Beitrag in den Europa-Nachrichten Nr. 2 vom 9.3.2023

Europäisches Jahr der Kompetenzen

Christian Moos

Das Europäische Jahr der Kompetenzen

Der Fachkräftemangel ist in aller Munde. Eigentlich ist es kein Fach-, sondern ein Arbeitskräftemangel – und zwar auf breiter Front. Wirtschaft und Gesellschaft der meisten EU-Staaten leiden unter einem spürbaren Rückgang an Menschen, die dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen. Der demografische Wandel ist kein Zukunftsthema mehr. Die Alterung der Gesellschaft findet hier und jetzt statt und alle bemerken es in ihrem Alltag, beruflich und privat. Besonders dramatisch ist die Lage an den Schulen, in den Kitas und im Gesundheitswesen und das nicht nur in Deutschland. Hausgemachte Fehler wie schlechte Arbeitsbedingungen in sozialen Berufen kommen zum demografischen Wandel hinzu. Der Staat büßt an Leistungsfähigkeit ein, aber auch die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft leidet, wenn sie in Ermangelung qualifizierter Beschäftigter unterhalb ihrer Wertschöpfungsmöglichkeiten bleibt.

Die Europäische Union widmet nicht zuletzt deshalb das Jahr 2023 den Kompetenzen. Aus- und Weiterbildung stehen in diesem Europäischen Jahr der Kompetenzen im Vordergrund. Im Arbeitskräftemangel liegen sicherlich auch Chancen für die gesellschaftliche Entwicklung. Zum einen sind noch nicht alle Reserven des Arbeitsmarkts gehoben. Frauen sind noch zu oft wider Willen in Teilzeit, die Frauenerwerbsquote hat noch Luft nach oben. Die Kompetenzen zu vieler Frauen werden nach wie vor nicht oder zu wenig genutzt. Und der europäische Equal Pay Day gemahnt Jahr für Jahr, dass es noch keine volle Chancengleichheit für Frauen und Männer im Beruf gibt. Immer noch führen schwierige Bedingungen bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf dazu, dass die Lohn- und Rentenunterschiede zwischen Männern und Frauen zunehmen.

Auch bei den Teilhabechancen älterer Menschen, die gerne noch arbeiten wollen, gibt es Verbesserungsbedarf. Das Geschenk der Großen Koalition, die neue Anreize für einen früheren Renteneintritt geschaffen hatte, war ein gesellschaftspolitischer Fehler. Den Menschen die Renten zu kürzen, die ohnehin schon kaum noch auskömmlich sind und insbesondere die Lebensleistung vieler Frauen und ostdeutscher Bürgerinnen und Bürger nicht ausreichend würdigen, wäre ebenso ein Irrweg. Die deutsche und die europäische Politik können im Sinne des Europäischen Jahres der Kompetenzen intelligentere Antworten auf die bestehenden Herausforderungen finden.

So können lebenserfahrene Menschen mit ihren vielfältigen Kompetenzen wertvolle Agenten für koproduktive Prozesse werden, also Aufgaben wahrnehmen, die der Markt allein nicht regeln kann, für die der Staat nicht mehr genug Ressourcen hat und die im Bereich des gemeinnützigen Engagements liegen. Viele der sozialen und ökologischen Nachhaltigkeitsziele, wie die Vereinten Nationen sie definiert haben, lassen sich ohne eine entsprechende Beteiligung der Zivilgesellschaft überhaupt nicht erreichen. Das gleiche gilt für die notwendigen Strategien zur Hebung der stillen Reserven des Arbeitsmarkts. Dafür gezielt stärkere Anreize und Rahmenbedingungen zu schaffen, wäre ein guter Weg. Denn die Kompetenzen sind da. Sie sind wie ein Schatz, der nur gehoben werden muss in einer Gesellschaft, die ihr volles Potenzial bisher nicht ausschöpft.

Selbstverständlich gibt es auch bei den jungen Menschen, von denen es inzwischen zu wenige in Europa gibt, viel Potenzial für koproduktive Ansätze. Zumal darin, besonders auf lokaler Ebene, wichtige Zukunftsperspektiven für eine klimaneutrale, nachhaltig wirtschaftende Gesellschaft liegen. Der Staat, die Wirtschaft und die Zivilgesellschaft können neue Allianzen eingehen, für die es freilich das eine oder andere Monopol aufzubrechen gilt, das echte gesellschaftliche und eben auch wirtschaftliche Teilhabe be- oder gar verhindert. Das gilt vor allem für den Bereich der Energieversorgung, wo Stadtwerke und genossenschaftliche Ansätze, die Bürgerinnen und Bürger als »Prosumer«, eine größere Bedeutung gewinnen sollten.

Besonders wichtig mit Blick auf die Jugend wäre aber ein Bildungssystem, das deutlich weniger Schulabbrechende hervorbringt und jedem Menschen die Chance gibt, die in ihm liegenden Talente zu entdecken und im Sinne persönlichen wie auch gesellschaftlichen und nachhaltigen wirtschaftlichen Wachstum zu entwickeln. Eine bessere Förderung aller Talente schließt Exzellenz keineswegs aus, kann diese im Gegenteil befördern. Besonders der Mangel an qualifizierten Lehrkräften ist jedoch ein großes Problem, das es dringend zu lösen gilt. Pädagogisches Wissen und Können und auch die fachlichen Qualifikationen, die es in allen Entwicklungsphasen für gute Bildung und den Kompetenzerwerb braucht, lassen sich nicht in Schnell- oder Schmalspurverfahren erwerben.

Gleichzeitig darf aber der Kompetenzerwerb insgesamt – auch im Sinne des lebenslangen Lernens – nicht auf formales Lernen und offizielle Bildungsabschlüsse eingeengt werden. Kompetenzen, die über informelles Lernen erworben werden, sind nicht minderwertig. Die EU wirbt seit vielen Jahren dafür. Der Europäische Qualifikationsrahmen eröffnete entsprechende neue Wege, derweil die Umsetzung des Deutschen Qualifikationsrahmens noch viele Wünsche offenlässt. Informelles Lernen betrifft insbesondere auch Kompetenzen, die durch Engagement erworben werden. Dies endlich mehr anzuerkennen, wäre ein konkreter Beitrag zur Stärkung der organisierten Zivilgesellschaft, die eine tragende Säule unserer Gesellschaftsordnung, unserer freiheitlichen Demokratie ist. Besonders in diesen Zeiten, wo zu Recht viel von Resilienz gesprochen wird, ist dies ein zentraler Faktor.

Besondere Bedeutung haben im Zusammenhang der Kompetenzen auch die verschiedensten vulnerablen Gruppen. Stille Reserven, etwa bei Menschen mit Behinderungen, gibt es auch hier. Die Barrieren müssen weg, Teilhabe setzt produktive Kräfte frei und stärkt den sozialen Zusammenhalt.

Und schließlich: Migrantinnen und Migranten haben seit jeher entscheidend zu prosperierenden Gesellschaften beigetragen. Der Arbeitsmarktzugang von Menschen, die nach der Genfer Flüchtlingskonvention Schutz suchen, ist ein wichtiger Beitrag sowohl zur Integration von Menschen mit Bleiberecht als auch zur Lösung des Arbeits- und Fachkräftemangels. Die Ukrainerinnen und Ukrainer, die im Zuge des verbrecherischen russischen Überfalls auf ihr Land Schutz in der EU gefunden haben, bekommen in vielen EU-Staaten schnellen Zugang zum Arbeitsmarkt. Das ist gut so. Nicht gut ist, dass dies für Menschen aus anderen Krisenregionen bisher nicht im selben Maße gilt.

Und selbstverständlich gibt es auch gesteuerte Fachkräftemigration, für die Europa attraktiver werden muss. Diese ist legitim und angesichts des demografischen Wandels notwendig. Sie darf aber nicht die unveräußerlichen Rechte derjenigen relativieren, die aus Not und auf irregulären Wegen nach Europa kommen, gleich ob sie individuelles Asylrecht genießen oder schutzbedürftig aus Kriegs- und Krisengebieten kommen. Und es kommt darauf an, dass diese Form der Migration nicht zu einem die Entwicklung der Herkunftsländer hemmenden Aderlass führt. Der Der sogenannte »brain drain« ist auch eine innereuropäische Realität. Deshalb sollten Entwicklungspartnerschaften mit Drittländern gesucht und gezielte Zusammenarbeit etwa in der beruflichen Bildung vor Ort ermöglicht werden. Dabei kann es nicht darum gehen, Kompetenzen abzuschöpfen. Vielmehr sollten gesellschaftliche und wirtschaftliche Netze geknüpft werden, von denen am Ende alle profitieren.

Der Fachkräftemangel in Europa und die Perspektiven der europäischen Asyl- und Migrationspolitik sind Gegenstand des Europäischen Abends, zu dem das BBE am 19. April in Zusammenarbeit mit dem dbb beamtenbund und tarifunion sowie der überparteilichen Europa-Union Deutschland ab 17 Uhr ins dbb forum Berlin, Friedrichstraße 169, einlädt. Die Veranstaltung soll eine Ideen- und Kontaktbörse sein rund um Europa, seine Migrationspolitik und den Fachkräftemangel [1].


Endnoten

[1] Weitere Informationen zum Europäischen Abend finden sich in Kürze: https://www.dbb.de/veranstaltungen/europaeischer-abend.html


Beitrag in BBE-Europa-Nachrichten Nr. 2 vom 9.3.2023

Für den Inhalt sind die Autor*innen des jeweiligen Beitrags verantwortlich.

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Autor

Christian Moos ist Beauftragter des BBE für Europäische Angelegenheiten. Er ist seit 2011 Generalsekretär der überparteilichen Europa-Union Deutschland (EUD), seit 2012 Mitglied des Vorstands der Europäischen Bewegung Deutschland (EBD) und seit 2015 Mitglied des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses (EWSA).

Kontakt: christian.moos@b-b-e.de

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