Beitrag in den Europa-Nachrichten Nr. 11 vom 16.11.2023

EU: Mit mehr Bürgerbeteiligung gegen den Lobbyismus? – Die Geschichte der Europäischen Bürgerinitiative »End the Cage Age«

Sarah Händel

Inhalt

Einleitung
Doch dann kam hinter den Kulissen die Wende
Was war passiert?
Bürgerbeteiligung braucht einen höheren Stellenwert
Aber wie kann so ein Ökosystem der Beteiligung auf EU-Ebene aussehen?
The Democratic Odyssey
Ein ständiger Bürgerrat in der EU
Der Weg ist das Ziel
Endnoten
Autorin
Redaktion

Einleitung

Es hätte eine länderübergreifende demokratische Erfolgsgeschichte werden können. Eine Geschichte, die uns zeigt, was erreicht werden kann, wenn europäische Zivilgesellschaften zusammenarbeiten, um Verantwortung für ein wichtiges Thema übernehmen. Die Rede ist von »End the Cage Age«. »End the Cage Age« ist eine europäische Bürgerinitiative, die 2020 gestartet ist. Das Ziel: die Käfighaltung von 300 Millionen Nutztieren in der EU bis 2027 zu beenden, um ein höheres Tierwohl in der Lebensmittelproduktion zu erreichen. Über 130 Organisationen hatten sich zusammengetan, um die hohe Hürde der Sammlung von 1 Millionen Unterschriften aus mindestens 7 EU-Ländern zu überspringen. Die Kampagne war ein großer Erfolg: 1,4 Millionen Unterschriften aus allen 27 EU-Mitgliedsstaaten wurden gesammelt und bei der EU-Kommission eingereicht. Ist die offizielle Hürde geschafft, ist die Kommission verpflichtet, das Anliegen zu behandeln und eine Antwort zu geben. Und die Antwort war schockierend, denn sie lautete: »Ja«. Das erste Mal überhaupt seit der Etablierung der Europäischen Bürgerinitiative im Jahr 2012, hatte die EU-Kommission beschlossen, einen Anstoß aus der Bevölkerung vollumfassend aufzunehmen. In ihrer schriftlichen Antwort erklärte die Kommission, dass sie Gesetzentwürfe erarbeiten und bis Ende 2023 einbringen wird. Sie ging damit eine Verpflichtung zum Handeln ein. Ein bahnbrechender Erfolg, den auch das europäische Parlament mit einer großen Mehrheit von 558 Ja-Stimmen für »End the Cage Age« mitangeschoben hatte. Und tatsächlich wurde geliefert. Eine heimliche Veröffentlichung von Anfang des Jahres zeigt, wie umfassend die Gesetzentwürfe für besseres Tierwohl ausfallen. Sie gingen weit über das Ende der Käfighaltung hinaus und trafen zusätzliche Regelungen in weiteren Bereichen, wie Verstümmelung, Schlachtung und lange Transportwege. Die Entwürfe stellen nach der Organisation »Compassionate Farming« die weltweit weitestgehenden Reformen für Tierwohl dar.

Doch dann kam hinter den Kulissen die Wende

Was in einigen alarmierenden Medienreporten schon anklang, wurde zur Gewissheit, als die Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bei ihrer Rede zur Lage der EU im September das Vorhaben mit keinem Wort mehr erwähnte. Ein spontaner Zusammenschluss aus über 70 europäischen NGOs und Organisatoren anderer EBIs (Europäischer Bürgerinitiativen) versuchte noch mit einem offenen Brief die Kommission dazu zu bringen, ihre Verpflichtung gegenüber den 1,4 Millionen EBI-Unterzeichnenden von »End the Cage Age« aufrechtzuerhalten. Doch als am 17. Oktober dann das Arbeitsprogramm der EU-Kommission veröffentlicht wurde, waren die großen Pläne reduziert auf ambitionslose kleine Anpassungen ausschließlich beim Tiertransport.

Was war passiert?

Dank investigativer Recherchen des Guardian [1].und eines Konsortiums angeführt von den Lighthouse Reports [2].kann nachvollzogen werden, wie außergewöhnlich aggressiv die Fleischlobby sich gegen die geplanten Veränderungen aufgelehnt hat. Eine neu gegründete Lobbygruppe hatte die Kräfte in Brüssel gebündelt und eine »Kampagne der Negativität« gefahren. Sie agierte an den entscheidenden Stellen auf allen Ebenen innerhalb der Kommission, abzielend auf die zuständigen Senior Beamten und Mitarbeiter. Dazu kamen neue, öffentlichkeitswirksame Aktionen im Stile eines Aktivistennetzwerkes. Auch der Report der Europäischen Lebensmittelsicherheitsbehörde (EFSA), die ebenfalls ein Ende der Käfighaltung empfiehlt, wurde delegitimierend angegriffen und als grob irreführend dargestellt. Nach einer Professorin aus Miami bedient sich die Fleischlobby zunehmend gleicher Methoden wie die Öl-Lobby, um nötige Veränderungen abzuwehren [3].Am Ende hatten die Lobbygruppen mit ihren Taktiken Erfolg. Für das Versprechen einer Beteiligung an der europäischen Demokratie ist der ganze Fall ein Trauerspiel und eine Lehrstunde der eigenen Unzulänglichkeit. 1,4 Millionen Bürgerunterschriften, eine öffentliche Zusage der EU-Kommission, umfassende Unterstützung des EU-Parlamentes, eine Vielzahl an Meinungsumfragen mit stabiler über 80-prozentiger Unterstützung der europäischen Bevölkerung für höhere Tierwohlstandards – all das hat den europäischen Institutionen nicht ausgereicht, um sich gegen eine starke Lobby durchzusetzen. Wie stehen nach einer solchen Niederlage die Chancen für die unzähligen Anpassungen, die durch den Green Deal auf EU-Ebene den Rahmen dafür schaffen sollen, dass unsere Gesellschaften klimanachhaltiger werden

Bürgerbeteiligung braucht einen höheren Stellenwert

Damit unsere Demokratien, die europäische aber auch alle anderen, eine bessere Chance haben notwendige Änderungen wirklich anzugehen, muss die Bürgerbeteiligung eine viel größere Rolle spielen. Steigt der Stellenwert der Bürgerbeteiligung und der durch sie erarbeiteten Positionen, steigt auch die Kraft der demokratischen Institutionen sich gegen den Druck starker Lobbygruppen zu wehren. Es braucht ein Ökosystem einer vielfältigen, gut an die existierenden Institutionen angebundenen Bürgerbeteiligung, die eine neue Legitimation und einen Transparenz- und Rechtfertigungsdruck erschaffen kann. Das kann denjenigen die Gestaltungsmacht haben die Kraft geben, wichtige Anliegen durchzutragen, auch wenn ein Lobbysturm wütet. Heute kann die Kommission, trotz ihrer Versprechungen, einfach ein Vorhaben wieder fallen lassen und fühlt sich noch nicht einmal genötigt, dieses Vorgehen den Bürgerinnen und Bürgern zu erklären oder sich zu rechtfertigen. Weil es eine nur schlecht entwickelte gemeinsame europäische Öffentlichkeit gibt, folgt auf ein solches Verhalten kein kollektiver öffentlicher Aufschrei – die meisten Menschen in Europa erfahren überhaupt nichts davon.

Aber wie kann so ein Ökosystem der Beteiligung auf EU-Ebene aussehen?

Daran arbeitet Mehr Demokratie gerade im Zusammenschluss mit vielen anderen europäischen Demokratie-NGOs, Demokratie-Forschenden und Demokratie-Förderern unter dem ungewöhnlichen Titel »The Democratic Odyssey«. Und es ist tatsächlich eine Odyssey auf die wir uns begeben, weil es eine Reise sein wird, von der niemand das Ende kennt. Eine Reise, die auf viele Hindernisse treffen wird und viel Diskussionen und Aufruhr hervorrufen wird und will. Und trotzdem haben wir beschlossen, dass es den Mut braucht aufzubrechen, um neue Ideen, Strukturen und Formate konkret auszuprobieren. Die Odyssey will die Vorstellung von einem Ökosystem demokratischer Beteiligung in der EU greifbarer machen, und zwar zusammen mit all denjenigen, denen die Entwicklung der Demokratie am Herzen liegt.

The Democratic Odyssey

Die demokratische Odyssey ist am 26. September dieses Jahres in Athen gestartet. Am Geburtsort der Demokratie selbst, auf dem Hügel neben der Akropolis, haben sich nach über 3000 Jahren wieder Bürgerinnen und Bürger versammelt. Und wie im alten Griechenland, haben sie auf Augenhöhe miteinander gesprochen. In unserem Fall darüber, was die Demokratie der EU heute braucht, um den Menschen zu dienen. Das grobe Ziel ist es, eine Vision davon zu entwerfen, wie wir in der EU einen permanenten Bürgerrat etablieren und diesen mit wahrhaftiger Legitimation und Wirkungskraft ausstatten.

Ein ständiger Bürgerrat in der EU

Bürgerräte sind ein vielfach erprobtes Instrument, das zufällig ausgewählte Bürgerinnen und Bürger für mehrere Tage zusammenführt. Nach Input von verschiedenen Experten und Expertinnen diskutieren sie in Kleingruppen auf Augenhöhe und erstellen am Ende ein gemeinsames Bürgergutachten zu dem behandelten Thema. So können im Modus der Kooperation politische Lösungen für polarisierende Herausforderungen entstehen. Die Vorschläge integrieren vielfältige Perspektiven und sind nicht von Einzelinteressen oder Machtpolitik geprägt. Der ständige Bürgerrat ist ein Anknüpfungspunkt für das angesprochene, viel größere demokratische Ökosystem. Der ständige Bürgerrat steht dabei für das permanente Anreichern der repräsentativen Demokratie um eine direktere Stimme der europäischen Bürgerinnen und Bürger. Eine Stimme die im Kräftegemenge der europäischen Demokratie vom Außenrand unbedingt mit ins Zentrum rücken muss. Das Prinzip eines ständigen Bürgerrates ist also Ausgangspunkt einer größeren Vision, aber es sind hunderte von Fragen offen. Wer darf die Themen für den sich immer wieder aus neuen ausgelosten Menschen zusammensetzenden Bürgerrat auswählen? Wie kann die Europäische Bürgerinitiative klug mit dem Bürgerrat verknüpft werden? Wie sorgen wir dafür, dass die Ergebnisse des Bürgerrates angemessenes politisches Gewicht bekommen? Wird es irgendwann digitale Volksabstimmungen zu Ergebnissen des Bürgerrates oder zu anderen Bürgeranliegen geben? Wer entscheidet dann über die genaue Fragestellung oder die zur Abstimmung stehenden Vorschläge? Wie kreieren wir einen inklusiven digitalen Raum, in dem wir einen europäischen Debatten- und Beteiligungsraum über alle Sprachbarrieren hinweg aufbauen können? Welche neuen Formen der digitalen Bürgerbeteiligung sind niederschwellig zugänglich und welche Infrastruktur braucht es dafür?

Der Weg ist das Ziel

Die demokratische Odyssey will nicht in der Theorie bleiben. Durch sie sollen Wissenschaftler und Praktikerinnen zusammenkommen, um konkrete Zukunftsbilder der europäischen Demokratie fühlbar und erlebbar zu machen. Wir wollen die Zukunft und den Weg dahin zusammen mit den Bürgerinnen und Bürgern entwickeln. Deswegen organisieren wir 2024 einen eigenen transnationalen europäischen Bürgerrat. Dieser soll als konkrete Lern-Schablone dienen und in seiner Konzeption die verschiedenen demokratischen Ebenen in der EU mitdenken, bis runter zu den Kommunen. Wie genau dieser europäische Bürgerrat gestaltet wird, entsteht gerade in einem Prozess, der so offen wie möglich gehalten werden soll. Ein sogenanntes »Constituency Network« ist ins Leben gerufen worden. Es steht allen Organisationen offen, die sich einbringen möchten. Darüber hinaus wird es Möglichkeiten geben, sich über die von Mehr Demokratie mitgestaltete Webinarreihe »Power to the People« über das Odyssey-Projekt näher zu informieren und sich auch als Einzelperson zu beteiligen. Die Events dazu sind gerade in Planung. Die europäische Demokratie zu erneuern, sie zu vertiefen, sie wehrhaft zu machen gegen ihre Vereinnahmung von Einzelgruppeninteressen, ist wahrhaftig eine Odyssey-Reise. Gegen die Macht der Einzelgruppen wollen wir die Kraft der Vielen setzen – ob wir es schaffen, dafür die geeigneten Rahmenbedingungen und kreative Formate zu erdenken, wird unsere kollektive Ideenkraft und viel Experimentierraum brauchen. Der Erfolg der Demokratie ist heute mehr denn je eine Frage ihrer konkreten Ausgestaltung.

Wenn Sie zu Veranstaltungen informiert werden wollen, zur Democratic Odyssey und weiteren Demokratie-Themen, können Sie sich hier eintragen.

Website der »Democratic Odyssey«: www.democraticodyssey.eui.eu


Endnoten

[1] https://www.theguardian.com/environment/2023/oct/23/lobby-groups-fought-hard-and-dirty-against-eu-ban-on-caged-farm-animals

[2] https://www.lighthousereports.com/investigation/animal-welfare-wrecked/

[3] https://www.theguardian.com/environment/2023/oct/27/revealed-industry-figures-declaration-scientists-backing-meat-eating


Beitrag in den Europa-Nachrichten Nr. 11 vom 16.11.2023
Für den Inhalt sind die Autor*innen des jeweiligen Beitrags verantwortlich.

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Autorin

Sarah Händel ist Mitglied im Bundesvorstand von Mehr Demokratie e.V. und die Landesgeschäftsführerin von Mehr Demokratie e.V. in Baden-Württemberg.

Kontakt: sarah.haendel@mitentscheiden.de

Weitere Informationen: https://www.mitentscheiden.de/


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