Beitrag in den Europa-Nachrichten Nr. 11 vom 25.11.2021

Europa und digitale Teilhabe: Hat das digitale Format Bürgerdialoge verändert?

Larissa Montag und Johannes Kohls

Inhalt

Die Bürgerdialogreihe der Europa-Union Deutschland
Unsere etablierten Bürgerdialoge vor Ort
Unsere digitalen Bürgerdialoge seit der COVID-19-Pandemie
»Die Mischung macht’s«
Endnoten
Autor*innen
Redaktion

Die Bürgerdialogreihe der Europa-Union Deutschland

»Wir müssen reden! – und zwar miteinander statt übereinander«: Dieses Motto prägt die Bürgerdialoge der überparteilichen Europa-Union Deutschland e.V. bereits seit dem Jahr 2014. Die bundesweite Bürgerdialogreihe hat sich seitdem als ein erfolgreiches Instrument und Standbein unserer Öffentlichkeitsarbeit etabliert. Im Unterschied zu üblichen Gesprächsformaten, wie Podiumsdiskussionen, zielen wir mit unseren Bürgerdialogen darauf ab, eine Gesprächsplattform für einen Austausch auf Augenhöhe zu schaffen. Zu diesem Zweck nutzen wir sowohl vor Ort als auch im digitalen Raum eine Vielzahl interaktiver Methoden. Durch direktes Feedback der Gesprächspartner:innen auf die Fragen der an unseren Veranstaltungen teilnehmenden Bürger:innen wollen wir zu einer Versachlichung der Debatte beitragen und Phänomenen wie gesellschaftlicher Desinformation, Polarisierung, Europaskepsis und populistischen Tendenzen entgegenwirken. Um unserem Anspruch, gesellschaftliche Themen möglichst breit und ergebnisoffen zu diskutieren, gerecht zu werden, veranstalten wir unsere interaktiven Formate gemeinsam mit einer Vielzahl von Partnern aus Politik und Zivilgesellschaft.

Durch den Wechsel von Bürgerdialogen vor Ort hin zu Online-Bürgerdialogen hat sich nicht nur unsere alltägliche organisatorische Arbeit verändert, sondern unsere gesamte Reihe ist durch diese Herausforderung und die Umstellung gewachsen und hat sich weiterentwickelt. Doch welche Veränderungen hat diese Formatkorrektur konkret mit sich gebracht? Wie unterscheiden sich Online-Bürgerdialoge und Präsenz-Bürgerdialoge in dem Ziel, die Bürger:innen aktiv in das Gespräch einzubinden?

Unsere etablierten Bürgerdialoge vor Ort

Erläuterung des Konzepts

Das Grundkonzept der Bürgerdialogreihe »Europa – Wir müssen reden!« ist es, den öffentlichen Diskurs zu aktuellen europäischen Themen zu befördern und diesen kritisch-konstruktiv zu begleiten. Wie bereits beschrieben wird der ergebnisoffene Austausch bei den Bürgerdialogen durch verschiedene partizipative Formate erleichtert. Dazu zählen neben dem Einsatz verschiedener Themenräume die Verwendung der »World Café«-Methode[1] sowie der »Fishbowl«-Methode[2], die meist um eine Podiumsdiskussionsrunde ergänzt werden. Neben den Bürgerdialogen werden auch zentral unter der Ägide des Bundesverbandes kleinere regionale und themenspezifischere Gesprächsrunden durch die Kreis- und Landesverbände umgesetzt. Grundsätzlich liegt der Fokus darauf, durch einen möglichst hierarchiefreien Ansatz u.a. die Menschen vor Ort zu erreichen, für die das Thema Europa im eigenen Alltag eher eine untergeordnete Rolle spielt.

Was unsere Präsenz-Bürgerdialoge ausmacht

Um Personen fernab der eigenen Mitgliederschaft zu erreichen, werden vor Ort explizit lokale oder regionale Schwerpunktthemen in den Fokus genommen. In diesem Zusammenhang stehen bei den Bürgerdialogen neben regionalen Politiker:innen und Bürgermeister:innen auch die entsprechenden Europaabgeordneten den Bürger:innen in ihrem Wahlkreis Rede und Antwort, um darüber zu sprechen, wie Europa bzw. die Europäische Union für die Menschen direkt in ihrem Alltag spürbar ist und um zu erfahren, was die Menschen vor Ort bewegt. Durch die lokale Verwurzelung unserer Kreis- und Landesverbände gelingt es häufig, die Lokalpresse auf unsere Veranstaltungen aufmerksam zu machen. So erreichen wir über die Mitglieder der lokalen Kreis- und Landesverbände hinaus interessierte Bürger:innen. Ein weiterer Vorteil von Präsenzveranstaltungen ist die Möglichkeit aller Teilnehmenden wie Mitwirkenden, nach dem Bürgerdialog in einem anschließenden Empfang in den informellen Austausch zu treten und das eigene Netzwerk zu erweitern. Generell wird bei Präsenzveranstaltungen eine über 90 Minuten hinausgehende Dialog- und damit Veranstaltungsdauer durchaus angenommen.

Grenzen unserer Präsenz-Bürgerdialoge

Wie jedes Konzept stößt auch das der Bürgerdialogreihe in der Umsetzung an einige Herausforderungen. So ist die Organisation geprägt von der Abhängigkeit zu den jeweiligen lokalen und regionalen Kooperationspartnern. Auch die begrenzte Platzkapazität der Lokalitäten schränkt die generelle Anzahl an Personen stets ein, die an dem partizipativen Format vor Ort teilnehmen können. Hinzu kommt, dass Interessierte zu einer solchen Veranstaltung extra anreisen müssen, was gerade im ländlichen Raum mit teils längeren Fahrtzeiten einhergeht. Dieser Umstand schränkt auch den Spielraum bei der Gewinnung von Gesprächspartner:innen stark ein.

Dennoch bleibt festzuhalten: Präsenzveranstaltungen bieten die Möglichkeit, die Menschen vor Ort zu erreichen, mit ihnen ins Gespräch zu kommen, lokale Partnerschaften auszubauen, Kontakte in die regionale Presselandschaft zu knüpfen und über die Ansprache und Einbindung dieser Medien eine größere Reichweite zu erzielen. Dass diese Möglichkeit des direkten und hierarchiefreien Austausches ab März 2020 entfiel, war nicht nur hinsichtlich der Bürgerdialoge drastisch zu spüren, sondern hatte Auswirkungen auf alle Bereiche der Verbands- und Öffentlichkeitsarbeit.

Unsere digitalen Bürgerdialoge seit der COVID-19-Pandemie

Erläuterung des Konzepts

Die zunehmende Verbreitung des Coronavirus im Frühjahr 2020 sowie die behördlichen Anordnungen zur Eindämmung des Virus stellten das etablierte Konzept analoger Bürgerdialoge vor massive Herausforderungen und machten die Durchführung der geplanten Präsenztermine unmöglich. Obwohl zu Beginn des Jahres noch Ausweichtermine zu einem späteren Zeitpunkt des Jahres anvisiert wurden, setzte sich rasch die Überzeugung und der Anspruch durch, Interessierten eine Plattform ohne eine physische Zusammenkunft zu bieten, um weiterhin mit Expert:innen zu europapolitischen Themen diskutieren zu können. Die als 90-minütige Online-Veranstaltungen konzipierten Bürgerdialoge sind eine konsequente Übertragung der Präsenz-Veranstaltungen in den digitalen Raum. So werden ebenso wie bei den analogen Bürgerdialogen die Bürger:innen in den Mittelpunkt gestellt. Die Zielgruppe ist die breite, interessierte Bevölkerung, sodass eine Bewerbung über Social-Media-Kanäle, über unsere Kreis- und Landesverbände sowie die gezielte Ansprache von relevanten Interessensgruppen und Multiplikatoren sinnvoll ist und sich bewährt hat.

Im digitalen Raum wenden wir durchgängig das Fishbowl-Format an. Bei der Online-Adaption dieser Methode werden die Moderation und zwei bis drei Expert:innen live mit Ton und Bild zugeschaltet. Die Teilnehmenden haben durch die Zuschaltung per Ton die permanente Möglichkeit, mit den Expert:innen unmittelbar ins Gespräch zu kommen. Um trotz hoher Teilnehmendenzahlen, das können durchaus deutlich über 100 Personen sein, ein Höchstmaß an Interaktivität und Einbindung in den digitalen Dialog zu ermöglichen, werden zusätzlich innovative digitale Partizipationselemente wie die Abstimmungsplattformen »Slido« oder »Mentimeter« eingebunden. Diese digitalen Partizipationselemente kompensieren ansatzweise die im Vergleich zu den Präsenz-Bürgerdialogen geringere und unpersönlichere Interaktion mit den Mitwirkenden.

Alternativ oder zusätzlich kann ein professioneller Livestream über Social Media angeboten werden. Dadurch wird die Reichweite der Veranstaltung erhöht, allerdings auf Kosten der Interaktivität des Events. Wortbeiträge sind nur noch einzelnen Teilnehmenden vorbehalten, stattdessen übernehmen Partizipationstools wie »Slido« eine bedeutendere Rolle. Bisher haben wir lediglich in zwei Fällen im Rahmen unserer Bürgerdialogreihe – bei hybriden Veranstaltungen – Livestreaming angeboten. Neben den signifikanten Mehrkosten, die ein professionelles Livestream-Angebot über einen Dienstleister verursacht, ist dies vor allem darin begründet, dass wir dem Publikum eine aktive Teilnahme garantieren wollen, was via Livestream trotz digitaler Partizipationstools nur beschränkt möglich ist.

Was unsere digitalen Bürgerdialoge ausmacht

Die größte Stärke der digitalen Bürgerdialoge ist es, dass die Veranstaltungen nicht mehr auf einen lokalen Raum beschränkt sind. Interessierte können ortsunabhängig via Videokonferenz, Chatfunktion und Umfragetools an den Veranstaltungen teilnehmen und müssen keine Anreise mehr bewältigen. Dies öffnet den Raum für neue Zielgruppen. Gleichzeitig erleichtert das digitale Format auch die Teilnahme von Referent:innen, für die eine Anreise zu einem Präsenz-Bürgerdialog zeitlich nicht möglich wäre, wie beispielsweise mit Blick auf die Brüsseler Europaabgeordneten. Das digitale Format eröffnet uns z.B. die Möglichkeit, grenzüberschreitende Veranstaltungen auszurichten, ohne dass längere Fahrtzeiten sowie Reisekosten für Mitwirkende wie auch Teilnehmende anfallen. So haben wir mit entsprechenden Kooperationspartnern im Jahr 2021 u.a. einen deutsch-französischen sowie einen deutsch-österreichisch-tschechischen Online-Bürgerdialog durchgeführt.

Generell lässt sich feststellen, dass sich durch die Nutzung von Livestream- und Aufnahme-Optionen sowie die nicht ortsgebundene Teilnahme der Wirkungsradius von digitalen Veranstaltungen weit über den Kreis der aktiven Teilnehmenden im Netz steigern lässt – eine Option, die bei Präsenzveranstaltungen in der Form nicht gegeben ist.

Grenzen unserer digitalen Bürgerdialoge

So groß die Vorteile des digitalen Konzepts sind, so sind sie dennoch nicht frei von Hindernissen. Zumindest weniger technikaffine Bürger:innen werden durch digitale Angebote nicht angesprochen und nehmen deshalb nicht an den Online-Bürgerdialogen teil. Die Veranstaltungen sind dadurch deutlich weniger inklusiv als Präsenzveranstaltungen. Darüber hinaus leidet zum einen der persönliche Kontakt zwischen den Teilnehmenden und zum anderen entfallen Möglichkeiten zum informellen Austausch im Vorfeld sowie im Nachgang der Veranstaltungen, die im Rahmen der Präsenz-Bürgerdialoge, beispielsweise durch einen Sektempfang, gegeben sind. Zudem sind die Beteiligungsmöglichkeiten der Teilnehmenden im digitalen Raum begrenzt. Methoden wie das World Café sind im digitalen Raum nur äußerst aufwendig umsetzbar. Anders als in den Präsenzveranstaltungen kamen deshalb bislang – von einem Online-Bürgerdialog abgesehen – keine parallelen Kleingruppen zum Einsatz, sondern Diskussionen im Plenum, wodurch die Anzahl an Personen, die zeitgleich zum Dialog beitragen können, limitiert ist. Mit Hilfe von sogenannten »Breakout-Rooms« kann zwar durchaus Kleingruppenarbeit eingerichtet werden, allerdings erfordert diese einen höheren Personalaufwand in Form von Moderator:innen für jede einzelne Kleingruppe. Auch schreckt ein solch stark partizipatives Format auch Teilnehmende ab. Zusätzlich haben sich digitale Veranstaltungen mit einer längeren Veranstaltungsdauer als 90 Minuten bislang nicht als attraktiv für eine größere Zielgruppe erwiesen.

»Die Mischung macht’s«

So groß die Herausforderung im Frühjahr 2020 auch war, innerhalb kürzester Zeit anstelle von Präsenzveranstaltungen digitale Formate zu konzipieren, so groß gestalten sich auch die Chancen von Online-Bürgerdialogen. Das Erschließen neuer Zielgruppen und die höhere Verfügbarkeit neuer Referent:innen erweitern die Reichweite der Bürgerdialoge beträchtlich. Allerdings hat sich auch nach mehr als 1,5 Jahren Pandemie gezeigt, dass weniger technikaffine Bürger:innen nur schwer von digitalen Angeboten zu überzeugen sind. Zudem leidet vor allem der persönliche Austausch unter digitalen Formaten. Insbesondere dieser ist es, der jedoch die größte Stärke der Bürgerdialoge vor Ort ausmacht. Ein Bürgerdialog vor Ort ist seiner digitalen Variante damit an Unmittelbarkeit des Austausches überlegen, ebenso an umsetzbarer Dialogdauer und damit verbundener Gesprächsintensität. Insbesondere in Zeiten von Versammlungseinschränkungen haben sich die digitalen Dialoge als eine unverzichtbare Ergänzung zu den Präsenzveranstaltungen etabliert. Die Bereitstellung von hierarchie- und barrierefreien Räumen für den Dialog bei gleichzeitiger Maximierung der Reichweite bleibt eine Herausforderung, die nur bei einer Kombination aus digitalen und analogen Angeboten ansatzweise umfänglich bewältigt werden kann. Nur so können möglichst viele Bürger:innen dort erreicht werden, wo Europa beginnt, nämlich vor Ort bei jedem bzw. jeder von uns.


Endnoten

[1] Beim »World Café« sind mehrere Tische in einem Raum verteilt, an denen jeweils ein anderes Thema mit unterschiedlichen Mitwirkenden diskutiert wird. Nach einer ersten Runde wechseln die Teilnehmenden an andere Tische. Nach der letzten Runde werden die Ergebnisse im gemeinsamen Plenum präsentiert.

[2] Die klassische »Fishbowl«-Methode besteht aus zwei Stuhlkreisen. Im inneren Kreis sitzt eine Moderation zusammen mit zwei bis drei Expert:innen. Die übrigen Stühle im inneren Kreis bleiben zunächst leer. Die Teilnehmenden sitzen in einem weiteren Stuhlkreis außerhalb des inneren Kreises und besetzen während der Diskussion abwechselnd die leeren Stühle im inneren Kreis, um direkt und hierarchiefrei mit den Expert:innen zu diskutieren.


Beitrag in den Europa-Nachrichten Nr. 11 vom 25.11.2021
Für den Inhalt sind die Autor*innen des jeweiligen Beitrags verantwortlich.

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Autor*innen

Larissa Montag und Johannes Kohls sind bei der Europa-Union Deutschland e.V. im Bereich des Veranstaltungs- und Projektmanagements mit Schwerpunkt auf der Bürgerdialogreihe »Europa – Wir müssen reden!« tätig.

Weitere Informationen: https://www.europa-union.de/buergerdialoge/europa-wir-muessen-reden


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