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Zwischenüberschrift
Ich habe heute keine Berechtigung, zu ihnen zu sprechen, aber das Privileg. Denn ich und meine Familie sind in Sicherheit. Seit Donnerstagmorgen verfolge ich, wie Bomben auf meine Geburtsstadt Kyiw fallen. Seitdem habe ich nicht einmal weinen können. Wie die meisten bin ich völlig ratlos, ich habe viele Fragen. An Sie, an Netzwerke und Bewegungen, an uns als Zivilgesellschaft. Sie lassen sich nicht einfach beantworten, aber denken sie bitte wenigstens kurz darüber nach.
Die meisten von uns werden sich bestimmt daran erinnern, wo sie am elften September waren? Können Sie sich auch daran erinnern, wo Sie während der Maidan-Revolution 2013/2014 waren? Können sie sich daran erinnern, wo sie waren, als die Krim annektiert wurde? Als vor acht Jahren im Osten der Ukraine ein Krieg entfacht wurde? Waren Sie schon einmal in der Ukraine? Lwiw, Odessa, Kyjiw? Das waren wunderschöne Städte, mit einer reichen Kultur und einer pluralistischen Gesellschaft, aufgebaut nach dem Flächenbrand des deutschen Vernichtungskriegs, den Millionen von Ermordeten, Geflüchteten und zur Zwangsarbeit nach Deutschland Verschleppten, der Ausbeutung, auf der unser heutiger Wohlstand in Deutschland unter anderem gründet. Nach dem Zerfall der Sowjetunion hat sich die Gesellschaft schließlich eine selbstbestimmte, freiheitliche Ordnung erkämpft. Sie will die bürgerlichen Rechte und Freiheiten, die wir hier für selbstverständlich halten.
Meine Eltern wollten das auch, als sie nach Deutschland kamen. Wir glaubten und glauben fest an die Werte der Demokratie. Wie die meisten ukrainischen Jüd:innen fühle ich mich jetzt sehr an die deutsche Besatzung erinnert. Sie ist gar nicht so lange her. Meine Oma ist nur knapp dem Massaker von Babij Jar entkommen. Wie muss es gerade für über eineinhalb Millionen Binnenflüchtlinge aus der Ostukraine sein, die sich schon einmal ein neues Leben aufbauen mussten? Oder für hunderte von belarusischen Aktivist:innen, die Zuflucht in der Ukraine gesucht haben? Meinen wir dasselbe, wenn wir vom Frieden sprechen? Einen Frieden, in dem hier nicht geschossen wird und weder Bundeswehr noch Nato eingreifen und in dem zeitgleich Andersdenkende in Russland für jeden Protest langjährige Haftstrafen bekommen, über eintausend politische Gefangene in belarussischen Gefängnissen gefoltert werden und die Ukraine in Schutt und Asche gelegt wird?
Die Ukraine wird von einem Regime angegriffen, das sich am Handel mit Deutschland bereichert hat. In Zusammenarbeit mit der deutschen Wirtschaft rüsten sich Diktatoren nicht nur für die Unterdrückung ihrer eigenen Bevölkerung, sondern für Vernichtungskriege. So werden Ukrainer:innen gerade damit erschossen, was deutsche Unternehmen als Sportwaffen verkaufen. Ich dachte, der Großteil der Deutschen ist gegen Waffenexporte? Was für Forderungen kann ich an unsere Regierung stellen? Wenn sie für die Interessen gewählt wurde, die sie vertritt? Unseren warmen Komfort, unsere Sicherheit, unseren Frieden. Was soll ich jetzt meinen Freund:innen in der Ukraine schreiben? Wie kann ich ihnen Mut machen? Während sie ihre Existenz verlieren, verliere ich den Glauben an eine wertebasierte, starke Zivilgesellschaft. Wie können Vertreter:innen dieser Zivilgesellschaft für Verhandlungen, für Zugeständnisse an Regime werben, die für alles stehen, wogegen sie sind: Umweltzerstörung, Atomkraft, Rassismus, Folter, Kriegsverbrechen.
Propaganda ist nicht nur Hetze, Propaganda sind auch die Euphemismen und Verharmlosungen, die uns umgeben. Die Weigerung, die Dinge beim Namen zu nennen. Was tun wir dagegen, um nicht Sprachrohr menschenfeindlicher Wirtschaftsinteressen zu werden, und damit Handlanger von Kriegsverbrechern? Wie weit muss es kommen, damit Betroffene und ihre Perspektiven sichtbar werden? Was ist das für ein Frieden und für eine Bewegung, die zu tauben Regimen und gesichtslosen Organisationen spricht anstatt mit Menschen zu reden? Verdient heute eine Friedensbewegung in Deutschland ihren Namen? Oder ist es eine Befriedigungsbewegung? Eine Selbstbefriedigungsbewegung? Wir werden den Krieg mit Menschenketten nicht aufhalten, der Krieg ist längst da. Und er richtet sich an uns hier. Und wir lassen wir andere dafür ausbluten.
Ich habe gehört, es gibt hier Menschen, die Probleme mit dieser Fahne [ukrainische Nationalflagge – Anm. d. Red.] haben? Anscheinend hängen sie einem Imperialen Weltbild nach und lehnen die Souveränität der Staaten – und damit das Völkerrecht ab. Diese Fahne steht heute für Selbstbestimmung, Demokratie und Menschenwürde. Und wofür stehen Sie?
Die Ukraine wird frei sein, wenn wir unsere Freiheit wahrnehmen. Ich bitte Sie, lassen Sie uns nicht allein!
Beitrag in den Europa-Nachrichten Nr. 2 vom 17.3.2022
Für den Inhalt sind die Autor*innen des jeweiligen Beitrags verantwortlich.
Autorin
Irina Bondas ist engagiert bei Memorial Deutschland. Sie lebt in Berlin und arbeitet freiberuflich als Dolmetscherin und Übersetzerin sowie als Lehrkraft und Workshopleiterin für Gemeindedolmetschen und DAF in universitären und sozialen Einrichtungen.
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