Städte: der Stoff, aus dem Europa ist
Warum die Europäische Union das Potential ihrer Städte besser nutzen sollte
Ivo Banek
Inhalt
Städte als Vorreiter bei Klimaschutz und Bürgerbeteiligung
Europa und Europäer näher zusammenbringen
»Brexit oder nicht, wir bleiben Mitglied«
Das »Jahrhundert der Städte«
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Redaktion
Ja, Europa sei in der Krise, ließen die vier Politiker wissen. Aber es gebe eine Lösung. Es war ein ungewöhnlicher Auftritt der Bürgermeister von Bratislava, Budapest, Prag und Warschau. Sie waren im Februar nach Brüssel gekommen, um sich der Europäischen Union als die bessere Alternative zu ihren nationalen Regierungen zu empfehlen. Während in der Slowakei, in Ungarn, Tschechien und Polen europäische Werte und demokratische Rechte eingeschränkt würden, stünden die Hauptstädte dieser Länder weiter an der Seite der EU – und sollten daher auch direkten Zugang beispielsweise zu Fördergeldern bekommen. Der »Pakt der freien Städte« ist der vorläufige Höhepunkt eines erstarkenden Selbstbewusstseins europäischer Städte. Er ist auch die folgerichtige Konsequenz aus der Erkenntnis, dass Europas Erfolg maßgeblich von seinen Städten abhängt: Hier leben etwa 75 Prozent der Menschen, erarbeiten rund 85 Prozent der Wirtschaftsleistung und verursachen 70 Prozent der CO2-Emissionen. »Städte sind Teil des Problems«, sagt darum Stockholms Bürgermeisterin Anna König Jerlmyr. »Aber sie sind auch der Schlüssel zu den Lösungen.« Die Schwedin ist Präsidentin des Städtenetzwerks Eurocities, das 144 Großstädte mit mehr als 250.000 Einwohnern vertritt – insgesamt rund 130 Millionen Menschen.
Städte als Vorreiter bei Klimaschutz und Bürgerbeteiligung
Gerade beim Klimaschutz zeigt sich, dass Städte oft ehrgeiziger sind als ihre nationalen Regierungen. Rund zwei Drittel der Mitglieder von Eurocities haben sich vorgenommen, bis spätestens 2050 klimaneutral zu werden – ein Ziel, das inzwischen auch die neue EU-Kommission verfolgt, aber längst nicht alle Mitgliedsstaaten. Bereits im Frühjahr 2019 haben darum Vertreter von mehr als zweihundert Städten die europäischen Staatschefs zu stärkeren Anstrengungen im Klimaschutz aufgefordert. An den ambitionierten Plänen von Städten sind häufig Bürgerinnen und Bürger direkt beteiligt. Im nordenglischen Leeds beispielsweise wurde 2019 die so genannte »Climate Change Citizens‘ Jury« eingerichtet. Das Bürgergremium hat über acht Wochen konkrete Empfehlungen für eine klimafreundlichere Stadt erarbeitet, von der Umstellung des Verkehrs über die Schaffung von mehr Grünflächen bis zum Verzicht auf Einwegverpackungen aus Plastik. Jetzt befasst sich der Stadtrat von Leeds mit der Umsetzung. Bürgerbeteiligung ist in vielen Städten fester Bestandteil der lokalen Politik. Im belgischen Gent entwickelt und begleitet ein »Food Council« die Lebensmittelstrategie der Stadt, das französische Nantes nutzt das Instrument der »Grand débat«, um die Menschen über Themen wie die künftige Energieversorgung mitbestimmen zu lassen, Städte wie das schweizerische Lausanne, das spanische Madrid und das portugiesische Braga erproben partizipative Budgets. Städte seien damit in einer »idealen Position, in Zeiten zunehmender politischer Zersplitterung in Europa die Kluft zwischen europäischen und nationalen Entscheidungsträgern und ihren Bürgern zu überbrücken«, heißt es in der »City Leaders Agenda« von Eurocities.
Europa und Europäer näher zusammenbringen
Diese Kluft hat auch die neue EU-Kommission im Blick. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat ihrem Kollegium in persönlichen Briefen zum Amtsantritt, den so genannten »Mission Letters«, aufgetragen, die Verbindungen zwischen Menschen und den europäischen Institutionen zu stärken und »den Abstand zwischen Erwartungen und Wirklichkeit zu verringern«. Dazu plant die EU-Kommission eine »Konferenz zur Zukunft Europas«, die vom Europatag, dem 9. Mai 2020, für zwei Jahre laufen und dazu beitragen soll, dass »die Stimme der Europäer besser gehört wird«. Eurocities hat angeboten, die Erfahrung der Städte mit Bürgerbeteiligung für diese Konferenz zu nutzen – schließlich seien Städte »die bürgernächste Regierungsebene«. Bürgerinnen und Bürger direkt einzubeziehen, über Wahlen und öffentliche Konsultationen hinaus, die normalerweise nur bestimmte Gruppen erreichen, sei für die EU »schwierig«, meint Anna Lisa Boni, Generalsekretärin von Eurocities. »Die Menschen engagieren sich eher auf lokaler Ebene, auch weil Stadtverwaltungen oft über politische Ideologien hinausgehen und pragmatische Lösungen finden müssen, die den Bedürfnissen der Menschen dienen.«
»Brexit oder nicht, wir bleiben Mitglied«
Pragmatismus ist jetzt auch in Großbritannien gefragt. Nach dem Brexit, dem Austritt des Landes aus der EU, suchen London, Leeds und andere Städte nach Wegen, in der europäischen Familie zu bleiben. 19 britische Städte sind Teil des Netzwerks Eurocities. »Brexit oder nicht, wir bleiben Mitglied von Eurocities«, hat es der Bürgermeister von Edinburgh, Frank Ross, kurz vor der britischen Unterhauswahl im Dezember bekräftigt. Zu wertvoll seien Erfahrungsaustausch und Zusammenarbeit mit anderen Städten auf dem Kontinent. Eurocities unterstützt die britischen Städte und hat die eigenen Statuten angepasst, damit künftig auch Mitglieder aus Nicht-EU-Ländern einen Sitz im Vorstand des Netzwerks bekommen können. Bereits vor dem Brexit war das Europa von Eurocities größer als die EU: Die Mitglieder- und Partnerstädte stammen aus 39 Ländern.
Das »Jahrhundert der Städte«
Städte halten Europa zusammen, auch dort, wo die Nationalstaaten dies nicht (mehr) tun. Städte setzen europäische Projekte wie den Green Deal um, nehmen Flüchtlinge auf und integrieren Migranten, schaffen Arbeitsplätze und Wohlstand, treiben die digitale Transformation voran, kreieren kulturelle Inspiration und ermöglichen direkte Bürgerbeteiligung. Trotzdem kommen Städte in der Europäischen Kommission bisher nur im Kleingedruckten vor. Die Zuständigkeit für urbane Fragen findet sich in keinem Titel der 27 Mitglieder des Kollegiums, sondern nur als Unterpunkt in der Aufgabenbeschreibung der Kommissarin für »Kohäsion und Reformen«. Eurocities hatte dafür geworben, das Thema Städte hochrangig anzusiedeln und eine Vizepräsidentin oder einen Vizepräsidenten der Kommission damit zu beauftragen, der zentralen Rolle von Städten in Europa entsprechend. Ein »Jahrhundert der Städte« hatte Wellington Webb, früherer Bürgermeister von Denver, ausgerufen, nachdem das 20. Jahrhundert das der Nationalstaaten gewesen sei. Die Europäische Union setzt dennoch hauptsächlich auf die Mitgliedsstaaten, wenn es um Entscheidungen geht. Europa sollte das Potential seiner Städte besser nutzen – das war die Botschaft der vier Bürgermeister von Bratislava, Budapest, Prag und Warschau, die im Februar nach Brüssel kamen. Und das ist auch die Botschaft des Netzwerks Eurocities, das für Städte einen Sitz am Tisch der Entscheidungen fordert – für ein besseres Europa.
Beitrag in den Europa-Nachrichten Nr. 2 vom 5.3.2020
Für den Inhalt sind die Autor*innen des jeweiligen Beitrags verantwortlich.
Autor
Ivo Banek ist Kommunikationschef des europäischen Städtenetzwerks Eurocities. Bevor er 2019 nach Brüssel kam, war der Österreicher unter anderem Radiojournalist in Bremen, politischer Pressesprecher in Hamburg und Kommunikationsmanager in Stockholm.
Kontakt: ivo.banek@eurocities.eu
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