Beitrag in den Europa-Nachrichten Nr. 10 vom 12.11.2020

Corona und die Auswirkungen auf die Internationale Jugendarbeit

Marie-Luise Dreber

Inhalt

Sprung in der Anwendung von Kommunikationsmedien
Chance für die Digital Natives
Situation der Träger: zwischen Hoffen und Bangen
Autorin
Redaktion

»Beim physischen Austausch auf Sicht fahren, beim virtuellen Austausch Neues entwickeln.«

Internationale Jugendarbeit ermöglicht es jungen Menschen, als Europäer/-innen und Weltbürger/-innen aufzuwachsen. Sie leistet einen unverzichtbaren Beitrag für ein friedliches und respektvolles Miteinander. Dafür sind zwei Dinge essentiell: Junge Menschen begegnen sich in einem anderen Land in einem pädagogischen Setting und sie reisen dafür. Beide Aspekte haben durch die Corona-Pandemie einen schweren Dämpfer erfahren. Es gilt, das Überleben einer für das Aufwachsen junger Menschen in einer globalisierten Welt wesentlichen Struktur für Austausch und Zusammenarbeit zu sichern. Es gilt aber auch Innovationspotenziale zu nutzen. Die liegen vor allem im Digitalen.

Der Lockdown im März war ein erheblicher Einschnitt. Jugendbegegnungen und Fachkräfteaustausche wurden abgesagt, Langzeitfreiwillige kurzfristig nach Deutschland zurückgeflogen. Nur wenige konnten ihren Aufenthalt als Au-pair, Freiwillige ode im Schulaustausch in Deutschland oder im Ausland fortsetzen. Viele junge Menschen, die sich auf einen Sommer mit Gleichaltrigen aus aller Welt gefreut hatten oder auf das Kennenlernen eines ihnen noch unbekannten Landes, waren enttäuscht. Träger der Internationalen Jugendarbeit fragten sich, wie es nun weitergehen soll. Damals hofften die meisten das Phänomen Corona sei ein kurzfristiges, und viele Träger rechneten damit, im Sommer – der Hauptsaison für Austausche, Begegnungen und Workcamps – wieder in den Normalbetrieb übergehen zu können. Inzwischen sind wir eines Besseren belehrt worden. Wir wissen nun, dass uns die Corona-Pandemie noch lange beschäftigen wird. Die Mitte Oktober ausgebrochene zweite Welle ist ein sicheres Indiz dafür.

Sprung in der Anwendung von Kommunikationsmedien

IJAB reagierte damals, wie andere Institutionen und Träger der Internationalen Jugendarbeit auch. Internationale Programme mussten abgesagt, Tagungen und Begegnungen auf Online-Formate umgestellt werden. Viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gingen ins Home-Office. Als Fachstelle standen wir in einer doppelten Verantwortung: Die eigenen Aktivitäten aufrechterhalten und unsere Mitglieder – und alle im Arbeitsfeld Internationale Jugendarbeit Tätigen – über aktuelle Entwicklungen, Entscheidungen der Fördermittelgeber, Entwicklungen in anderen Ländern, Hilfsangebote der Politik und virtuelle Alternativen zum »analogen« Austausch informiert halten. Auch wir standen vor der Herausforderung, einen technologischen Sprung vollziehen zu müssen, um handlungsfähig zu bleiben.

Die Video-Livestream-Serie »At Home Around The World« ist ein gutes Beispiel dafür. Engagierte Kolleginnen und Kollegen bauten ein kleines Studio, von dem aus sie in unregelmäßigen Abständen internationale Partner zur Situation von Jugendarbeit und Jugendinformation in ihren jeweiligen Ländern befragten und diese Interviews live auf Facebook streamten.

Solche Kontakte zu unseren Partnern waren uns besonders wichtig, denn wir wissen, dass in vielen Ländern der Staat keine oder nur geringe finanzielle Unterstützung für die Jugendarbeit leistet. Dort ist die Situation der Austauschorganisationen prekär. Die Partner erhalten vielfach keine Strukturförderung und sind projektbezogen auf europäische Fördermittel angewiesen. Doch wo Corona-bedingt keine Projekte durchgeführt werden können, gibt es auch keine Förderung. So wächst die Gefahr, dass Partnerstrukturen wegbrechen.

Chance für die Digital Natives

Wo direkte Begegnungen nicht möglich sind, bleiben nur die virtuellen. Viele Träger haben das frühzeitig erkannt und nicht nur Tagungen und interne Absprachen auf Zoom und Skype umgestellt. Sie haben begonnen aktiv zu experimentieren, wie Jugendbegegnungen oder ein Workcamp online funktionieren können. Oft war das die Stunde der Digital Natives in Organisationen – ihr Know-how war wegweisend.

Liliia und Natalia, zwei ukrainische Langzeitfreiwillige im Bonner Büro von Service Civil International, haben beispielsweise ein virtuelles Workcamp entwickelt und erprobt. Sie sagten uns:

»Wir hatten 11 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus 8 Ländern – aus Spanien, Russland, der Ukraine, Italien, Deutschland, Sri Lanka und der Türkei. Der Kontakt untereinander war wirklich sehr eng und er ist auch nach dem Ende des Workcamps nicht abgerissen. Es war schön, einen Einblick in die unterschiedlichen Länder zu bekommen. Unsere russische Teilnehmerin berichtete zum Beispiel über ein Urban Gardening-Projekt in ihrer Heimatstadt. Dadurch, dass wir für das Workcamp eine Facebook-Gruppe angelegt hatten, geht der Austausch weiter.«

Die Stadt Oberhausen führt jährlich die Jugendbegegnung »Multi« durch, an der sich mehrere Hundert junge Menschen aus der ganzen Welt beteiligen. In diesem Jahr fand sie erstmals online statt. Vivian Hagedorn, die als Freiwillige das Event begleitete, berichtete:

»Für uns war wichtig, dass wir nichts anbieten, was einfach nur konsumiert werden kann. Alles war immer mit der Aufforderung verbunden, uns etwas zu schicken, zum Beispiel Fotos oder Videos. Traditionell haben wir bei der Multi ein Event, das wir Luftballons für den Frieden nennen. In diesem Jahr haben wir dazu aufgerufen, Seifenblasen für den Frieden zu pusten und uns Videos davon zu schicken. Wir haben 50 Videos bekommen – das hat uns überrascht.«

Solche und andere Beispiele machen Mut. Wir haben untersucht, welche digitalen Tools sich für welche Projekte besonders eignen, haben Beispiele guter Praxis gesammelt und sie in einer Broschüre zugänglich gemacht. Wir wissen aber auch, dass eine Broschüre nicht reicht. Viele Fachkräfte fühlen sich überfordert. Sie brauchen Qualifizierung und Unterstützung bei der Anwendung des Erlernten. Schließlich müssen auch Fördermittelgeber reagieren, ihre Richtlinien flexibler gestalten und digitale Formate explizit zu ihrem Gegenstand machen. Dafür gibt es ermutigende Anzeichen. Das Deutsch-Französische Jugendwerk plant eine eigene digitale Förderlinie, die Deutsch-Türkische Jugendbrücke hat eine flexible Förderlinie für Kleinstprojekte eingerichtet und auch die Europäische Kommission und der Bund möchten dem Digitalen größere Unterstützung zukommen lassen. Wir arbeiten daran, dass sich all dies zu einer Strategie für eine digitale Internationale Jugendarbeit zusammenfügt. Zugleich wissen wir, dass digitaler Austausch physische Begegnungen niemals ersetzen, sondern nur ergänzen kann.

Situation der Träger: zwischen Hoffen und Bangen

IJAB hat im Frühjahr und Sommer zwei Trägerbefragungen durchgeführt, um Rückschlüsse zur Situation der Träger ziehen zu können. Die Ergebnisse beider Befragungen wurden in Online-Foren diskutiert. Zunächst kann festgestellt werden: Die staatlichen Hilfen waren im Wesentlichen erfolgreich. Bisher hat die Infrastruktur der Internationalen Jugendarbeit überlebt. Grund, sich zurückzulehnen, ist dies dennoch nicht, denn die Bedingungen der Träger sind sehr unterschiedlich und bedürfen differenzierter Unterstützungsangebote. Umso länger die Pandemie andauert, desto größer ist die Gefahr, dass Organisationen nicht überleben.

Die Hälfte der Organisationen gab an, dass sie keine finanziellen Ausfälle hatten. Das sind Träger, die vor allem Mittel aus der öffentlichen Förderung beziehen, wie dem Kinder- und Jugendplan, Landesmittel oder Mittel der Kommunen. Insbesondere Organisationen, die viele Individualmaßnahmen wie Schüleraustausch, Au-pair-Aufenthalte oder auch verschiedene Freiwilligendienste anbieten und deren Angebot sich auf diesen Bereich fokussiert, geben ein höheres finanzielles Risiko an, teilweise bis hin zur existenzbedrohenden Lage. Hier ist noch offen, wie weit die Sondermittel der Bundesregierung greifen können.

Jenseits der Situation im eigenen Lande müssen wir unsere Aufmerksamkeit auch auf unsere internationalen Partner richten. Aus der Region Suceava in Rumänien berichtete uns Katharina Haberkorn vom Europabüro Schwaben:

»Es fehlt dort wirklich an allem. Soziale Einrichtungen, die Hausaufgabenbetreuung anbieten und in denen die Kinder eine warme Mahlzeit erhalten, berichten, dass jetzt ganze Familien vor ihrer Tür stünden und nach Essen fragten. Wie diese Kinder und Jugendlichen wieder in funktionierende Strukturen eingefügt werden können, die dann auch internationalen Austausch möglich machen, ist eine offene Frage.«

Erneut wirft dies die Frage auf, ob nationale Förderstrukturen nicht noch stärker unsere internationalen Partner in den Blick nehmen müssen und nicht nur die Träger im eigenen Lande. Diese Frage stellt sich umso mehr, je mehr wir realisieren, dass in einer wachsenden Zahl von Ländern, auch in Europa, Organisationen der Zivilgesellschaft mehr und mehr in ihrer Arbeit und in ihrem Engagement durch die jeweiligen Regierungen eingeschränkt werden. Aber es gibt aktuell noch ein weiteres Problem: Internationale Partner außerhalb des Schengen-Raums bekommen derzeit keine Termine bei deutschen Botschaften, um Visa für Programme der Internationalen Jugendarbeit zu beantragen. Für all diese Hindernisse bedarf es einer breiten politischen Lobbyarbeit.

Doch es gibt auch Hoffnungsvolles zu vermelden: Im Sommer haben unter strenger Beachtung der Schutzmaßnahmen wieder erste Begegnungen stattgefunden. Die individuellen Programmformate sind weniger betroffen als die für Gruppen. Viele Träger experimentieren weiter mit digitalen Formaten, und versuchen ein stimmiges pädagogisches und methodisches Konzept zu entwickeln. Das zeigt uns: Beim physischen Austausch fahren wir auf Sicht, beim virtuellen Austausch müssen wir noch Vieles neu entwickeln.


Beitrag in den Europa-Nachrichten Nr. 10 vom 12.11.2020
Für den Inhalt sind die Autor*innen des jeweiligen Beitrags verantwortlich.

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Autorin

Marie-Luise Dreber ist Direktorin der Fachstelle für Internationale Jugendarbeit der Bundesrepublik Deutschland e.V. (IJAB).

Kontakt: https://ijab.de/ueber-uns/geschaeftsstelle

Kontakt: https://ijab.de/


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