Inhalt
Von der Gesellschaft als Kollektiv zum Bürger*in als Individuum
Forschungslage
Ausgewählte Ergebnisse der empirischen Untersuchung
Autorin
Redaktion
Von der Gesellschaft als Kollektiv zum Bürger*in als Individuum
Im 20. Jahrhundert, in den Jahren zwischen 1921 und 1990, erlebte Georgien eine klare sozialistisch motivierte ideologische Erziehung, der in den 1990er Jahren ein Vakuum in dieser Hinsicht folgte. Es entwickelte sich ab Mitte der 1990er Jahre jedoch eine rege und lebendige Landschaft der Bürgergesellschaft in Form von Nichtregierungsorganisationen und freien Medien in Georgien. Grundlegende Reformen im Bildungsbereich wurden bereits Ende der 1990er Jahren eingeleitet. Nach 2003 folgten radikalere Reformen, insbesondere im Schulsystem. U.a. wurde das Fach »Bürgerkunde« eingeführt. Dadurch hat in Georgien, ähnlich wie in den mittel- und osteuropäischen Ländern, bei der inhaltlichen Ausgestaltung der politischen Bildung zumindest auf der Ebene der Zielsetzung eine bewusste Verschiebung von der Gesellschaft als Kollektiv hin zum Bürger als Individuum stattgefunden.
Im Rahmen des langjährigen Bildungsprojekts »Ilia Tschawtschawadse« (Durchführungszeitraum 2004-2017) wurden zudem in Georgien mit Bezug auf politische Bildung andere neue Fächer wie »Staat, Recht und Ökonomie«, »Toleranzkunde« und demokratische Schulstrukturen wie Schülervertretung, Schulrat und Wahl des Schuldirektors eingeführt. Auf der Gesetzesebene wurden 2006 »Nationale Ziele der Allgemeinbildung« verabschiedet. Im Zielkatalog steht die »Entfaltung der freien Persönlichkeit« basierend auf demokratischen Werten, die Fähigkeit, sich eine eigene Meinung zu bilden, Entscheidungen zu treffen und einen eigenen Platz in der Gesellschaft einnehmen zu können im Vordergrund. Diese Reformen stehen im Zeichen des neuen Nation Building nach der »Rosenrevolution« in Georgien und haben die Modernisierung und Anknüpfung an europäischen Standards zum Ziel.
Die Analyse der gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen in Bezug auf die politische Bildung zeichnet ein Bild der Gesellschaft in Georgien, die sich auf einer Gratwanderung zwischen Tradition und Zukunftsvision befindet. Welche Konsequenzen daraus für 14- bis 15-jährige Jugendliche auf der Einstiegsebene und welche tatsächlichen Partizipationsmöglichkeiten sich für sie ergeben, soll nachfolgend dargelegt werden.
Forschungslage
Sowohl theoretische als auch empirische Untersuchungen im Bereich der Politischen Bildung und Jugendbeteiligung bzw. zivilgesellschaftliches Engagement von jungen Erwachsenen in Georgien sind sehr rar. Nachfolgend greife ich auf meine empirische Untersuchung über die Demokratieerziehung in Georgien zurück (Erhebungszeitraum 2009-2013), in der, analog zur Civic Education Study von IEA, 14 -jährige Jugendliche zu unterschiedlichen Themenfelder der politischen Bildung anhand von standardisierten Fragebögen befragt wurden. Neben einem Wissenstest, in dem politische Bildung erfasst wurde, wurden Fragen über gesellschaftspolitisch wichtige Themen wie Politik, Staat und Demokratie gestellt. Die Erfahrungen der Jugendlichen in der eigenen Schule und im Klassenzimmer sind ebenfalls zum Ausdruck gekommen.
Ausgewählte Ergebnisse der empirischen Untersuchung
Politisches Wissen
Im Wissenstest beantworten die georgischen Jugendlichen Fragen, welche in Georgien eine tagespolitische Aktualität besitzen. Dazu gehören die in Medien und der Gesellschaft viel diskutierte Pressefreiheit oder Merkmale einer undemokratischen Regierung sowie Geschichtsmanipulation, die sie sehr gut bis überdurchschnittlich gut identifizieren können. Weniger gut können sie in den Bereichen punkten, zu denen sie weniger Bezug herstellen können, z. B. wenn es darum geht die Bedeutung von Vereinen und Organisationen für eine Demokratie zu erkennen.
Politische Handlungsbereitschaft
Bezüglich ihrer politischen Handlungsbereitschaft geben die georgischen Jugendliche ein ambivalentes Bild ab. Im sozialen Bereich zeigen sie außerordentlich hohes Engagement und im konventionellen politischen Bereich eine umso niedrigere Bereitschaft zur Selbstbeteiligung. Sie sind überdurchschnittlich stark bereit, armen oder älteren Menschen zu helfen; zudem sind sie ebenso überdurchschnittlich stark bereit »klassische demokratische Pflichten« zu erfüllen wie bspw. zur Wahl zu gehen. Beim konventionellen politischen Engagement, wie in eine Partei einzutreten, sinkt die Zustimmung hingegen. Wahrscheinlich spiegeln die georgischen Jugendlichen an dieser Stelle die Gesellschaft gut wieder, die den politischen Parteien misstraut und die Bedeutung von gemeinnützigen Organisationen und Vereine für eine funktionierende Demokratie aus unterschiedlichen Gründen nicht gut genug einschätzen kann.
Demokratische (Selbst)Beteiligung in der Schule
Georgische Jugendliche befürworten die demokratische Beteiligung der Schülerinnen und Schüler in der Schule im hohen Maße. Sie finden es gut, wenn Schülerinnen und Schüler zusammenarbeiten, um die Probleme der Schule zu lösen oder positive Veränderungen in der Schule herbeizuführen. Sie partizipieren in Schülervertretungen, in der Schülerzeitung, in der Kirche. Die meisten sind in Sportvereinen und in kulturellen Vereinigungen wie Kunst-, Musik- und Theater integriert. In den gemeinnützigen Vereinen und Organisationen wie Menschenrechts- und Jugendorganisationen sind hingegen nur sehr wenige beteiligt. Vermutlich liegt es zum größten Teil auch daran, dass es in Georgien wenig solche Vereine und Organisationen gibt und die Bestehenden sich hauptsächlich in der Hauptstadt konzentrieren und in ländlichen Regionen so gut wie nicht vertreten sind. Darüber hinaus ist der elitäre Charakter der Nichtregierungsorganisationen in Georgien zu erwähnen: Sie sind wenig über ihr unmittelbares Umfeld hinaus bekannt und bieten kaum Möglichkeiten und Anreize zu bürgerschaftlichem Engagement. Der entscheidende Aspekt könnte jedoch darin bestehen, dass in Georgien die Bedeutung des bürgerschaftlichen Engagements für eine funktionierende Demokratie dem Anschein nach nicht ausreichend erkannt wird und es (noch) keine flächendeckend etablierte Kultur der Selbstbeteiligung auf der institutionellen Ebene gibt.
Vertrauen in das politische System
Georgische Jugendliche haben weder zu den gesellschaftlichen noch zu den politischen Institutionen Vertrauen. Sie weisen, insbesondere im Vergleich zu Deutschland, sehr niedrige Vertrauenswerte auf. Damit folgen sie jedoch dem Trend in den ehemals sozialistischen Ländern, welche in der internationalen Untersuchung, im Vergleich zu den reichen Industrieländern, ebenfalls durch niedrige Vertrauenswerte aufgefallen waren. Damit bestätigt sich die Annahme, dass das gestörte Verhältnis zwischen dem Staat, seinen Strukturen und dem Bürger in den ehemals sozialistischen Ländern nach wie vor vorhanden ist und seinen Schatten weit vorauswirft. Eine Ausnahme stellt das Vertrauen zur Polizei dar, welche im Zuge der Staatsreformen nach 2004 in Georgien stark erneuert wurde und ihr Ansehen in der Bevölkerung daraufhin deutlich steigern konnte.
Antizipierte Autonomie
Zugleich zeigen sich georgische Jugendliche optimistisch. Sie glauben daran, dass durch politisches Engagement des Einzelnen etwas erreicht werden kann. Schließlich können sie in diesem Zusammenhang auf gute Erfahrungswerte zurückgreifen: Sowohl sie selbst (die »Rosenrevolution« im Jahr 2003) als auch ihre Elterngeneration (das Ende der Sowjetunion, Ende der 1980er Jahren) haben miterlebt, dass durch den bürgerschaftlichen Widerstand bedeutende politische Veränderungen herbeigeführt werden können.
Politische Orientierungen und Einstellungen zur Demokratie
Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass Jugendliche in Georgien politisch sensibilisiert und offen für politische und soziale Themen ihres Landes sind. Das, was im Land passiert, geht anscheinend nicht spurlos an ihnen vorbei, sondern prägt sie. Themen, die die Gesellschaft bewegen, bewegen auch die Jugendlichen. Sie stehen in dieser Hinsicht mitten im Leben und sind weder politisch naiv noch apathisch. Sie erkennen die Bedeutung von Wahlen und sind für Meinungsfreiheit, sie sind in der Lage, die negativen Folgen der Korruption, Pressekonzentration in einer Hand oder den Einfluss von mächtigen Lobbygruppen auf die Politik angemessen einzuschätzen und lehnen dies entsprechend ab. Sie wissen, warum Geschichte manipuliert werden kann, sie erkennen und schätzen die Bedeutung der Schülervertretungen in der Schule, sie messen dem Bürgerkundeunterricht eine große Rolle beim Erhalt von politischen Kenntnissen sowie einem offenen Diskussionsklima im Unterricht bei. Sie interessieren sich für große soziale und gesellschaftliche Themen wie Umweltschutz und Atomkraft und wollen in der Schule mehr darüber erfahren. In vielen diesen Punkten zeigen sie sich sogar politisch sensibilisierter und aufgeklärter als die Gleichaltrigen aus westlichen Industriestaaten. Schließlich sind die Folgen der Abwesenheit von demokratischen Gütern und Strukturen für die Jugendliche in Georgien greifbar nah. Es liegt nahe zu sagen, dass sie die Demokratie schätzen, nicht, weil sie die Vorteile einer funktionierenden Demokratie gut genug kennen, sondern weil sie die negativen Konsequenzen, die Bürgerinnen und Bürger in einer nichtdemokratischen Gesellschaftsordnung tragen müssen, erlebt haben.
Handlungsfelder für die Politik
Vor dem Hintergrund dieser Erkenntnisse eröffnen sich für die Schule in Georgien und speziell für den Bürgerkundeunterricht oder auch für den Unterricht in anderen Schulfächern wie Geschichte, die die gesellschaftspolitisch aktuellen Themen im Unterricht gut aufgreifen können, neue Perspektiven. Ebenso ist die (Bildungs)Politik gefragt, auf unterschiedlichen Handlungsfeldern aktiv zu werden. U. a. sind Vermittlung von politischem Wissen, Erweiterung des Politikverständnisses und Förderung der politischen Handlungsbereitschaft, Etablierung eines offenen Diskussionsklimas im Unterricht sowie Lehrerqualifizierung einige der drängendsten Themen und Bereiche der politischen Bildung in Georgien.
Beitrag in den Europa-Nachrichten Nr. 11 vom 26.11.2020
Für den Inhalt sind die Autor*innen des jeweiligen Beitrags verantwortlich.
Autorin
Dr. Khatuna Tchanturia ist Erziehungswissenschaftlerin, freiberufliche Dozentin und arbeitet als Qualifizierungs- und Berufsberaterin bei der Stadt Stuttgart. Ihre Promotionsarbeit »Erziehung zur Demokratie in Georgien: kritische Bestandsaufnahme, Analyse, Perspektiven; eine empirische Untersuchung« wurde durch die Heinrich-Böll-Stiftung gefördert.
Kontakt: khatuna@Tchanturia.de
Redaktion
BBE-Newsletter für Engagement und Partizipation in Europa
Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement (BBE)
Michaelkirchstr. 17/18
10179 Berlin
Tel.: +49 30 62980-114