Beitrag in den Europa-Nachrichten Nr. 11 vom 24.11.2022

Zivilgesellschaft im Kampf gegen Armut

Wiebke Schröder & Lilly Oesterreich

Inhalt

Zivilgesellschaft im Kampf gegen Armut
Endnoten
Autor
Redaktion

Zivilgesellschaft im Kampf gegen Armut

Fast 14 Millionen Menschen müssen in Deutschland zu den Armen gezählt werden. Dabei ist Deutschland ein reiches Land, das alle Voraussetzungen mitbringt, um Armut abzu-schaffen. Es ist ein Missstand, der sich besonders eindrücklich beim Thema Ernährung zeigt: Während einerseits Lebensmittel in großen Mengen verschwendet werden, hungern auf der anderen Seite Menschen – oder müssen sich so einschränken, dass von einer ge-sunden und ausgewogenen Ernährung keine Rede sein kann. Hier setzen die 60.000 eh-renamtlichen Helferinnen und Helfer der Tafel an: Sie retten Lebensmittel, die nicht mehr verkauft werden können, und geben sie an Menschen in Armut weiter, die sich eine aus-gewogene Ernährung nicht leisten können. Der enorme Anstieg der Nachfrage in der Ener-gie-Krise unterstreicht die wichtige Rolle, die die vielen Engagierten bei den Tafeln für Hil-febedürftige spielen – ist damit zugleich aber auch Symptom eines armutspolitischen Ver-sagens. Das zivilgesellschaftliche Engagement der Tafel-Freiwilligen ist praktische Solidari-tät. Aber Armut abschaffen: Das ist eine politische Aufgabe. Die zunehmende Hilfebedürf-tigkeit von Menschen ist Ausdruck von Verhältnissen, in denen der Sozialstaat augen-scheinlich nicht dafür Sorge trägt, Menschen abzusichern.

Das Niveau, auf dem Menschen am untersten Ende der Einkommensverteilung ihren Lebensunterhalt bestreiten müssen, ist maßgeblich durch die Höhe der Leistungen der Mindestsicherungssysteme bestimmt. Und dieses Niveau ist aus Sicht aller Wohlfahrts- und Sozialverbände zu niedrig. Es ist eine politische Entscheidung, dieses Niveau mit dem Gesetzentwurf zum Bürgergeld gerade einmal an die gestiegenen Lebenshaltungskosten der letzten 12 Monate anzupassen, die Armut ansonsten aber unangetastet zu lassen. Dabei könnte eine Anhebung der Regelsätze in der Grundsicherung auf 725 Euro plus Unterkunft, Heizung und Strom die Einkommensarmut in Deutschland beseitigen. [1]

Zivilgesellschaftliches Engagement, das Armut bekämpfen will, muss also politisch sein und Druck machen für Rahmenbedingungen, die Menschen nachhaltig aus der Armut ho-len. Und die Zivilgesellschaft macht vielerorts Druck: Bemerkenswert war etwa ein unge-wöhnlich breites Bündnis aus Organisationen und Verbänden aus dem Sozial-, Umwelt- und Kulturbereich, das mitten in der Corona-Krise unter der Überschrift »Corona-Soforthilfe jetzt!« unter anderem eine Anhebung der Regelsätze in der Grundsicherung auf mindestens 600 Euro gefordert hat. Immerhin hat es das Vorhaben einer Hartz-IV-Reform tatsächlich auch in den Koalitionsvertrag der Ampel geschafft. Letztendlich bleibt aber zu konstatieren, dass es sowohl in der Corona-Krise, als auch bei der Hartz-IV-Reform und bei der Bewältigung der Energie-Krise armutspolitisch bei den berühmten Tropfen auf den heißen Stein zu bleiben scheint.

Dass sich in Sachen Armutsbekämpfung so wenig bewegt, hat viele Gründe. Nicht zu un-terschätzen sein dürften die vielen falschen Vorstellungen und Bilder über Armut und Arme, die Armut rechtfertigen. Besonders wirkmächtig sind abwertende Urteile über arme Menschen, die dazu dienen, die Einzelnen für die Rolle, die diese Gesellschaft für sie be-reithält, selbst verantwortlich zu machen: Wer arm ist, sei selber schuld. Diese Urteile sind so präsent, dass viele Betroffene neben ihren materiellen Entbehrungen zusätzlich teils überwältigende Gefühle von Ausgrenzung, Scham und Schuld schultern müssen. Als der Paritätische Gesamtverband den Aktionskongress gegen Armut im vergangenen Jahr ge-meinsam mit sozialen Einrichtungen und Betroffenen organisiert hat, war das ein Aspekt unserer gemeinsamen Arbeit, der viele von uns in seiner Intensität wirklich berührt hat: Die Vernetzung und Bestärkung von Betroffenen hatte eine unglaubliche Kraft.

Von dieser Kraft der Vernetzung und gemeinsamen Bestärkung legt auch die Bewegung #IchBinArmutsbetroffen Zeugnis ab. Unter dem Hashtag #IchBinArmutsbetroffen teilen seit Mitte Mai Tausende auf Twitter ihre persönlichen Geschichten und Botschaften. Mit Tweets, Protestaktionen vor Ort und einem Offenen Brief sorgen sie für Sichtbarkeit und Aufmerksamkeit für das Thema Armut, räumen mit Vorurteilen auf und machen der Poli-tik Druck. Sie mischen sich ein und widersprechen, wenn Medien wieder einmal ein Zerr-bild ihrer Realität abbilden.

Im Kampf gegen Armut kann zivilgesellschaftliches Engagement Betroffenen den Rücken stärken, indem Vorurteile zurückgewiesen und Hürden für politische Beteiligung abgebaut werden. Diesem Ziel hat sich beim Paritätischen Gesamtverband das »Pilotprojekt zur Stärkung der digitalen Teilhabe Armutsbetroffener« verschrieben. Denn – das zeigt auch die Bewegung #IchBinArmutsbetroffen – für diejenigen, die Zugang zum digitalen Raum haben, eröffnen sich eine Vielzahl neuer Möglichkeiten der Kommunikation; für diejeni-gen, die keinen Zugang haben, wird der gesellschaftliche Ausschluss mit zunehmender Digitalisierung des Alltags größer. An dieser Hürde setzt das Pilotprojekt des Paritätischen an: Im Rahmen des Projektes wurden Menschen mit Armutserfahrung befähigt, an Online-Veranstaltungen wie dem Aktionskongress gegen Armut teilzunehmen, um über ihre all-täglichen Herausforderungen zu sprechen, aber auch um sich politisch einzubringen. Mit dem Wegfall von Begegnungsorten hatte die Möglichkeit, sich online auszutauschen, in der Corona-Pandemie eine besondere Bedeutung bekommen. Die Teilnahme an den Pari-tätischen Online-Formaten empowerte viele teilnehmende Menschen mit Armutserfah-rung sich miteinander zu vernetzen, neue Projekte aufzunehmen und sich in weiteren (Online-)Veranstaltungen mit ihrer Stimme einzubringen: Zum Beispiel im Podcast von Groschendreher e.V., in dem zwei Senior*innen über Altersarmut im Alltag sprechen, oder in der digitalen Empowerment-Werkstatt für Frauen von wif e.V.. Das Pilotprojekt zeigt, wie die Bestärkung Betroffener einen Beitrag dafür leisten kann, dass Armutsbe-troffene ihre Stimme selbstbewusst in den Diskurs einbringen.

Klar ist: Auch Bemühungen um Partizipation bleiben eine Auseinandersetzung mit Symp-tomen, solange Fortschritte beim Umverteilen gesellschaftlicher Ressourcen ausbleiben. Für dieses Umverteilen braucht es aber starke Stimmen, die Druck machen – und eine starke Stimme entwickeln zu können setzt Teilhabe- und Mitsprachemöglichkeiten voraus. Zivilgesellschaftlicher Druck für Armutsbekämpfung sollte daher das Engagement für Teil-habemöglichkeiten Armutsbetroffener einschließen. Zu hoffen bleibt, dass Politik – immer wieder mit den bestehenden Missständen konfrontiert – Armut nicht nur nicht ignorieren, sondern zu einer wirksamen Armutsbekämpfung bewegt werden kann.


Endnoten

[1] Siehe dazu Andreas Aust (2022): Regelbedarfe 2023: Fortschreibung der Paritätischen Regelbedarfsforderung. Kurzexpertise. Berlin.


Beitrag in den Europa-Nachrichten Nr. 11 vom 24.11.2022
Für den Inhalt sind die Autor*innen des jeweiligen Beitrags verantwortlich.

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Autor

Wiebke Schröder ist Referentin Übergreifende Fachfragen und Zivilgesellschaft beim Paritätischen Gesamtverband.
Lilly Oesterreich ist Projektreferentin Digitale Kommunikation beim Paritätischen Gesamtverband.

Kontakt: digikom@paritaet.org

Weitere Informationen: https://www.der-paritaetische.de/


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