Beitrag in den Europa-Nachrichten Nr. 4 vom 28.4.2022

»Reborn« – Wiedergeburt

Ekaterine Togonidze

»Aus andrer Leute Haut ist gut Riemen schneiden« – Diese Redewendung ist eine der genauesten Beschreibungen der heutigen schrecklichen Realität: die Welt guckt sich an, was in der Ukraine auf Kosten des Lebens von Kindern, älteren Menschen, Zivilisten und auf Kosten der heldenhaften Ausdauer der Soldat*innen geschieht. Das körperliche Ringen und der Nahkampf mit dem Hauptfeind der heutigen Menschheit erweisen sich als ihre Bürde. Sogar die Entlarvung des Feindes war äußerst kostspielig, es erforderte viele Opfer, um für alles einen Begriff zu finden und die Welt wachzurütteln. Und dieser Prozess dauert noch an.

Aber die Identifizierung und Konfrontation des Feindes war und ist die Pflicht eines jeden, der eine durch Chauvinismus, Nationalismus, Imperialismus getriebene Aggression ablehnt; der sich für Leben und Freiheit entscheidet, sei es als Staatsbürger*in Russlands oder eines anderen Staates, als Aktivist*in, als gewöhnliche*r Bürger*in oder als Entscheidungsträger*in. Am Ende sind es aber die Ukrainer*innen, die Menschen opfern, die in Panzer stürmen oder die auf einer Brücke in die Luft gejagt werden – sie sind es, die mit ihrem eigenen Blut und Fleisch zahlen, um gegen das Böse zu kämpfen, das nicht nur sie, sondern den ganzen Planeten bedroht.

Da wir (nach Geburtsdatum und Lebensjahren) Zeugen dieses Unglücks werden und uns als Zeitgenossen wiederfinden, werden wir automatisch nicht nur zu Zeugen, sondern zu Beteiligten des Prozesses. Die Zeit des Schweigens, des Zögerns, des Aufwachens, der moralischen Werteerklärung haben wir (ab jetzt) nicht mehr – diese Zeit hatten wir bereits gehabt!

Georgier*innen hatten diese Zeit von der Geburt bis zum Krieg in Abchasien, bis zum August-Krieg im Jahr 2008, bis zum Krieg in der Ukraine, oder vielleicht hatten wir sogar diese Zeit schon vor der Geburt, als unsere Vorfahren der Sowjetunion, Repressionen, dem Zweiten Weltkrieg zum Opfer fielen. Die Geschichte hat uns belehrt: Krieg ist zerstörerisch, Aggression ist zerstörerisch, die Souveränität des Staates ist oberstes Gebot, die Sicherheit muss gewahrt bleiben, und es gibt keinen Frieden ohne Freiheit, und Freiheit ist ein menschliches Geburtsrecht. Und nun gibt es keine Zeit mehr für Betrachtung und Besinnung. Zu diesem Zeitpunkt gehen jede Minute Dutzende von Leben verloren! Und oft ist die Form der Zerstörung von Leben durch Russland nicht weniger grausam als die Tatsache der Zerstörung des Lebens selbst! Unfassbar grausam! Zusätzlich zu den Hunderten von Kindern, die heute – zwei Monate nach dem Krieg – getötet und vergewaltigt wurden, haben wir bereits überlebende Mädchen, die infolge von Gewalt schwanger sind. Schwangere Kinder! Schon diese zwei Worte reichen aus, um diese grausame Realität zu verstehen.

Die in dieser unerträglichen Zeit Geborenen müssen nun wiedergeboren werden, denn »ein Mensch wird aus dem Aushalten des Unerträglichen geboren, zum zweiten Mal und wahrhaftig« (Merab Mamardashvili, georgischer Philosoph, 1930-1990).

Schauen Sie sich die belagerten Städte der Ukraine an, die toten Kinder, unsere zum Scheitern verurteilten Schwestern und Brüder, das Land, das in eine Mülldeponie verwandelt wird, die gefährdeten Atomkraftwerke, die noch lebenden Menschen, die am Weltgewissen hängen, die unerschütterlichen Helden, die gefallene Kämpfer, die aus der Ukraine als Leichen nach Georgien zurückkehrten. Betrachten Sie die russische schleichende Okkupation in Georgien, entführte, getötete, ausgeraubte, gefolterte Menschen aus unseren Territorien (sie dauert bis heute an), und Sie werden erkennen, dass wir keinen Weg über die Wiedergeburt hinaus haben. Diese »Geburt« ist unser aller Pflicht, die Lösung für unsere Gesellschaft und die gesamte Menschheit. Ob wir wollen oder nicht, wir sind aufeinander angewiesen. Unsere Stärke liegt wirklich in der Einheit. Nein zu unserem gemeinsamen Feind – Putins Russland und dem Imperialismus! Nein zum Schweigen und zur Ignoranz, denn die »Riemen« werden heute aus der Haut der lebenden Menschen geschnitten.

Ehre sei der Ukraine und den Helden! Sieg für die Ukraine!

Diejenigen, die in dieser schwierigen Zeit geboren wurden, müssen mental wiedergeboren werden, wir haben keinen anderen Weg und keine andere Erlösung.


Aus dem Georgischen übersetzt von Nino Kavelashvili.


Beitrag im Newsletter Nr. 4 vom 28.4.2022
Für den Inhalt sind die Autor*innen des jeweiligen Beitrags verantwortlich.

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Autorin

Ekaterine Togonidze wurde 1981 geboren. 2011 erschien ihre erste literarische Veröffentlichung. Für ihre Arbeiten wurde sie mehrmals ausgezeichnet, u.a. erhielt sie 2012 den renommierten literarischen Preis »Saba«. Seit ihrem Romandebüt prägt sie Georgiens Literaturlandschaft. Ihre zwei Romane »Einsame Schwester« und »Orkan« wurden im Jahr 2018 und 2021 auf Deutsch erschienen (Septime Verlag, Wien).

Kontakt: eka_togonidze@yahoo.com

Weitere Informationen: http://www.septime-verlag.at/autoren/togonidze.html


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