Zivilgesellschaft und EU-Parlament gemeinsam gegen Diskriminierung
Prof. Dr. Dietmar Köster / Lisa Storck
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Zivilgesellschaft und EU-Parlament gemeinsam gegen Diskriminierung
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Zivilgesellschaft und EU-Parlament gemeinsam gegen Diskriminierung
Die Europäische Union definiert sich als Wertegemeinschaft und will sich nicht auf eine Wirtschaftsunion reduzieren lassen. Im Vertrag über die Europäische Union werden in Artikel 2 die Werte festgehalten. Hier heißt es: »Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet«. In der EU-Grundrechtecharta werden weiter insbesondere Behinderung, Alter und sexuelle Ausrichtung als unerlaubte Diskriminierungsgründe aufgeführt.
Diskriminierungen gibt es überall dort, wo Menschen in einer Art und Weise behandelt werden, die diesen Werten widersprechen. Dabei gibt es zwischen der gesellschaftlichen Realität und den Werten immer ein Spannungsverhältnis. Wirklichkeit und vertragliche Werte klaffen mittlerweile in der EU so weit auseinander, dass die Glaubwürdigkeit der EU hinsichtlich der Einhaltung von Grundrechten in der Krise ist.
Am offensichtlichsten wird die Glaubwürdigkeitskrise im Umgang mit Flüchtlingen und Migrant*innen. Es gilt der Grundsatz, dass beim Schutz der Außengrenzen die Grundrechte zu achten sind, insbesondere das Grundrecht auf Asyl. Dieses Grundrecht wird flüchtenden Menschen beispielsweise an den griechischen Außengrenzen oder an der kroatischen Außengrenze zu Bosnien-Herzegowina vorenthalten. Dort rauben ihnen kroatische Grenzbehörden die Handys und die Rucksäcke. Sie werden verprügelt und entwürdigend behandelt. Danish Refugee Council spricht von zehntausenden widerrechtlichen und brutalen Pushbacks allein an der kroatischen Außengrenze. Hier leisten NGOs unersetzliche Arbeit, wenn sie unmittelbare Hilfe vor Ort leisten und immer wieder Öffentlichkeit über Menschenrechtsverletzungen herstellen. Es gibt mittlerweile mit Abgeordneten des Europäischen Parlaments (EP) eine gute Zusammenarbeit. Diese Kooperation beinhaltet auch gegen die Kriminalisierung von NGOs vorzugehen, die zum Teil juristischen Repressalien ausgesetzt sind, wenn sie beispielsweise Menschen auf dem Mittelmeer vor dem Ertrinken retten. Solange die EU kein eigenes Seenotrettungsprogramm auf den Weg bringt, sind die zivilen Seenotrettungsorganisationen finanziell und politisch zu unterstützen. Die Bundesregierung hat erste finanzielle Zuwendungen auf den Weg gebracht. Das Zusammenspiel zwischen Europaabgeordneten und zivilen Seenotrettungsorganisationen kam auch bei der Verleihung des Sacharow-Preises im Jahre 2018 zum Ausdruck. Zur Anerkennung ihrer Arbeit hatte das Europäische Parlament sie unter die drei ersten Kandidaten für den Preis gesetzt.
Auch bei dem Thema des EU-Erweiterungsprozesses, beispielsweise in Bosnien-Herzegowina, setzen viele EP-Abgeordnete mehr auf die Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft als auf die politisch Verantwortlichen der drei ethnischen Gruppen, die stark nationalistisch orientiert sind und das System der Korruption aufrechterhalten. Dieser Ansatz spielt bei der Beitrittsperspektive von Bosnien-Herzegowina eine wichtige Rolle. Als möglicher kommender Beitrittskandidat muss es Grundrechte einhalten. Für den weiteren Prozess der EU-Erweiterung ist die Stärkung der Zivilgesellschaft für potenzielle Beitrittskandidaten unersetzlich.
Die Kooperation von Abgeordneten mit Vertreter*innen der Zivilgesellschaft ist unerlässlich, um zum Beispiel Menschenrechtsverletzungen vor Ort nachzugehen und wichtige Informationen in die Diskussionen der parlamentarischen Ausschüsse einzubringen. So konnten Abgeordnete kritische Befragungen des ehemaligen Direktors von Frontex auf Basis der Informationen der NGOs viel zielgerichteter und profunder durchführen. Die dubiose Rolle von Frontex, die selbst in widerrechtlichen Pushbacks involviert war, nachzuweisen, war engagierten Journalist*innen und Aktivist*innen aus den Flüchtlingsinitiativen zu verdanken.
Mittlerweile gibt es im Parlament eine informelle fraktionsübergreifende Migrationsgruppe, in der NGOs über aktuelle Entwicklungen berichten. Hier werden dann Initiativen besprochen, wie beispielsweise durch Anfragen an die Kommission, Anhörungen etc. der politische Druck auf die Kommission hochgehalten werden kann, eine menschenrechtsfundierte Flüchtlingspolitik auf den Weg zu bringen.
Ein anderes Beispiel für die Bedeutung von zivilgesellschaftlichem Engagement in diesem Handlungsfeld ist, dass eine Studie über ein unabhängiges Monitoring-Verfahren der Grundrechteverletzungen an den EU-Außengrenzen erstellt wird. Denn nach wie vor leugnen die politischen Autoritäten der Mitgliedstaaten die Verstöße gegen die EU-Werte. Hier kann eine unabhängige Studie wichtige Erkenntnisse liefern, die es den Regierungen erschwert, Pushbacks abzustreiten. Zudem kann die Studie genutzt werden und dazu beitragen, Vertragsverletzungsverfahren gegen die zuständigen Staaten einzuleiten.
In der Flüchtlingspolitik werden auch diskriminierende Ungleichbehandlungen der Flüchtlinge aus der Ukraine deutlich. Die offene Bereitschaft der EU-Bürger*innen Millionen Kriegsflüchtlinge aufzunehmen, zeigt ein großes Ausmaß an Solidarität. Damit Ukrainer*innen in der EU schnell Fuß fassen können, indem sie Zugang zu Sozialleistungen und zum Arbeitsmarkt erhalten, wurde die Massenzustromrichtlinie der EU aktiviert. Fliehen allerdings Drittstaatenangehörige aus der Ukraine in die EU, und hierbei handelt es sich vor allem um Studierende aus afrikanischen Staaten, wird es für sie schwierig, da für sie die Richtlinie nicht gilt. Ihr Aufenthaltsstatus ist ungewiss, was für die geflüchteten Menschen eine hohe Belastung ist. Dies ist offensichtliches Beispiel von Diskriminierung, wenn nicht gar von Rassismus. Auch hier spielt das zivilgesellschaftliche Engagement von Flüchtlingsinitiativen wie zum Beispiel der Initiative »Seebrücke« eine große Rolle, die die Geflüchteten dabei unterstützen, ihre Rechte wahrzunehmen. So zeigt sich beim Thema Flucht und Migration, wie wichtig zivilgesellschaftliches Engagement im Kampf gegen Diskriminierung und Rassismus ist. Zivilgesellschaftliche Organisationen treten oft in viel stärkeren Maße für die Werte der EU ein als die eigentlich zuständigen Institutionen.
Zunehmend besorgniserregend ist der ansteigende Antisemitismus in der EU. In der Zeit der Covid-19-Pandemie haben Desinformation und Hass gegen jüdische Menschen im Internet deutlich zugenommen. Die Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (FRA) berichtete, dass die Erfassung antisemitischer Vorfälle in ganz Europa nach wie vor unzureichend ist. Die Unterschiedlichkeiten und das Fehlen von verlässlichen Daten ist ein großes Problem im Kampf gegen Antisemitismus. Auch der steigende Antisemitismus von Hasskommentaren auf Internetplattformen ist besorgniserregend. So reagieren beispielsweise Facebook und andere Plattformen nicht oder nur sehr selten darauf, wenn sie von Nutzer*innen auf antisemitische Hasstiraden aufmerksam gemacht werden. Das Engagement von Zivilgesellschaft in Kooperation mit Europaabgeordneten ist dringend geboten, denn der Kampf gegen antisemitische Diskriminierungen geht uns alle an.
Dazu gibt es Ansatzpunkte, die in Kooperation mit der Zivilgesellschaft verfolgt werden können. So hat die EU-Kommission unter anderem vorgeschlagen:
Die Schaffung einer europäischen Forschungsstelle, die sich mit heutigem Antisemitismus befasst, zu fördern.
In Zusammenarbeit mit den lokalen Gemeinschaften die Schaffung eines Netzes von Stätten zu fördern, an denen sich der Holocaust ereignet hat.
Alle verfügbaren Instrumente einzusetzen, um Partnerländer dazu zu bewegen, vehement gegen Antisemitismus vorzugehen.
Weiter sollen zivilgesellschaftliche Organisationen – auch finanziell – bei der Bekämpfung antisemitischer Hassreden, Desinformation und Verschwörungsmythen im Internet in den betreffenden Sprachen unterstützt werden. Bei all diesen Maßnahmen ist es wichtig, jüdische Perspektiven und jüdisches Leben sichtbar zu machen, was Ausdruck einer praktischen Solidarität mit Jüdinnen und Juden ist.
Abschließend möchten wir noch auf das Handlungsfeld des Antiziganismus hinweisen. So leben in der EU 80 Prozent der Rom*nja in Armut, ihre Lebensumstände sind prekär. Die Lebenslagen von Rom*nja-Familien sind nach wie vor schockierend und ihre Bildungs- und Beschäftigungsaussichten schlecht. Rom*nja leben etwa in Ungarn in Stadtteilen, in Ghettos unter oft unwürdigen Umständen. Auch hier ist es ein zivilgesellschaftliches Anliegen, Bemühungen für Chancengleichheit, Integration und Teilhabe der Rom*nja zu verstärken.
Diskriminierung ist eng mit den multiplen Krisen unserer Zeit verknüpft und dadurch häufig intersektional. Weiter führen individueller und gesellschaftlicher Kontrollverlust in der Folge multipler Krisen wie Pandemie, Kriegsgefahr, Klimawandel und soziale Ungleichheit zu einem ansteigenden Nationalismus. Es ist offensichtlich, dass Diskriminierungen mit dem austeigenden Nationalismus in Europa konnotiert sind.
Daher ist ein Kampf gegen Diskriminierung immer auch ein Kampf gegen Rechtspopulismus und Rechtsextremismus, dessen ideologische Narrative in der Mitte der Gesellschaft zunehmend Resonanz finden. Denn besonders unter national-konservativen Regierungen und in Ländern, in denen der Rechtssaat gezielt abgebaut wird, sind marginalisierte Gruppen in Gefahr. So gäbe es noch viele Handlungsfelder zu erwähnen: Queers sind etwa in Polen Zielscheibe massiver Diskriminierungen, hier werden LGBTQI+-freie Zonen ausgerufen und Frauen können ihr Recht auf Selbstbestimmung bei dem Thema »Abtreibung« kaum noch wahrnehmen.
Das Europäische Parlament ist als demokratisch gewähltes Organ der EU ein wichtiger Anlaufpunkt für zivilgesellschaftliche Organisationen. Die Ausweitung von partizipativen Instrumenten und eine strukturelle Reform der EU bleiben aber unabdingbar, um diesen Bottum-Up-Ansatz stärker zu verankern. Die europäische Bürgerinitiative ist ein wichtiges Instrument, muss aber durch erleichterte Rahmenbedingungen gestärkt werden. Die jetzigen Bedingungen sind sehr restriktiv: So müssen dem Organisationsteam einer Bürgerinitiative mindestens sieben Unionsbürger*innen aus wenigstens sieben verschiedenen Mitgliedstaaten angehören. Diese können dann in einem Jahr die Unterschriften von einer Million Menschen aus mindestens sieben EU-Mitgliedstaaten sammeln. In jedem einzelnen EU-Mitgliedstaat ist dabei eine festgelegte Mindestzahl an Unterzeichner*innen zu erreichen. Weitere Ansätze zur Förderung der Zivilgesellschaft in ihrem Kampf gegen Diskriminierungen sind Programme wie z.B. Horizon Europe, Creative Europe, Erasmus+ und der Kohäsionsfonds.
Die hier kurz angerissenen und unvollständig aufgeführten Handlungsfelder von Diskriminierungen in der EU zeigen die große Kluft zwischen den behaupteten Werten und der Realität. Je stärker Anspruch und Realität auseinanderfallen, umso mehr wird die Glaubwürdigkeit einer wertegebundenen EU beschädigt. Das Europäische Parlament muss in enger Kooperation mit Zivilgesellschaft den Gegenpol zu dieser Entwicklung bilden. Als einzige direkt gewählte Institution der EU hat es eine große Verantwortung. Die Zusammenarbeit mit zivilgesellschaftlichen Organisationen ist unersetzlich, um Partizipation und Inklusion in der EU zu stärken. Ihre Grundwerte müssen sich in der Realität wiederfinden, damit Diskriminierungen überwunden werden. Die Zukunft der EU hängt davon ab.
Beitrag in den Europa-Nachrichten Nr. 12 vom 8.12.2022
Für den Inhalt sind die Autor*innen des jeweiligen Beitrags verantwortlich.
Autor
Prof. Dr. Dietmar Köster ist seit 2014 Mitglied des Europäischen Parlaments. Mit der Botschaft »Für ein Europa der Solidarität« ist er 2019 wieder in das Parlament eingezogen. Seit seiner Wiederwahl ist er unter anderem Mitglied des Ausschusses für auswärtige Angelegenheiten (AFET) und des Unterausschusses für Menschenrechte (DROI) und setzt sich schwerpunktmäßig für den Kampf gegen Diskriminierung, Antiziganismus und Antisemitismus ein.
Zur Person: https://dietmar-koester.eu/person/
Kontakt:info@dietmar-koester.eu
Weitere Informationen: www.dietmar-koester.eu
Lisa Storck arbeitet als Pressesprecherin im Europäischen Parlament. Sie ist spezialisiert auf außenpolitische Fragen, insbesondere zu den Themen Migration, Flucht und Asyl sowie feministische Außenpolitik.
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