Beitrag in den Europa-Nachrichten Nr. 10 vom 12.11.2020

Europa als Anker?

Prof. Dr. Mathias Albert/ Ulrich Schneekloth

Inhalt

Jugendliche in Deutschland und die EU
Freizügigkeit, kulturelle Vielfalt, Frieden, Demokratie
Insgesamt positives Bild
»Vertraute« Europäer/innen
Autoren
Redaktion

Jugendliche in Deutschland und die EU

Welche Rolle spielt die Europäische Union heute für Jugendliche in Deutschland? Wie haben sich ihre Einstellungen bei europabezogenen Themen in den letzten Jahren gewandelt? Ist die EU, sind Europa und die europäische Integration für Jugendliche überhaupt ein nennenswertes Thema neben Klimawandel, Pandemie, oder der Sorge um die eigene Bildung und berufliche Zukunft?

Im vorliegenden Beitrag wollen wir diesen Fragen auf Grundlage der Ergebnisse der 18. Shell Jugendstudie nachgehen. Bereits seit 1953 widmet sich dieses sozialwissenschaftliche Langzeitprojekt den Entwicklungen bei den Lebenslagen und den typischen Lebensentwürfen der jeweiligen jungen Generation in Deutschland. Zuletzt haben wir im Frühjahr 2019 im Rahmen der Studie etwas über 2.500 junge Menschen im Alter zwischen 12 und 25 Jahren auf repräsentativer Basis befragt.

Der Schwerpunkt dieses Beitrages liegt darauf, zum Thema Jugend und die EU einige längerfristige Entwicklungen in den Blick zu nehmen und die Sichtweisen Jugendlicher fachlich einzuordnen. Eine solche unvoreingenommene Einordnung ist vor allem auch deshalb vonnöten, da in den letzten Jahren vielfältige Krisendiagnosen insbesondere das (mediale) Erscheinungsbild der Europäischen Union prägten und auch aktuell prägen: fehlender Zusammenhalt in Fragen des Umgangs mit Migration sowie auch aktuell bei der Bewältigung der Folgen der Corona-Pandemie; Uneinigkeit in Wirtschafts-, Finanz- und Außenpolitik und Probleme mit der Rechtsstaatlichkeit in einigen Mitgliedstaaten; und schließlich der Brexit. Um das in der EU versinnbildlichte Projekt der europäischen Integration scheint es nicht zum Besten bestellt. Aber gerade der Brexit erinnert in diesem Zusammenhang auch daran: die Einstellungen zur EU variieren bisweilen stark nach Nationalität, nach Geschlecht, nach sozialer Schicht und nach Alter – und gerade der Austritt der Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union geschah entgegen der überwiegenden Mehrheitsmeinung seiner jüngeren Bürgerinnen und Bürger.

Wir nehmen im Folgenden zunächst in den Blick, was Jugendliche mit Europa verbinden. Dabei interessieren uns insbesondere auch relevante Unterschiede etwa nach sozialer oder auch siedlungsstrukturell-geographischer Herkunft, nach Geschlecht, oder nach sozialem Status. Spezifisch fragen wir dann nach dem Vertrauen Jugendlicher in Bezug auf die EU, bevor wir hieraus den vorherrschenden Grundtypus des bzw. der »vertrauten Europäers/in« destillieren, um in diesem Zusammenhang mit einigen Überlegungen zur aktuellen Rolle der EU im Einstellungsgefüge der Jugendlichen in Deutschland zu schließen.

Freizügigkeit, kulturelle Vielfalt, Frieden, Demokratie

Die Shell Jugendstudien haben Jugendliche im Abstand von dreizehn Jahren 2006 und 2019 anhand von 13 Begriffen danach befragt, was sie mit der EU verbinden. Bemerkenswert ist dabei zunächst, dass es in über einem Jahrzehnt keine Veränderungen auf den ersten fünf Plätzen – oder in deren Reihenfolge – sowie auf dem letzten Platz gab. 2006 wie 2019 verbinden die Jugendlichen, mit ebenfalls nur geringen Veränderungen in den jeweiligen Prozentzahlen, mit der EU an erster Stelle »Freizügigkeit (reisen, studieren, arbeiten)«, gefolgt von »kultureller Vielfalt«, »Frieden«, »Demokratie« und »Bürokratie«. An letzter Stelle und damit nur bei einer Minderheit rangiert, 2006 noch deutlich stärker ausgeprägt als 2019, »Verlust der eigenen Heimatkultur«.

So bedeutsam wie die Stabilität in der Rangreihe der Bewertungen sind aber auch die Veränderungen: 2006, also vor der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise bzw. der »Eurokrise«, verbanden 47% der Jugendlichen mit Europa »wirtschaftlichen Wohlstand«, aber 56% »Arbeitslosigkeit«. 2019 hatten sich diese Bewertungen umgekehrt: 70% verbanden mit der EU »wirtschaftlichen Wohlstand«, aber nur 30% »Arbeitslosigkeit«. Gleichzeitig verbanden 54% die EU im Jahre 2019 mit »sozialer Absicherung« (nach 33% in 2006). Insgesamt lässt sich hier im Verlaufe der Zeit eine deutlich positivere Bewertung Europas durch die junge Generation beobachten. Als »Grundleistung« werden Freizügigkeit, kulturelle Vielfalt und Frieden wertgeschätzt, daneben steigt das Ansehen der EU in Bezug auf ihre wirtschaftlichen und sozialen Funktionen. Vor allem bemerkenswert erscheint dabei jedoch auch, dass diese zunehmend positive Einschätzung nicht etwa durch negativere Assoziationen etwa in den Bereichen Migration und innere Sicherheit kompensiert wird. Deutlich weniger Jugendliche verbinden im Jahre 2019 »Mehr Kriminalität« bzw. »Nicht genug Kontrollen an den Grenzen« mit der EU als noch im Jahre 2006.

Insgesamt positives Bild

Die Frage danach, was Jugendliche mit der EU verbinden, weist auf ein positives Gesamtbild hin. Diese Diagnose erhärtet sich bei der direkten Frage nach dem Bild, welches die EU bei Jugendlichen hervorruft: Bei insgesamt 50% der Jugendlichen ist das Bild »sehr positiv« oder »positiv« und nur bei 8% »negativ« oder »sehr negativ«. Hier lässt sich jedoch eine Reihe bedeutsamer Unterschiede beobachten. So spielt das Geschlecht für die Einschätzung der EU praktisch keine Rolle. Ausgeprägt sind Unterschiede bei einer Differenzierung nach Migrationshintergrund und nach Ost-West: so haben etwa 57% der Jugendlichen ohne deutsche Staatsbürgerschaft ein sehr positives oder positives Bild von der EU, bei den Jugendlichen ohne Migrationshintergrund sind es 50%. Auch ist das positive Bild in den westlichen Bundesländern etwas stärker ausgeprägt als in den östlichen.

Viel mehr als diese leicht unterschiedlichen Akzentuierungen in der Bewertung der EU fallen jedoch die Unterschiede nach Siedlungsform und besonders nach sozialer Herkunft ins Auge: während 54% der Jugendlichen aus den Kernen städtischer Ballungsgebiete ein sehr positives oder positives Bild von der EU haben, ist dies bei nur 36% der Jugendlichen aus dem ländlichen Raum der Fall. Die stärksten Unterschiede zeigen sich jedoch bei einer Differenzierung nach sozialer Schicht: Fast uneingeschränkt gilt: je höher die soziale Schicht, umso positiver das Bild der Europäischen Union. So haben etwa 70% der Jugendlichen aus der oberen sozialen Schicht ein sehr oder ziemlich positives Bild, aber nur 31% aus der unteren sozialen Schicht.

Bemerkenswert hinsichtlich dieser Unterschiede ist, dass sie in weiten Teilen verschwinden, wenn man die Jugendlichen etwa danach fragt, ob sich die Europäische Union zu einem gemeinsamen Staat zusammenschließen sollte (dies lehnt die überwiegende Mehrzahl ab). Das, was Jugendliche mit der Europäischen Union verbinden, spiegelt insofern kaum grundsätzliche Einstellungen für ein gesamtstaatliches Integrationsprojekt wider. Dieses Projekt erscheint weniger als einheitsstaatliches Ziel, sondern vielmehr als vorausgesetzter Rahmen für Möglichkeiten der individuellen Entfaltung: in diesem Sinne deuten die angesprochenen Unterschiede vor allem darauf hin, dass es je nach Bildungsstatus und Wohnort deutlich unterschiedliche Möglichkeiten gibt, die individuellen Perspektiven, welche etwa die hoch wertgeschätzte Freizügigkeit bietet, für sich selber in der Praxis auch zu nutzen.

»Vertraute« Europäer/innen

Es herrscht bei der weit überwiegenden Mehrheit der Jugendlichen in Deutschland keine »Europa-Euphorie«, aber eine hohe Wertschätzung für das, was einem die Europäische Union ermöglicht. Etwas überspitzt ausgedrückt: Jugendlichen schätzen die EU eher dafür, was sie bislang geleistet hat, und weniger dafür, was sie noch werden könnte. Jugendliche in Deutschland erscheinen in diesem Sinnen gegenwärtig als eine Art »vertraute Europäer/innen«, denen durchaus etwas an der Bewahrung des Erreichten liegt, ohne dass allerdings von ihnen zuletzt ein größerer Impetus für eine weitere Integration ausgegangen wäre. Dabei lässt sich nicht voraussagen, inwieweit sich diese Einstellung in Zukunft möglicherweise wandeln wird. Die tiefgreifenden Änderungen, die die aktuelle Corona-Pandemie in Deutschland, Europa und in der ganzen Welt auch für Jugendliche mit sich bringt, dürften auch diesbezüglich nicht ohne Folgen bleiben. Sicher erscheint dabei jedoch, dass ein möglicher Wandel eng damit zusammenhängen wird, inwieweit sich die EU in den Augen der Jugendlichen in den nächsten Jahren als relevanter und erfolgreicher Akteur in den für Jugendliche bedeutsamen gesellschaftlichen Zukunftsfragen positionieren kann: dies betrifft auf der einen Seite Maßnahmen gegen den Klimawandel, auf der anderen Seite die Rolle der EU bei der Bekämpfung der wirtschaftlichen Folgen der globalen Pandemie, mit ihren erwartbaren unmittelbaren Auswirkungen für die Chancen auf Ausbildungsplätze und den Berufseinstieg auch in Deutschland.


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Für den Inhalt sind die Autor*innen des jeweiligen Beitrags verantwortlich.

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Autoren

Prof. Dr. Mathias Albert ist seit 2001 Professor für Politikwissenschaft an der Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld. Zu seinen Forschungsgebieten zählen sowohl verschiedene Bereiche der inter-nationalen Politik als auch die Jugendforschung. Prof. Albert ist als Leiter des Autorenteams für die Shell Jugendstudie verantwortlich.

Kontakt: [mathias.albert@uni-bielefeld.de](mailto: mathias.albert@uni-bielefeld.de)

Ulrich Schneekloth ist Sozialwissenschaftler und ist bei Kantar Public Senior Direktor und Leiter des Forschungsbereichs »Familie, Bildung, Bürgergesellschaft«. Er leitet das Kantar Public-Team für die Ju-gendstudie und forscht zu Lebenslagen, Familie, Kindheit, Generationenbeziehungen, und Methoden der empirischen Sozialforschung.

Kontakt: [ulrich.schneekloth@kantar.com](mailto: ulrich.schneekloth@kantar.com)

Weitere Informationen: https://www.shell.de/ueber-uns/shell-jugendstudie.html


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