Behinderungen öfter in prekären Lebensverhältnissen. Frauen mit Behinderungen stehen vor größeren Barrieren zur Erlangung von Information, für Frauen mit Lernschwierigkeiten gibt es kaum Informationen in Leichter Sprache und für gehörlose Frauen gibt es wenig Ressourcen in Österreichischer Gebärdensprache. Ganz besonders problematisch zeigt sich dies im Bereich des Gesundheitswesens. Dies führt zu fehlender Selbstbestimmung. Viele Frauen mit Behinderungen ist es nicht möglich über ihren eigenen Körper zu bestimmen. Höchst problematisch ist dies beim Thema Sexualität. Durch fehlende Information eröffnet sich ein Raum für (sexualisierte) Gewalt, die nicht benannt werden kann, auch werden reproduktive Rechte (Aufklärung, Verhütung, Schwangerschaft und Schwangerschaftsabbruch) von Frauen mit Behinderungen verletzt. Frauen mit Behinderungen sind häufiger von Armut betroffen als Männer mit Behinderungen oder Frauen ohne Behinderungen. Aufgrund von Segregation und Sexismus im Bildungssystem erreichen Frauen mit Behinderungen weniger oft benötigte Ausbildungsabschlüsse, um (gut bezahlter) Erwerbsarbeit nachgehen zu können. Oft arbeiten Frauen mit Behinderungen in niedrigeren Positionen als Männer mit Behinderungen mit derselben Ausbildung. Volle Erwerbstätigkeit ist für viele Frauen mit Behinderungen neben Care-Arbeit und dem eigenen Gesundheitsmanagement oft nicht möglich. Dies wirkt sich auch im Ehrenamt bei Vereinen aus. So ist das Thema auch in etablierten Organisationen von Selbstvertreter*innen und Behindertenorganisationen noch nicht etabliert, da viele Ehrenamtliche Männer mit Behinderungen sind.
Ziele des Kompetenzteams Frauen mit Behinderungen
• Erweiterung des Diskurses der Intersektion Frauen und Behinderung • Sichtbarmachung von Ressourcen (Projekte, Studien, Expert*innen, Erfahrungen, Ideen) zum Thema Frauen mit Behinderungen • Etablierung von Gender-Mainstreaming in der Behindertenpolitik und Etablierung von Behinderungs-Mainstreaming in der Frauenpolitik • Bewusstseinsbildung zu intersektionalen Thema Frauen mit Behinderungen in den Mitgliedsorganisationen • Kooperation mit feministischen Organisationen und Sensibilisierung zum Thema Behinderung
Forderungen des Kompetenzteams Frauen mit Behinderungen
• Die öffentliche Sichtbarkeit von Frauen mit Behinderungen muss mit bewusstseinsbildenden Maßnahmen und Datenerhebungen, nach den Merkmalen Behinderung und Geschlecht, hergestellt werden. • Opferschutzeinrichtungen und -angebote müssen umfassend barrierefrei eingerichtet sein und vor allem auch im ländlichen Bereich bedarfsgerecht und gemeindenah zur Verfügung stehen. • Selbstbestimmtes Leben und Gewaltprävention durch bedarfsgerechte, bundeseinheitlich finanzierte Persönliche Assistenz • Spezifische Förder- und Unterstützungsmaßnahmen für Menschen mit Behinderungen, geschlechtsspezifisch angepasst, müssen geschaffen werden, um ihnen gleiche Chancen auf dem Arbeitsmarkt und damit ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen[1]. Anteile dieser Forderungen wurden auch in den Nationalen Aktionsplan 2022 – 2030 übernommen. Was im Bereich Frauen mit Behinderungen einen großen Schritt vorwärts darstellte, da im Nationalen Aktionsplan 2010 – 2020 kein Kapitel zu dem Thema – weder implizit noch explizit – vorhanden war.
Was hat das mit Europa(-politik) zu tun?
Das Bewusstsein für Intersektionalität steht in Österreich weitgehend am Anfang. Besonders sichtbar wird dies bei marginalisierten Gruppen, die eine schwache Lobby haben und ökonomisch nicht als Ressource wahrgenommen werden. Die Etablierung dieses Bewusstseins stellt eine Grundvoraussetzung dar, um in Zukunft die Interessen zu stärken und Mehrfachdiskriminierung entgegenzuwirken. Das fehlende Wissen zum Thema Frauen mit Behinderungen schlägt sich in der gelebten Politik wieder. In Österreich gibt es wenige institutionalisierte Mechanismen, um die Anliegen von Frauen mit Behinderungen stark zu vertreten. Damit hinkt Österreich im weltweiten Vergleich gewaltig hinterher. Österreich wurde 15 Jahre nach Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention über deren Umsetzung geprüft. Dies erfolgte mithilfe von vielen Berichten und Statements und gipfelte in persönlichen Befragungssessions in Genf im August 2023. Frauen mit Behinderungen waren sowohl explizit als auch implizit immer wieder Thema und der Austausch vor Ort zeigte auch, dass Österreichs Entwicklung in diesem Bereich noch in den Kinderschuhen steckt und großer Nachholbedarf besteht. Dies spiegeln auch die im September vom UN-Fachausschuss veröffentlichten Handlungsempfehlungen wider. 2019 war das KT-Frauen mitverantwortlich für die Gestaltung der Konferenz »Frauen mit Behinderungen – Müssen wir überhaupt darüber reden« im Zuge der Jahreskonferenz des Österreichischen Behindertenrates und konnte Katrin Langensiepen als erste und einzige EU- Abgeordnete mit sichtbarer Behinderung als Keynotespeakerin gewinnen. Seitdem pflegen wir einen regelmäßigen Austausch. Auch auf nationaler Ebene war das politische Interesse damals groß: Bundeskanzlerin Brigitte Bierlein, Sozialministerin Brigitte Zarfl, Frauenministerin Ines Stilling, ÖGB Vizepräsidentin Korinna Schumann sowie die First Lady, Doris Schmidauer, waren eingeladen – und sie alle kamen!
(Nachbericht: Konferenz 2019 – Österreichischer Behindertenrat)
(Frauen.Wissen.Wien. - Feministische Publikationsreihe des Frauenservice Wien – Heidemarie Egger in: Frauen.Wissen.Wien – 12. Ausgabe, S. 34-44. 2021)
Endnoten
[1] [https://www.behindertenrat.at/wp-content/uploads/2020/02/POSITIONSPAPIER-2019_-20191015.pdf, Seite 29](https://www.behindertenrat.at/wp-content/uploads/2020/02/POSITIONSPAPIER-2019_-20191015.pdf, Seite 29)
Beitrag im Newsletter Nr. 11 vom 16.11.2023
Für den Inhalt sind die Autor*innen des jeweiligen Beitrags verantwortlich.
Autorin
Eva-Maria FINK ist Diplom-Sozialpädagogin und beim Österreichischen Behindertenrat verantwortlich für Veranstaltungen und Öffentlichkeitsarbeit und selbst Mitglied im Kompetenzteam Frauen mit Behinderungen.
Kontakt: e.fink@behindertenrat.at
Interesse an der Mitarbeit beim Kompetenzteam Frauen mit Behinderungen a.strohriegl@behindertenrat.at
Web: behindertenrat.at/bereich/frauen-mit-behinderungen
Redaktion
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