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BBE Europa-Nachrichten: Die von der EU ins Leben gerufene Konferenz zur Zukunft Europas ist ein umfassender Prozess mit vielen Bausteinen, die dazu dienen sollen, Bürger*innen aus allen Teilen der EU in die Diskussion zur Zukunft Europas einzubeziehen. Warum ein neues Format? Welches Zeichen möchte die EU mit diesem neuen Format setzen?
Niklas Nienaß, MdEP: Ich denke, es hat sich in den vergangenen Jahren in politischen Kreisen zunehmend die Erkenntnis durchgesetzt, dass die EU nicht einfach so weiter machen kann wie bisher. Die EU hat nicht deutlich genug gemacht, welche Bedeutung sie für das Leben der Menschen hat. Damit ist natürlich auch ihre Akzeptanz gesunken, verbunden zudem mit fehlender Identifikation unserer Bürgerinnen und Bürger mit der EU. Zumal es eine Unsitte von Politik auf nationaler Ebene ist, die Verantwortung für viele schlechte politische, gesellschaftliche oder wirtschaftliche Entwicklungen – etwa die sogenannte Eurokrise, die andauernden Flüchtlingsdramen oder zuletzt die viel zu langsame zentrale Beschaffung von Impfstoffen – auf »Brüssel« zu schieben. Besonders krass haben wir dies im Vereinigten Königreich beobachten können, mit dem Brexit als Tiefpunkt. Dieser hat, glaube ich, für ein kollektives Aufwachen aller EU-Befürworter gesorgt und markierte das vorläufige Ende einer langen Negativentwicklung, die spätestens mit dem Scheitern des EU-Verfassungsvertrages im Jahr 2005 begonnen hatte. Unsere Bürgerinnen und Bürger über eine große Konferenz wieder stärker in die großen und grundsätzlichen Fragen der EU und unserer gemeinsamen europäischen Zukunft einzubeziehen, halte ich daher im Kern für eine gute und richtige Sache.
BBE Europa-Nachrichten: Was kann die Konferenz zur Zukunft Europas bewirken und was stünde auf Ihrer Wunschliste ganz oben?
Niklas Nienaß, MdEP: Die Zukunftskonferenz ist der Prozess mit der größten Bürger*innenbeteiligung in der europäischen Geschichte – wenn man mal von Wahlen absieht. Das Potential für einen nachhaltigen Einfluss auf die Weiterentwicklung der EU im Sinne unserer Bevölkerung hat sie daher durchaus – dieses Potential muss jedoch auch genutzt werden. Wenn wir es schaffen, die Wünsche der Bürgerinnen und Bürger aufzugreifen und in die Realität umzusetzen, dann wird die Zukunftskonferenz letztlich ein Erfolg gewesen sein – und nur dann! Ich erwarte, dass die derzeit auf lokaler und regionaler Ebene diskutierten sowie auf der Online-Plattform futureu.europa.eu eingebrachten Ideen und Forderungen ungefiltert in die Beratungen der Zukunftskonferenz einfließen. Am Ende des Prozesses müssen dann die Ergebnisse der Zukunftskonferenz in den EU-Verträgen verbindlich festgeschrieben werden. Ich persönlich würde mir vor allem einige strukturelle Veränderungen wünschen: Etwa ein unionsweit harmonisiertes Wahlsystem mit transnationalen Listen sowie europäischen Parteien mit demokratischen Strukturen, europäischen Programmen und europäischen Spitzenkandidatinnen und -kandidaten, deren Wahl dann auch tatsächlich zur Leitung der EU-Kommission führt. Ein weiterer Punkt, der mir persönlich wichtig ist, wäre die weitgehende Abschaffung des Einstimmigkeitsprinzips im Rat, das nur zu Blockaden führt und wirkliche Veränderung unmöglich macht, und das vor allem demokratiefeindliche und korrupte Populisten wie Viktor Orbán oder Janez Janša mit überproportional großer Macht auf EU-Ebene ausstattet. Aber nochmals: Entscheidend ist, was die Mehrheit der Bevölkerung möchte – wir Politiker*innen sollten uns da dringend zurücknehmen.
BBE Europa-Nachrichten: Was sind die größten Herausforderungen und wo liegen die Grenzen der Konferenz?
Niklas Nienaß, MdEP: Meine größte Sorge ist, dass die Zukunftskonferenz zu einer Demokratie-Show verkommt – das wäre eine Katastrophe für die EU und für unsere Demokratie! Wenn wir uns einmal anschauen, wie holprig der Start der Konferenz vonstattenging, dann muss ich leider sagen, bin ich nach wie vor etwas skeptisch: Die EU-Mitgliedstaaten haben den Start der Konferenz verschleppt, haben durch ihre Blockadehaltung versucht, das Mandat zu verwässern, und letztendlich die Dauer der Konferenz auf ein Jahr verkürzt. Einige Mitgliedstaaten haben schon vor Beginn der Konferenz deren Bedeutung unterminiert. Das waren Sabotageversuche, die aus meiner Sicht absolut inakzeptabel und nicht hinnehmbar sind. Wenn sich der Ansatz vieler Mitgliedstaaten nicht fundamental ändert, wird wohl die größte Herausforderung werden, für die Ergebnisse der Konferenz Unterstützung im Europäischen Rat zu finden. Hier liegen zugleich auch die Grenzen dessen, was die Konferenz leisten kann – zumal sie keine demokratische Legitimation als gesetzgebendes Organ hat.
BBE Europa-Nachrichten: Als eine digitale Plattform zur Konferenz zur Zukunft Europas gestartet wurde, kommunizierte die EU einen inklusiven Prozess, dass möglichst viele Menschen über die Plattform ihren Beitrag zur Gestaltung ihrer Zukunft leisten können. Wie inklusiv ist der Prozess aus Ihrer Sicht tatsächlich?
Niklas Nienaß, MdEP: Für die Plattform gilt leider: Gut gedacht, schlecht gemacht. Und zwar in mehrfacher Hinsicht: Zum einen ist die Website nicht besonders ansprechend und benutzer*innenfreundlich gestaltet und erinnert doch sehr an das Internet der 2000er Jahre; gerade jüngere Menschen dürften daher eher abgeschreckt sein. Zum anderen hat die EU aus meiner Sicht aber auch nicht genug getan, um die Plattform zu promoten, mit der Folge, dass wahrscheinlich nur ein Bruchteil der Bevölkerung überhaupt davon weiß. Leider muss ich konstatieren, dass aber auch die Medien viel zu wenig über die Zukunftskonferenz im Allgemeinen und die Plattform im Speziellen berichtet haben. Und dennoch: Die Plattform gibt grundsätzlich jedem Bürger und jeder Bürgerin die Möglichkeit, sich mit eigenen Ideen einzubringen – insofern halte ich die Einstufung als inklusiver Prozess für durchaus gerechtfertigt.
BBE Europa-Nachrichten: Haben Sie den Eindruck, dass die Resonanz bei den Bürger*innen den Erwartungen seitens der EU entspricht?
Niklas Nienaß, MdEP: Das ist schwer einzuschätzen. Fast 10.000 auf der Plattform eingebrachte Ideen klingt zunächst nach ziemlich viel, doch gerade einmal 35.000 angemeldete Teilnehmer*innen ist natürlich eine Zahl, mit der angesichts von 450 Millionen Einwohner*innen in der EU niemand zufrieden sein kann. Hinzu kommt, dass vor allem diejenigen erreicht werden und sich engagieren, die ohnehin bereits ein recht ausgeprägtes Interesse an europäischen Themen haben. Selbiges gilt für die physischen und virtuellen Veranstaltungen auf lokaler und regionaler Ebene. Wünschenswert wäre jedoch, dass sich auch diejenigen Menschen aktiv einbringen, die sich sonst vielleicht weniger mit europäischen Themen beschäftigen; auf sie müssen wir noch aktiver zugehen. Und wir sollten aufpassen, dass wir uns nicht in einer rein pro-europäischen Blase bewegen; gerade auch die Stimmen von EU-Kritiker*innen müssen wir aufmerksam anhören, wenn es – wie ich denke – unser Ziel ist, am Ende eine wirklich breite Unterstützung für die Weiterentwicklung der EU zu erreichen.
BBE Europa-Nachrichten: In den Medien wurde als Hashtag für die Plattform bekannt: #DieZukunftGehörtDir__. Bedeutet das, dass die Zukunft den Bürger*innen gehört, die Onlinezugang haben und digitale Tools beherrschen? Ist eine erfolgreiche Bürger*innenbeteiligung auf europäischer Ebene ohne Digitalisierung vorstellbar?
Niklas Nienaß, MdEP: Natürlich sind das Internet und digitale Kommunikation heutzutage weit verbreitet und erleichtern vieles enorm; gerade die Umstände der Pandemie haben unserer Gesellschaft einen enormen Schub in dieser Hinsicht verpasst. Aber wir dürfen bei aller Begeisterung für alles Digitale drei zentrale Dinge niemals vergessen: Erstens ist ein schnelles Netz noch längst nicht in allen Regionen Europas vorhanden, das erschwert vieles. Zweitens kommen nicht alle Menschen mit der Digitalisierung zurecht, dies gilt insbesondere für ältere Generationen - doch auch sie mit ihrer Erfahrung sollten wir unbedingt einbeziehen. Die Zukunft gehört uns allen, möchte ich in Anlehnung an den Hashtag betonen. Und drittens kann nichts – kein noch so schnelles Internet und keine noch so erfolgreiche Digitalisierung – ein physisches Zusammentreffen von Menschen und den direkten Austausch im persönlichen Gespräch miteinander ersetzen. Deswegen finde ich die zahlreichen physischen Veranstaltungen so unglaublich wichtig, die im Rahmen der Zukunftskonferenz überall in Europa organisiert werden, einschließlich der Plenarsitzungen, die in Straßburg stattfinden. Eine Plattform wie futureu.europa.eu oder eine Videokonferenz können immer nur ergänzende Tools sein, um die Kommunikation zu erleichtern oder zu verbessern; richtig eingesetzt sind sie jedoch sehr wertvoll.
BBE Europa-Nachrichten: Wenn Sie an das Thema Digitalisierung und Digitales Europa denken: Was sind die Handlungsfelder, die aus Ihrer Sicht am wichtigsten sind? Welche Rolle spielt dabei die Zivilgesellschaft?
Niklas Nienaß, MdEP: Den mangelhaften Netzausbau hatte ich eben bereits erwähnt, dieses Thema muss ganz weit oben auf unserer Agenda stehen. In Estland ist der Zugang zum Internet bereits seit zwei Jahrzehnten als soziales Grundrecht in der Verfassung verankert – da wundert es nicht, dass die digitalen Kompetenzen der Bevölkerung dort weit entwickelt sind, die Start-up-Szene im IT-Sektor floriert und die öffentliche Verwaltung verhältnismäßig schlank, effizient und kostengünstig ist. Viele Regionen Europas haben diesbezüglich noch einen erheblichen Nachholbedarf, insbesondere im ländlichen Raum – gerade auch in Deutschland. Wir müssen so schnell wie möglich ein flächendeckendes und flächendeckend schnelles Internet erreichen. Soweit zur Infrastruktur. Mindestens genauso wichtig ist aus meiner Sicht aber der Umgang mit digitalen Inhalten aus dem Internet. Da reden wir etwa über die Fähigkeit, Informationen richtig einordnen zu können – Stichwort Fake News, wo vor allem Bildung und Medienkompetenz eine fundamentale Rolle spielen. Wir reden über den besten Umgang mit Hass und Hetze im Netz, ohne jedoch die Meinungsfreiheit zu gefährden. Wir reden aber auch über die Herausforderungen und Chancen der Digitalisierung für den Kultur- und Kreativsektor, wo die Durchsetzung des Urheberrechts im digitalen Raum ebenso ein Problem darstellt wie das Bemühen um faire Bezahlung, etwa beim Musik-Streaming. Bei all diesen Punkten stellt sich dann natürlich auch ganz entscheidend die Frage nach der Verantwortung von Online-Plattformen wie Google, Facebook, YouTube oder TikTok. Die EU hat da bereits einiges an Gesetzgebung angestoßen, doch stehen wir noch am Anfang eines langen Prozesses. Die Zivilgesellschaft kann und muss hierbei eine zentrale Rolle spielen, und sollte sich gerade bei diesen Themen in die Zukunftskonferenz einbringen.
Das Interview wurde von der Redaktion der BBE Europa-Nachrichten am 21.10.2021 schriftlich geführt.
Beitrag in den Europa-Nachrichten Nr. 12 vom 9.12.2021
Für den Inhalt sind die Autor*innen des jeweiligen Beitrags verantwortlich.
Angaben zur Person
Niklas Nienaß, MdEP, ist seit Juli 2019 Abgeordneter von Bündnis 90/Die Grünen im Europäischen Parlament, wo er Mitglied der Ausschüsse für Regionale Entwicklung, für Kultur- und Bildung sowie für Konstitutionelle Fragen ist. Er leitet die Parlamentariergruppe der Europa-Union, gehört der fraktionsübergreifenden »Spinelli Group« pro-europäischer Abgeordneter an und ist Mitglied der Konferenz zur Zukunft Europas.
Kontakt: https://niklas-nienass.eu/kontakt/
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