Beitrag in den Europa-Nachrichten Nr. 11 vom 25.11.2021

Maximilian Pinnen, Frauke Stebner, Nina Knops, Matthias Becker

Erasmus+: digitaler, inklusiver, nachhaltiger

Inhalt

Die neue Programmgeneration 2021 – 2027
Erasmus+ und Digitalisierung
Erasmus+ und Soziale Teilhabe
Erasmus+ und Nachhaltigkeit
Erasmus+ und Teilhabe am demokratischen Leben
Erasmus+ und die Zivilgesellschaft
Endnoten
Autor*innen
Redaktion

Vor mittlerweile fast 35 Jahren wurde das Erasmus-Programm ins Leben gerufen, und schon im Beschlusstext[1] formulierte man als ein Ziel »das Zusammenwirken der Bürger der einzelnen Mitgliedsstaaten mit dem Ziel zu verstärken, den Begriff eines Europas der Bürger zu festigen […]«. Daran war freilich auch die Erwartung geknüpft, dass die (steigende Zahl der) Hochschulabsolvent:innen weitere Impulse für eine stärkere, europäische Zusammenarbeit geben würden.

In der Erkenntnis, dass dem Bildungsbereich eine Schlüsselfunktion für eine breitere und tiefere europaweite Zusammenarbeit zukommt, hat die Europäische Union unter dem Begriff »Erasmus+« mittlerweile die verschiedenen Fördermöglichkeiten der Bereiche Jugendbildung, Schulbildung, Hochschulbildung sowie Berufs- und Erwachsenenbildung zusammengeführt[2]. Dem Gedanken des lebenslangen Lernens folgend, wird somit auch der soziale Zusammenhalt und die europäische Identität gestärkt. Hierzu zählt sicherlich auch ein gemeinsamer Bildungsraum: Bereits 2025 soll der Einheitliche Europäische Bildungsraum vollendet sein. Das ist ohne Frage ein sehr ehrgeiziges Ziel, das die Europäische Kommission mit einem umfangreichen, mehrdimensionalen Konzept[3] erreichen will.

Dass das Erasmus-Programm seit mehr als drei Jahrzehnten erfolgreich zur europäischen Integration beigetragen hat, liegt nicht zuletzt auch an der kontinuierlichen Veränderung bzw. Anpassung mit jeder neuen Programmgeneration.

Die neue Programmgeneration 2021 – 2027

Im Fokus der neuen Programmgeneration stehen die Themen Inklusion und Diversität, Digitalisierung, politische Bildung und Nachhaltigkeit, die eng miteinander verwoben sind. Gemeinsam ist allen transversalen Prioritäten, den Zugang zum Programm zu erleichtern, damit noch mehr Europäer:innen einfacher an Erasmus+ teilnehmen können. Als Austauschprogramm steht die Mobilität von Einzelpersonen nach wie vor im Kern von Erasmus+. Doch bietet Erasmus+ durch seine verschiedenen Programmlinien vielfältige Instrumente, die die Hochschulen bei der Internationalisierung unterstützen. Zu den wichtigsten Komponenten zählen hier, wie auch in der zurückliegenden Programmgeneration, der Aufbau und die Umsetzung gemeinsamer strategischer Partnerschaften und Kooperationsprojekte. Im Vordergrund der Erasmus+ Cooperation Partnerships stehen die europäische und bildungsbereichsübergreifende Zusammenarbeit sowie der Austausch guter Praxis. Mit der Leitaktion 3 (Politikunterstützung) fördert Erasmus+ auch Projekte, die die politische Zusammenarbeit auf der Ebene der Europäischen Union unterstützen und gleichsam die europäischen Bildungssysteme stärken.

Erasmus+ und Digitalisierung

In Bezug auf die Digitalisierung wartet Erasmus+ mit zwei Neuerungen auf: die Digitalisierung der Mobilität und die Digitalisierung der Administration.

Neben der klassischen physischen Mobilität über ein oder mehrere Semester, treten nun ergänzend die sog. Blended-Intensive-Programmes (BIP). Die BIP bestehen aus einer kurzen, intensiven physischen Mobilitätsphase (5 bis max. 30 Tage) und einer virtuellen Phase. An der Gruppenmobilität können sowohl Studierende als auch Hochschulmitarbeiter:innen teilnehmen. Damit sollen einerseits innovative Lern- und Lehrmethoden breiter genutzt werden als auch die Möglichkeiten der Online-Kooperation stärker gefördert werden. Die BIP sind ein wichtiges Instrument, um weitere Teilnehmer:innenkreise zu erschließen. Trotz eines umfangreichen Unterstützungsangebots, stellt ein längerfristiger Erasmus+ Auslandsaufenthalt über ein oder mehrere Semester für potentielle Teilnehmer:innen eine (kaum überwindbare) Hürde dar. Die Erasmus+ Förderung ist – anders als ein Vollstipendium – eine Zuschusszahlung, die den regelmäßigen Mehrbedarf im Gastland abdeckt. Neben ökonomischen Faktoren spielen auch soziokulturelle Faktoren – beispielsweise Erstakademiker:innen – eine Rolle, warum es nicht- bzw. unterrepräsentierte Gruppen gibt. Die BIP stellen daher eine sinnvolle Verknüpfung der Chancen der Digitalisierung mit den Zielen der »Sozialen Teilhabe« dar, indem internationale Mobilität für möglichst viele erfahrbar wird. Gleichsam kann die Stärkung virtueller Austauschformate auch einen Beitrag zur Nachhaltigkeit leisten.

Auch auf der Verwaltungsseite erfährt das Erasmus+ Programm einen Digitalisierungsschub: Mit der European Student Card Initiative (ESCI) werden unterschiedliche Bausteine zusammengefasst, die mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen an der Herausbildung einer digitalen europäischen Gesellschaft mitwirken. Als markantester – und für die Hochschulen verpflichtender – Baustein der ESCI ist hier sicherlich Erasmus Without Paper (EWP) [4] zu nennen. EWP umfasst sowohl das »Was« (die Dokumente) als auch das »Wie« (die Infrastruktur) eines papierlosen Austauschs. Im Kern geht es um nicht weniger als die Bereitstellung einer interoperablen Netzwerkstruktur für schrittweise zu digitalisierende Dokumente. Für einen förderfähigen Erasmus-Aufenthalt ist der Austausch verschiedener Dokumente erforderlich, der bisher größtenteils papierbasiert erfolgt. Durch die Umstellung[5] auf den digitalen Austausch soll der administrative Aufwand sinken: für die International Offices und für die Teilnehmer:innen. Das ist eine wichtige Zielformulierung, denn der mit einem Erasmus-Aufenthalt verbundene »Papierkram« kann eine Hürde für bestimmte Zielgruppen darstellen und so zusätzlich von einer Auslandserfahrung abhalten. Der digitale Austausch selbst soll über das EWP-Netzwerk erfolgen, an das sich die Hochschule mittels verschiedener, frei wählbarer Lösungen anbinden können. Die Implementierung einer EWP-konformen Lösung erfordert sowohl prozessseitiges als auch technisches Fachwissen. Eine Auslandsmobilität gliedert sich in unterschiedliche Prozesseschritte, an der verschiedene Stellen an einer Hochschule eingebunden sind, wie z.B. das International Office, die Fachbereiche und das Prüfungsamt. Bei der Übertragung der bestehenden (papierbasierten) Prozesse in digitale Datenflüsse ergeben sich weitere Anforderungen[6] – etwa mit Blick auf die notwendige Standardisierung, die Zuweisung digitaler Identitäten oder das Zusammenspiel von Campusmanagementsoftware und Software zur Verwaltung internationaler Mobilitäten –, die inhaltlich im Rechenzentrum verortet sind.

In diesem Kontext ist zu unterstreichen, dass die Digitalisierung im Erasmus+ Programm keineswegs losgelöst von der generellen Digitalisierung im Hochschulbereich[7] ist und folglich eine gesamthafte Aufgabe der Hochschulen darstellt, in der viele interne wie externe Akteure eingebunden sind.

Erasmus+ und Soziale Teilhabe

Mit der Beantragung der Erasmus Charta für die Hochschulbildung (ECHE) haben sich Hochschulen verpflichtet, allen potenziellen Teilnehmenden, und im Besonderen jenen mit geringeren Chancen, einen gleichberechtigten Zugang zum Programm zu ermöglichen. Im Fokus steht dabei ein ganzes Bündel von Maßnahmen. Neben erweiterten Möglichkeiten finanzieller Unterstützung für ausgewiesene Personengruppen und der Umsetzung neuer Mobilitätsformate, ist der Ausbau von Zielgruppenansprache und Informationsangeboten, die Anpassung von Auswahl und Unterstützung von Teilnehmenden, sowie die systematische Vernetzung und die Einrichtung von Mobilitätsfenstern bedeutend, um mehr Menschen für das Programm zu gewinnen.

Zur Unterstützung von Hochschulen bei der Umsetzung von Maßnahmen zur Förderung von Inklusion und Vielfalt erarbeitet die Nationalen Agentur gemeinsam mit den Hochschulen einen nationalen Aktionsplan. Informationsangebote und Veranstaltungen sollen das Bewusstsein für Unterstützungsmechanismen schärfen und Vernetzung sowie Erfahrungsaustausch untereinander und mit Interessensvertreter:innen fördern.

Der Zugang zum Programm für potenzielle Teilnehmende ist auf unterschiedlichen Ebenen vereinfacht worden. So können ausgewiesene Zielgruppen von finanziellen und strukturellen Angeboten Gebrauch machen:

• Monatliches Top-up für Studierende, die mit Kind ins Ausland gehen und Studierende mit Behinderung oder chronischer Erkrankung

• Realkosten für Teilnehmende mit Behinderung oder chronischer Erkrankung und Begleitperson

• Vorbereitende Reisen für Teilnehmende mit Behinderung oder chronischer Erkrankung und Begleitperson •
Reisekosten für bestimmte Zielgruppen und Mobilitätsformate •
Kurzzeit-Doktorandenmobilität/ Kurzzeitmobilität im blended Format

Darüber hinaus erfahren die Prinzipien der Chancengerechtigkeit auch bei der Auswahl sowie während des Monitorings von Projekten eine größere Beachtung. Schließlich gilt es auch, Synergien zu weiteren Programmen und Initiativen, die Inklusion fördern, zu schaffen.

Erasmus+ und Nachhaltigkeit

Die transversale Priorität »Nachhaltigkeit« wird als Green Erasmus bezeichnet und stellt den Umwelt- und Klimaschutz in den Fokus der neuen Programmgeneration. Im Wesentlichen geht es bei Green Erasmus um Sensibilisierung – für Umwelt, Klimawandel und den ökologischen Fußabdruck, den Mobilität und unser Handeln erzeugt – sowie um Substitution, die verstärkte Nutzung von klima- und umweltfreundlichen Verkehrsmitteln.

Durch Sensibilisierung sowie finanzielle Anreize soll die Anzahl der Erasmus+ Mobilitäten, die mit umweltfreundlicheren Transportmitteln (Zug, Bus, Fahrgemeinschaften) absolviert werden, gesteigert und der ökologische Fußabdruck des Erasmus+ Programms so verringert werden. Im neuen Erasmus+-Programm steht Studierenden daher das Green Travel Top-up zur Verfügung. Studierende, die umweltfreundlich ins Ausland reisen, können ein Top-up von zur Zeit 50 Euro erhalten sowie bis zu 4 zusätzliche Reisetage als Aufenthaltstage geltend machen.

Die transversale Priorität »Nachhaltigkeit« wird ebenfalls von den Erasmus+ Kooperationsprojekten adressiert. So soll beispielsweise die Förderung von Kompetenzen, die für ein Leben in einer nachhaltigen und ressourceneffizienten Gesellschaft und Wirtschaft wichtig sind, sogenannte »green skills«, durch die Förderung von Kooperationsprojekten zu »grünen« Themen angegangen werden. Darüber hinaus sollen Umwelt- und Klimaschutz nicht nur inhaltlich von den Projekten adressiert werden: Antragsteller:innen sind angehalten, die Konzeption und Umsetzung ihrer Projekte umweltfreundlich und nachhaltig zu gestalten.

Erasmus+ und Teilhabe am demokratischen Leben

Die Stärkung der europäischen Identität und die Förderung der aktiven Beteiligung des Einzelnen sowie der Zivilgesellschaft an demokratischen Prozessen sind entscheidend für die Zukunft der Europäischen Union. Das Erasmus+ Programm der Generation 2021-2027 soll deshalb dazu beitragen, das Interesse der Menschen für die Europäische Union zu steigern und ihr Wissen darüber zu erweitern.

Unter der horizontalen Priorität Teilhabe am demokratischen Leben, befasst sich Erasmus+ mit der Förderung aktiver Partizipation an demokratischen Prozessen. Ein wesentlicher Aspekt ist die Schärfung des Bewusstseins von Bürgerinnen und Bürgern für europäische Belange. So zeigen Eurobarometer-Umfragen, dass viele Menschen zögern oder Schwierigkeiten haben, sich sowohl aktiv in demokratische Prozesse einzubringen als auch sich am politischen Dialog zu beteiligen. Obwohl sich heute 70% der Europäerinnen und Europäer als Unionsbürgerinnen und Unionsbürger fühlen, kann das Bewusstsein und Verständnis dafür, was die Europäische Union ist, wie sie funktioniert und welchen Mehrwert sie für ihre Bürgerinnen und Bürger hat, weiter ausgebaut werden. Fast neun von zehn jungen Menschen in der Union sind der Meinung, dass es eine stärkere Aufklärung über die Rechte und Pflichten als Unionsbürgerinnen und Unionsbürger geben sollte. Das Programm soll die Beteiligung junger Menschen am demokratischen Leben in Europa fördern, unter anderem durch die Unterstützung von Partizipationsprojekten für junge Menschen und von Aktivitäten, die zur politischen Bildung beitragen.

Hieraus ergeben sich die folgenden Ziele:

• Bewusstsein für die gemeinsamen europäischen Werte einschließlich der Grundrechte sowie für die europäische Geschichte und Kultur schärfen

• Junge Menschen und Entscheidungsträger auf lokaler, nationaler und Unionsebene zusammenbringen

• Zum europäischen Integrationsprozess beitragen

Die Mobilitäten und Projekte der Hochschulen im Erasmus+ Programm fördern im Kontext des lebenslangen Lernens die Entwicklung von sozialen und interkulturellen Kompetenzen, kritischem Denken sowie Medienkompetenz. Der Fokus liegt auf Projekten, die Möglichkeiten zur aktiven Bürgerbeteiligung im demokratischen Leben bieten und dabei die gemeinsamen Werte der EU, wie die Grundsätze von Einheit und Vielfalt sowie das soziale, kulturelle und historische Erbe, vermitteln.

Erasmus+ und die Zivilgesellschaft

Das Erasmus+ Programm hat – so machen die thematischen Schlaglichter deutlich – viele Facetten, die in der praktischen Lebenswirklichkeit der Menschen in Europa die (zuweilen abstrakten) europäischen Werte seit mehreren Jahrzehnten prägen und vermitteln. Mit der neuen Programmgeneration werden noch mehr Menschen einander virtuell wie physisch begegnen, sich austauschen und so zur Herausbildung einer europäischen Zivilgesellschaft auch weiterhin beitragen.


Endnoten

[1] 87/327/EWG: Beschluß des Rates vom 15. Juni 1987 über ein gemeinschaftliches Aktionsprogramm zur Förderung der Mobilität von Hochschulstudenten (ERASMUS) - Publications Office of the EU (europa.eu)

[2] In Deutschland wird das Erasmus+ Programm gemeinschaftlich von vier Nationalen Agenturen umgesetzt, die für die einzelnen Bildungssektoren verantwortlich sind. Siehe hierzu Startseite - Erasmus+ (erasmusplus.de)

[3] European Education Area (europa.eu)

[4] Fortlaufende Aktualisierungen zur Umsetzung von ESCI/EWP finden sich auf Erasmus+ DIGITAL – Nationale Agentur für EU-Hochschulzusammenarbeit – DAAD

[5] Die Umsetzung erfolgt schrittweise über die kommenden Jahre. Siehe auch Sachstand: Digitalisierung des Erasmus+ Programms – Nationale Agentur für EU-Hochschulzusammenarbeit – DAAD

[6] Die technische Dokumentation zur EWP-Architektur und den zugrundeliegenden Standards (XML, SAML/Shibboleth) richtet sich ausdrücklich an eine einschlägig geschulte Zielgruppe.

[7] Man denke hier etwa an die Anforderungen aus dem Onlinezugangsgesetz (OZG) und dem Single Digital Gateway (SDG).


Beitrag in den Europa-Nachrichten Nr. 11 vom 25.11.2021
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Autor*innen

Maximilian Pinnen, Frauke Stebner, Nina Knops und Matthias Becker sind als Referent:innen der Nationalen Agentur für EU Hochschulzusammenarbeit im DAAD (NA DAAD) zuständig für die transversalen und horizontalen Themen im Erasmus+ Programm. Seit 1987 setzt die NA DAAD als von der Europäischen Kommission ernannte Nationale Agentur das Erasmus-Programm im Hochschulbereich um. In einem gemeinsamen, ganzheitlichen Ansatz möchte die NA DAAD das Synergiepotenzial der Themenbereiche hervorheben und für das Erasmus+ Programm als Beitrag für die Internationalisierung der Hochschulen nutzbar machen.

Weitere Informationen:
- www.eu.daad.de
- Twitter @Erasmus_DAAD


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