Inhalt
Regionalisierungscharta und Aufstand der Provinz
Inflationäre Verwendung des Regionsbegriffs
Zivilgesellschaftlich fundierte Praxis von Regionalisierung
Leitbild integrierter, nachhaltiger Regionalentwicklung
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Redaktion
Regionalisierungscharta und Aufstand der Provinz
Am 18.11.1988 verabschiedete das Europäische Parlament ein Grundsatzpapier, das als Regionalisierungscharta bekannt wurde und bis heute immer wieder zitiert wird, wenn es um die Stärkung der regionalen Ebene, um Subsidiarität und um demokratische Partizipation geht. In dieser Charta wird eine Region als eine durch Sprache, Kultur und historische Traditionen, aber eben auch durch gemeinsame Interessen und Willensbildung geprägte Gebietseinheit bezeichnet, deren Bevölkerung diese »Eigenschaften« weiter entwickeln möchte, »um den kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Fortschritt voranzutreiben«.
Die Regionalisierungscharta markiert regionalpolitisch eine Umbruchsituation. Sie lässt sich als Zwischenbilanz eines transnationalen politischen Diskurses lesen, in dem die durch den Aufstand der Provinz (Gerdes (Hrsg.) 1980) seit den 60er Jahren artikulierten regionalistischen Autonomieforderungen zum einen an die umstrittene ethnisch-essentialistische Gemeinschaftsdefinition der traditionellen Volksgruppenbewegung rückgekoppelt, zum anderen in innovative Regionalentwicklungskonzepte überführt wurden.
Dieser vor allem in Westeuropa geführte Diskurs kann wie kaum ein anderes Beispiel deutlich machen, wie intensiv die Prozesse der Formulierung wissenschaftlicher und politischer Wirklichkeitskonstruktionen ineinandergreifen, wenn bewegungsförmige kulturelle, soziale oder politische Umbrüche und Herausforderungen neue Realitätsinterpretationen und Handlungsorientierungen hervorbringen oder erzwingen.
Während die einen noch vom Zerfall der Nationalstaaten zu einem ethnisch strukturierten »Europa der Regionen« träumten, veränderte sich weniger spektakulär allmählich auch die Praxis der regionalen Strukturpolitik »von oben« zu einer Integrierten Regionalentwicklung, in der die konkrete Ausgestaltung einzelner nationaler oder europäischer Politikbereiche vor Ort einer regionalen Leitbildformulierung und damit unterschiedlichen regionalen Identitäts- und Entwicklungsvorstellungen untergeordnet werden sollte. Dieses Prinzip gilt bei europäischen Regionalentwicklungsprogrammen bis heute!
Inflationäre Verwendung des Regionsbegriffs
In der politischen Realität hat sich die strukturpolitische Renaissance des Regionalen bis heute allerdings eher zu einem Regionalisierungschaos ausgewachsen. Das bunte und ungeklärte Nebeneinander von Wirtschafts-, Netzwerk- oder cluster-Regionen, grenzüberschreitenden Regionen, Verwaltungsregionen, Zweckverbands- und Planungsregionen, EU-Strukturförderungsgebieten, Bundesländern, historischen Landschaftsverbänden etc. hat seine Ursache in einer taktisch weithin beliebigen und inzwischen schon inflationären Verwendung des Regionsbegriffs. In dieser Beliebigkeit spiegeln sich vor allem unterschiedliche institutionelle Beharrungskräfte und Interessen (insbesondere bestehender Gebietskörperschaften und staatlicher Verwaltungshierarchien!) sowie widersprüchliche Regionalisierungsvorstellungen. Diese paralysieren die regionale Handlungsebene eher als sie zu stärken. Die Chancen der »Politik der dritten Ebene« drohen, sich im Patchwork des Konferenzregionalismus der europäischen und nationalen Fördertöpfe zu verlieren.
Gegenüber der statisch-essentialistischen Fiktion ethnischer Regionen verflüssigt sich das Konzept eines »Europas der Regionen« zunehmend in einem mehrdimensionalen Reorganisationsprozess von wirtschaftlicher und kultureller Macht, dessen Dynamik durch politische Strukturreformen (Dezentralisierung, Mehrebenenpolitik) kaum noch eingefangen und gebündelt werden kann. Weithin ungebrochene neoliberale »Entstaatlichung«, Europaskepsis, Betonung zivilgesellschaftlicher Selbstorganisation und flexible Netzwerkbildung sind dominante Prozessmerkmale dieser Reorganisation von wirtschaftlicher und kultureller Macht. Auf regionaler Ebene entscheiden nur noch wirtschaftliche Potenz und politische Vetomacht darüber, ob eine Region sich zu einem Knotenpunkt transnationaler Netzwerkbildung entwickeln kann oder durch die Maschen fällt. Damit drohen insbesondere ländlich-periphere Regionen noch mehr an den Rand gedrängt zu werden.
Zivilgesellschaftlich fundierte Praxis von Regionalisierung
Die populistisch befeuerten Desintegrationsprobleme in Europa, die Erosion staatlicher Steuerungskapazitäten und die dringlicher werdende Zentrum-Peripherie-Problematik in und zwischen den europäischen Nationalstaaten setzen heute wieder eine verbindlichere Konzeption und Form von Regionalisierung auf die politische Agenda: In einer zivilgesellschaftlich fundierten Praxis von Regionalisierung könnte sich das regionale Sozialkapital geteilter Lebensweisen und Wertorientierungen mit politischer und wirtschaftlicher Mobilisierung in kommunikativ strukturierten Handlungsräumen oberhalb der kommunalen Ebene verbinden.
Diese Stärkung von Zivilgesellschaft in regionalen Handlungsräumen thematisierte auch die Konferenz zur Zukunft Europas in ihrem abschließenden Ergebnisbericht vom Mai 2022 (Punkt 40 »Subsidiarität«). Gefordert wird hier neben einer Reform des beratenden Ausschusses der Regionen auch eine verbindlichere, systematische Definition der subsidiären Abgrenzung zwischen der europäischen, der nationalen und der regionalen Aktionsebene.
»Region« ist dann ohne eine dynamisierte (sozio-)kulturelle Identitätskomponente nicht mehr denkbar. Regionale Identität konkretisiert sich hier in regional- bzw. soziokulturellen, zivilgesellschaftlichen, privatwirtschaftlichen und regionalpolitischen Verbundprojekten, was durch die Gemeinsamkeit von Lebensweisen und Hintergrundüberzeugungen, über die sich die Akteure in einer Region nicht jeweils neu verständigen müssen, erleichtert wird.
Regionale Identität im Sinne von geteilten Lebensweisen und Hintergrundüberzeugungen steht als Orientierungshilfe für gemeinschaftliches Handeln insbesondere in ländlichen Randregionen in Konkurrenz zu Orientierungen nach (partei-) politischen Überzeugungen, kirchlichen Bindungen, beruflichen und standespolitischen Solidaritäten oder konsumorientierten Lebensstilen.
In diesen Orientierungen dominieren durchweg herkömmliche Abhängigkeitsstrukturen zwischen Zentrum und Peripherie, Metropole und »Provinz«, »Stadt« und »Land«: Regionale Prägungen und Lebensgewohnheiten werden schlimmstenfalls als »provinziell«, bestenfalls als Dekor wahrgenommen und von »Provinzlern« in dieser Abwertung auch noch verinnerlicht. Die Vorbilder nicht nur kultureller Arbeit werden jenseits der Region gesucht. »Niveau« und Standards sind dann mindestens national, wenn nicht europäisch oder gar international: Der Verfasser hat noch nie so oft von »Weltniveau« in der Anpreisung hochkultureller Events reden hören wie in seiner eigenen Heimatregion!
Leitbild integrierter, nachhaltiger Regionalentwicklung
Das typologische Gegenbild zu dieser provinziellen Weltoffenheit ist das Leitbild integrierter, nachhaltiger Regionalentwicklung, das in dem Slogan »Global denken, regional handeln« griffig auf den Punkt gebracht wird. Nur so ist Regionalität mehr als ein traditionalistisches Relikt vormoderner Lebenswelten und insbesondere auch nachhaltiger als der beliebig instrumentalisierbare Catch-all Regionsbegriff hochbezahlter Regionalmarketing-Experten und bürokratischer Subventionseinwerber! Die Stärke von Regionen liegt nicht in ihrer Effizienz, Subventionen einzuwerben. Sie liegt ganz grundlegend zunächst in ihrer Selbstorganisations- und Mobilisierungsfähigkeit nach innen.
Zivilgesellschaftlich getragene Regionalität wird in Abgrenzung zum heutigen Regionalisierungschaos zu einem kontinuierlichen gesellschaftlichen und politischen Verständigungsprozess, in dem es um partizipative Konsensbildung über Ziele und Wege einer möglichst eigenständigen und regionsverträglichen Entwicklung geht.
Hier stellt sich dann unter anderem auch die Frage nach der Binnenföderalisierung der stramm zentralistisch regierten deutschen Bundesländer! 1991 gelang es dem Verfasser im Dialog mit den Redenschreibern der Staatskanzlei in Hannover immerhin, den damaligen Ministerpräsidenten Schröder in Aurich/Ostfriesland zu der folgenden programmatischen Aussage zu bewegen:
»Wir können als Land nicht nur gegenüber der Bundesregierung und der EG-Kommission die volle Beachtung des Subsidiaritätsgrundsatzes einfordern. Wir müssen im Sinne eines wohlverstandenen Binnenföderalismus das gleiche im Verhältnis der Landesregierung und der Landesverwaltung zu den örtlichen Organisationen gelten lassen.«
Den peripheren bzw. ländlichen Regionen werden solche Subsidiaritätsbekenntnisse von Landespolitikern nicht hinterhergetragen. Sie sind selbst dafür verantwortlich, dass solchen Worten auch Taten folgen! Auch aus »Provinz« kann »Region« werden! Dies setzt nach außen eine konsistente Politik regionaler Interessenvertretung voraus. Denn nur selbstbewusste Regionen können relevante Akteure transnationaler Netzwerke in einem kulturell vielfältigen Europa der Regionen werden.
Diese Chancen sollten gerade auch periphere oder ländliche Regionen zu nutzen wissen. Beispiele hierfür hat das Projekt Nr. 10 »Kultur und Regionen« des Europarates in beeindruckender Zahl und Vielfalt schon in den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts zutage gefördert (vgl. https://www.dr-dirk-gerdes.de/ausgewaehlte-sozialwissen-schaftliche-texte/europarats-projekt-nr-10-kulturelle-dynamik-und-regionalentwicklung-1992/)!
Anmerkungen: Für eine vertiefte frühere Ausarbeitung dieser aus eigener Wissenschaftstätigkeit und regionalpolitischer Praxis gewonnenen Überlegungen vgl. u.a.: https://www.dr-dirk-gerdes.de/ausgewaehlte-sozialwissen-schaftliche-texte/sozialwissenschaftliche-regionalforschung-2002/
Beitrag im Newsletter Nr. 3 vom 6.4.2023
Für den Inhalt sind die Autor*innen des jeweiligen Beitrags verantwortlich.
Autor
PD Dr. Dirk Gerdes war von 1986 bis zu seinem Ruhestand 2007 Leiter des RPZ der Ostfriesischen Landschaft, Körperschaft des öffentlichen Rechts. Hier engagierte er sich in verschiedensten Konstellationen für eine eigenständige Regionalentwicklung seiner Heimatregion Ostfriesland. 1983 habilitierte er sich an der Universität Heidelberg mit einer Schrift zum Thema „Regionalismus als soziale Bewegung“, die 1985 unter dem Titel "Regionalismus als soziale Bewegung. Westeuropa, Frankreich, Korsika: Vom Vergleich zur Kontextanalyse. Mit einem Vorwort von Thomas Luckmann" im Campus-Verlag erschien.
Kontakt: dr.dirk.gerdes@web.de
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