Inhalt
Einleitung
Eine Politik für eine aktive Teilhabe von Menschen mit Behinderungen in Europa
Eine Politik für mehr Inklusion und Barrierefreiheit für Menschen mit Behinderungen in Europa
Herausforderungen und Chancen bei der aktiven Teilhabe von Menschen mit Behinderungen
Autorin
Redaktion
Einleitung
Sowohl Europa als auch Inklusion liegen mir sehr am Herzen. Um die Teilhabemöglichkeiten von Menschen mit Behinderungen auch auf europäischer Ebene zu fördern, bin ich daher seit meiner Wahl in das Europäische Parlament Mitglied der interfraktionellen Intergroup (Arbeitsgruppe) Behinderungen. Dabei handelt es sich um einen informellen Zusammenschluss von Mitgliedern des Europäischen Parlaments (MdEPs) verschiedener Nationalitäten aus beinahe allen Fraktionen. Die Mitglieder der Intergroup setzen sich leidenschaftlich für die Förderung der Behindertenpolitik sowie die uneingeschränkte Wahrnehmung der Grund- und Menschenrechte von Menschen mit Behinderungen auf nationaler und vor allem europäischer Ebene ein. Dabei kooperieren wir gegenwärtig mit über einhundert Mitgliedsorganisationen aus über 36 europäischen Ländern. Bei der Intergroup handelt es sich um ein wichtiges Diskussionsforum und eine treibende Kraft für die Verteidigung und Förderung der Rechte von Menschen mit Behinderungen im Europäischen Parlament.
Eine Politik für eine aktive Teilhabe von Menschen mit Behinderung in Europa
Unser Fokus liegt auf einer integrativen europäischen Politik mit dem Ziel, die Chancengleichheit für alle Menschen mit Behinderungen – gleich ob Mann oder Frau, jung oder alt – in der Realität auch wirklich zu erreichen. Es ist ungemein wichtig, Menschen mit Behinderungen in alle Sphären der Politik – auch jene der EU – einzubeziehen. Wenn man dies unterlässt, übergeht man nicht nur die Bedürfnisse vieler Millionen Menschen, sondern beraubt auch die Politik und die damit verbundene Gesetzgebung einer äußerst wertvollen Perspektive. Aus diesem Grund verfolgen wir aktiv die europäischen politischen Prozesse und beraten und koordinieren uns dabei umfassend untereinander und mit den anderen Institutionen und Agenturen auf europäischer Ebene. Ebendieser Koordinierung kommt eine Rolle zu, welche keinesfalls unterschätzt werden sollte, handelt es sich bei der Europäischen Kommission doch um die Exekutive der EU, während die Kollegen vom Rat der EU (in welchem die Mitgliedstaaten vertreten sind) gemeinsam mit uns MdEPs Gesetzgeber darstellen. Es ist also für uns Mitglieder der Intergroup von immenser Wichtigkeit, auch den anderen »Brüsseler« Kollegen die Relevanz von Behindertenpolitik vor Augen zu führen. Ein mahnendes Beispiel wäre hier etwa die Equal Treatment Directive. Dabei handelt es sich um einen wichtigen horizontalen Gesetzesvorschlag mit dem Ziel einer verbesserten Gleichbehandlung, welcher jedoch seit Jahren durch einige Mitgliedstaaten im Rat blockiert wird. Dabei hat die EU trotz aller Schwierigkeiten und langen Prozedere viele Rechtsakte erlassen, in welchen die Probleme von Menschen mit Behinderung adressiert worden sind. Exemplarisch können hier etwa die Richtlinie zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf oder die Verordnung über die Rechte von behinderten Flugreisenden und Flugreisenden mit eingeschränkter Mobilität genannt werden. Während erstere Diskriminierung aufgrund von einer Behinderung am Arbeitsplatz und in Beschäftigungsfragen verbietet, legt letztere bestimmte Vorschriften für Fluggesellschaften fest, um den Bedürfnissen von behinderten Flugreisenden gerecht zu werden. Der eine Rechtsakt regelt also die Gleichbehandlungsfragen am Arbeitsplatz, wohingegen der andere dafür sorgt, dass die Rechte von Menschen mit Behinderung auch während unternommener Flugreisen gewahrt bleiben. Darüber hinaus hat die Europäische Kommission 2021 die aktuelle Version ihrer Behindertenstrategie für diese Dekade angenommen. In dieser werden Projekte vorgestellt, welche in Europa dazu beitragen sollen, Menschen mit Behinderung ein unabhängiges Leben mit guter Lebensqualität zu ermöglichen, Barrierefreiheit sicherzustellen sowie eine gleichberechtigte Teilhabe zu gewährleisten. An dieser Stelle zwei Beispiele; Der EU-weit gültige Behindertenausweis sowie das Projekt »AccessibleEU«: Bei »AccessibleEU« handelt es sich um eine Art Zentrum, welches Informationen und Unterstützung bietet, um Menschen mit Behinderungen die Arbeit zu erleichtern. Die Plattform soll Menschen über Barrierefreiheit aufklären und dafür sorgen, dass die relevanten Interessengruppen zusammengebracht und Informationen online weitergegeben werden. Menschen mit Behinderung können sich ebenso wie die Verantwortlichen in Unternehmen über die Vorgaben zu Barrierefreiheit informieren. Dadurch soll dazu beigetragen werden, dass am Ende in den verschiedenen europäischen Mitgliedstaaten das geltende Recht auch tatsächlich eingehalten wird. Der europäische Behindertenausweis soll Menschen mit Behinderungen, wenn sie in ein anderes Land der EU reisen, Zugang zu denselben Ermäßigungen und Vorzugsbedingungen ermöglichen wie in ihrem eigenen Land. Dies ist zweifelsohne ein wichtiger und längst überfälliger Schritt, damit die betroffenen Menschen eine angemessene Unterstützung erhalten können. Gleichwohl ist es hier unseres Ermessens geboten, in einem nächsten Schritt die Gültigkeit auch über nur kurze Auslandsaufenthalte hinaus zu verlängern, etwa im Falle eines längeren Urlaubs oder Umzugs.
Eine Politik für mehr Inklusion und Barrierefreiheit für Menschen mit Behinderung in Europa
Sichtbarkeit »der« sowie Bewusstsein »für« Probleme von Menschen mit Behinderung sind meiner Meinung nach wesentlich, um eine europäische Behinderten-Politik erfolgreich zu gestalten und dadurch Inklusion und Barrierefreiheit zu fördern. Vor diesem Hintergrund richtet das Europäische Parlament in jedem Jahr verschiedene Veranstaltungen wie etwa das das Europäische Parlament der Menschen mit Behinderungen (EPPD) aus. Bei diesem kamen im Mai über 600 politische Entscheidungsträger und Behindertenvertreter im Europäischen Parlament in Brüssel zusammen, um über die Rechte von Menschen mit Behinderungen zu diskutieren und über Forderungen der europäischen Behinderten-Bewegung zu beraten. Uns MdEPs stehen neben den Genannten, auch verschiedene andere parlamentarische Instrumente zur Verfügung, um Bewusstsein für die Belange von Menschen mit Behinderung zu schaffen und an die Kommission als Impulsgeberin für Gesetze heranzutreten. Zu den wichtigsten zählen die parlamentarischen Fragen, die sog. »Initiativberichte« sowie Änderungsanträge bei konkreten Gesetzesvorschlägen. Mit einer parlamentarischen Frage wenden wir uns an die Kommission im Falle von Klärungsbedarf oder aber auch, wenn wir ihrerseits Untätigkeit in einer drängenden Frage vermuten. Dahingegen können wir mittels der parlamentarischen Initiativberichte in einer relevanten politischen Frage vorab die Position des Parlaments vorlegen, während wir mit der Einreichung von Änderungsanträgen die vorgelegten Gesetzesvorschläge der Kommission konkret nach unseren Vorschlägen abändern können. Durch die Nutzung der verschiedenen Instrumente sowie die Schaffung von Problembewusstsein soll – und kann – ein intensiver und fruchtbarer Dialog zwischen den Menschen mit Behinderung einerseits und den sie repräsentierenden Organisationen andererseits bewerkstelligt werden. An dieser Stelle ist es allerdings wichtig zu betonen, dass viele Fragen, welche mit der Stellung von Menschen mit Behinderungen zusammenhängen – da Sozialpolitik – in den nationalstaatlichen Regelungsbereich fallen. Die Mitgliedstaaten halten hier leider häufig eisern an ihrer Kompetenz fest, was große, notwendige und wünschenswerte Schritte oftmals sehr erschwert.
Herausforderungen und Chancen bei der aktiven Teilhabe von Menschen mit Behinderungen
Wie Sie und ich wissen, sind die Herausforderungen, mit welchen Menschen mit Behinderung tagtäglich konfrontiert werden, zahllos und vielschichtig; von Diskriminierung und Vorurteilen über mangelnde Barrierefreiheit und schlechte Gesundheitsversorgung bis hin zu nicht-inklusiver Bildung und der Ausstattung von Arbeitsplätzen. Als Juristin und Mitglied des Rechtsausschusses liegt mein persönlicher Fokus auf der Gleichbehandlung und den justiziellen Rechten der Menschen mit Behinderung. Hier ist meiner Auffassung nach einer umfassenden und koordinierten Strategie, sowohl auf europäischer, nationaler und auf regionaler Ebene erforderlich. Zentrale rechtliche Instrumente wären etwa der Erlass von Antidiskriminierungsgesetzen, welche an den Erfordernissen der Zeit und den Bedürfnissen der Menschen ausgerichtet sind. Diese sollten insbesondere auf die Bereiche Bildung, Beschäftigung, Gesundheitswesen und öffentlichen Dienstleistungen abzielen. In der Praxis, im Bereich der Rechtshilfe, ist es dringend geboten, einen barrierefreien Zugang zum Rechtssystem sicherzustellen. Nicht nur Gerichtsgebäude, Unterlagen und Verfahren müssen barrierefrei sein, damit Menschen mit Behinderungen effektiv am Justizsystem teilhaben können. Ebenso müssen auf der einen Seite Richter, Anwälte und das Justizpersonal in Fragen von Behinderung und in Bezug auf die Rechte von Menschen mit Behinderungen geschult werden, um sicherzustellen, dass sie angemessen auf die betreffenden Fälle reagieren können. Auf der anderen Seite sollte eine kostengünstige oder kostenlose Rechtsberatung und Unterstützung für Menschen mit Behinderung bereitgestellt werden, damit sie besser imstande sind, ihre Rechte verteidigen zu können. Hier ist es allerdings vor allem an den Mitgliedstaaten, sich entsprechender Probleme anzunehmen und die notwendigen Vorkehrungen zu treffen. Der andere wichtige Punkt, welchem ich in meiner persönlichen Arbeit versuche, gerecht zu werden, ist die Verbesserung der Rahmenbedingungen für eine Beteiligung und Selbstvertretung von Menschen mit Behinderung. Diese müssen an der Gestaltung von Richtlinien und Verordnungen, die ihre Rechte betreffen aktiv beteiligt, ihre Perspektive einbezogen werden. Ebenso wichtig ist die Arbeit von Selbstvertretungsorganisationen, welche für Menschen mit Behinderungen eintreten. Auch diesen muss eine Plattform geboten werden, damit sie für sich und ihre Probleme auf der europäischen Ebene Gehör finden können. Hier bin ich beispielsweise froh, mich alljährlich mit Vertretern von EU for Trisomy 21 in Brüssel auszutauschen und so die Arbeit dieses wichtigen Netzwerkes zu unterstützen. Auch mit Blick auf die justiziellen Rechte ist ein persönlicher Kontakt äußerst wichtig; so können Erfahrungen in Bezug auf bewährte Verfahren zur Verbesserung der Gleichbehandlung und des Zugangs zur Justiz aus anderen Ländern miteinander geteilt werden – etwa ebenfalls im Rahmen von Veranstaltungen oder durch das weiter oben genannte Projekt AccessibleEU. Von den dadurch gewonnenen Erkenntnissen profitieren primär die Menschen mit Behinderung, aber natürlich auch die Gesellschaft als Ganzes. Die Wahrung der Rechte von Menschen mit Behinderung ist für die Schaffung einer inklusiveren und gerechteren Gesellschaft von entscheidender Bedeutung. Die Europäische Union im Allgemeinen sowie das Europäische Parlament im Speziellen arbeiten sehr engagiert daran, ebendiese zu schützen und zu fördern. Die EU hat bedeutende Richtlinien und Verordnungen erlassen, um Diskriminierung zu bekämpfen und die Barrierefreiheit zu fördern. Der Schutz der Rechte von Menschen mit Behinderung ist nicht nur eine ethische Verpflichtung, sondern auch eine rechtliche und soziale Notwendigkeit. Die Bemühungen auf europäischer Ebene sind ein wichtiger Schritt in Richtung einer Gesellschaft, in der die Rechte und Chancen von Menschen mit Behinderung respektiert und geschützt werden. Es bleibt jedoch eine fortwährende Aufgabe, diese Anstrengungen zu verstärken und sicherzustellen, dass Menschen mit Behinderung auf allen Ebenen der Gesellschaft gleichberechtigt teilhaben können.
Beitrag im Newsletter Nr. 11 vom 16.11.2023
Für den Inhalt sind die Autor*innen des jeweiligen Beitrags verantwortlich.
Autorin
Marion Walsmann ist seit 2019 Mitglied des Europäischen Parlaments und ist stellvertretende Vorsitzende des Rechtsausschusses, Mitglied des Ausschusses für Binnenmarkt und Verbraucherschutz, stellvertretendes Mitglied des Ausschusses für Industrie, Forschung und Energie und stellvertretende Vorsitzende der Delegation im Gemischten Parlamentarischen Ausschuss EU-Nordmazedonien. Von 2015 bis 2018 war Marion Walsmann die Delegierte des Landtags im Europäischen Ausschuss der Regionen. Sie war Leiterin der Staatskanzlei und Staatsministerin für Europaangelegenheiten (2010-2013), davor war sie seit 2008 Staatsministerin der Justiz und seit 2009 Staatsministerin der Finanzen.
Kontakt: marionerika.walsmann@europarl.europa.eu
Redaktion
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