Beitrag in den Europa-Nachrichten Nr. 4 vom 29.4.2021

Police, protest and pandemics: Was der Brexit für die Zivilgesellschaft Deutschlands und des Vereinigten Königreiches bedeuten könnte.

Kat Massmann

Inhalt

Police, protest and pandemics
Endnoten
Autorin
Redaktion

Dass der Brexit und die Corona-Pandemie gleichzeitig geschahen, mag manchem wie Ironie des Schicksals erscheinen. Gerade war das Vereinigte Königreich dabei, die tiefen Verbindungen mit seinen wichtigsten Wirtschaftspartnern zu lösen und sich damit voraussichtlich in eine Rezession zu begeben. Da entsprang auch noch eine weltweite Pandemie.

Betrachtet man sie aus einer breiteren historischen Perspektive, so ist die Covid-19 Pandemie vielleicht aber nicht nur Ironie des Schicksals, sondern auch Beschleuniger eines schon lang stattfindenden Prozesses. Ein Prozess, in dem eine Zivilgesellschaft um ihr Überleben kämpft. Und das auch schon lange vor dem Brexit.

Denn so geschah es schon oft in der Geschichte der Menschheit: Ein langwieriger, stiller Prozess fand plötzlich Ausdruck und Beschleunigung im Moment einer Krise. Wie zum Beispiel auch im Osmanischen Reich. Westeuropäische Historiker behaupteten zuerst, der erste Weltkrieg sei maßgebende Kraft im Zerfall des Osmanischen Reiches gewesen. Spätere Geschichtswissenschaftler*innen zeigten jedoch: Der Zerfall hatte schon lange vorher begonnen. Der erste Weltkrieg beschleunigte diesen Prozess lediglich.

Und so ähnlich könnten sich womöglich auch der Brexit und Covid-19 auf die britische Zivilgesellschaft auswirken.

Granted, der Zerfall der britischen Demokratie und die dazugehörige Zivilgesellschaft wird in linken Kreisen bereits seit den achtziger Jahren immer wieder vorhergesehen. Laut ihnen befinde man sich seit vierzig Jahren zu jeder Zeit kurz vor ihrem Zerfall. Und doch ist er bisher nicht komplett eingetreten. Margaret Thatcher mag in den 1980er Jahren den Sozialstaat zerstört und die Gewerkschaften weitgehend geschwächt haben, und mit ihnen auch die linke Opposition (denn anders als in Deutschland ist die Labour Party direkt aus den Gewerkschaften entsprungen und bis heute stark mit ihnen verwurzelt).

Doch die Zivilgesellschaft? Die ließen sich die stoischen Briten nicht so schnell nehmen. So sind die Briten eines der Völker, das weltweit mit am meisten an den Wohltätigkeitssektor spenden. Und auch ihr Sprachrohr ließ die britische Gesellschaft sich nicht so schnell nehmen: 2003 gingen mehrere Millionen[1] gegen den Irak-Krieg auf die Straße (laut Polizeiberichten die bis dato größte Demonstration der britischen Geschichte). 2015 protestierten Zehntausende gegen David Camerons Flüchtlingspolitik. Auch gegen den Brexit gingen die Massen auf die Straße. Als sich das Brexit-Votum zum zweiten Mal jährte, protestierten etwa eine Millionen Bürger*innen in London gegen den EU-Austritt.

Doch gebracht haben diese Proteste wenig. Blair zog 2003 trotzdem in den Irak-Krieg. Cameron hielt an seiner repressiven und restriktiven Flüchtlingspolitik fest. Und trotz der millionenstarken Demonstrationen wurde letztendlich auch (nach vielen Umwegen) der Brexit beschlossene Sache. Ob dieses kontinuierliche Ignorieren der Zivilgesellschaft so langsam an der stiff upper lip der Briten nagen könnte?

Denn der Zerfall einer Zivilgesellschaft geschieht eben nicht über Nacht. Er passiert in kleinen Schritten.

Als halbe Deutsche weiß ich das. Und so, wie die Zivilgesellschaft Deutschlands nicht von einem Tag auf den nächsten zerfiel, verliert sie eben auch im Vereinigten Königreich nur langsam und in kleinen Schritten ihre Kraft.

Doch was ist eine Zivilgesellschaft überhaupt? Das Australian Council for International Development sagt: NGOs, Vereine, religiöse Gemeinschaften, Gewerkschaften und informelle Gruppierungen bilden ihr zentrales Fundament. Eine große und starke Mittelschicht wird auch oft als wichtiger Bestandteil betrachtet.

Und was tut eine starke Zivilgesellschaft? Unter anderem spielt sie eine wichtige Rolle in der Reduzierung von Armut und Ungerechtigkeit[2]. Denn eine starke Zivilgesellschaft setzt sich – mithilfe ihrer unzähligen Organisationen – für die Interessen einer Gesellschaft ein. Und damit sorgt eine starke Zivilgesellschaft unter anderem dafür, dass ihre Regierung kontinuierlich mit der eigenen Verantwortung gegenüber dem Volk konfrontiert ist.

Und aus dieser Konfrontation entsteht ein Dialog. Die Zivilgesellschaft fordert, und die Regierung antwortet. Der Zyniker mag behaupten, dass Politiker*innen gewisse Veränderungen nur vorantreiben, weil sie die Unterstützung ihrer Wählerschaft nicht verlieren möchten. Doch Zynismus hin oder her – tut eine Politikerin das, was eine Zivilgesellschaft von ihr fordert, dann hat die Zivilgesellschaft ihr Ziel erreicht und ihren Zweck erfüllt.

Doch im Vereinigten Königreich breitet sich seit geraumer Zeit eine political culture aus, in der dieses Verantwortungsgefühl immer öfter fehlt.

Dass Boris Johnsons »Vote Leave«-Kampagne gegen Budgetgrenzen und damit auch gegen demokratisches Wahlrecht verstieß, hatte letztendlich keine praktischen Folgen. Denn das Referendumsergebnis wurde angenommen. Und für die unrechtmäßige Ausgabe von einer halben Millionen Pfund wurde Johnson‘s Kampagne lediglich mit umgerechnet 68.000 Euro bestraft[3]. Somit wurde auch eine indirekte Botschaft an Politikmachende gesendet: Ihr könnt die demokratischen Regeln ruhig brechen, Gelder missbrauchen und damit das Wahlergebnis zu euren Gunsten entscheiden. Es kostet euch bloß ein bisschen Geld. Umgerechnet auf die britische Bevölkerung betrug das Strafgeld gerade mal 0.01 Cent pro Wähler*in. Ein Schnäppchen dafür, dass die Kampagne eine halbe Millionen Pfund zu viel ausgab und damit wohl weitreichende Konsequenzen auf das Referendumsresultat hatte.

Dieser Trend, der mit dem EU-Referendum begann, hat sich seit Boris Johnson‘s Übernahme als Premierminister fortgesetzt und erreicht seit der Pandemie neue Ausmaße, die sich stetig selbst übertreffen.

Denn das Spinnennetz britischer Vetternwirtschaft ist mittlerweile so kompliziert geworden, dass zuletzt eine Doktorandin sogar eine interaktive Online-Visualisierung erschuf: Sie nannte sie My Little Crony[[4].

Auch eine eigene Wikipedia-Seite[5] listet mittlerweile die größten britischen Corona-Vertragsskandale auf. Einer der jüngsten Skandale zeigte zuletzt, was es braucht, um in UK einen der lukrativen Corona-Verträge zu ergattern: Die Freundschaft zum Gesundheitsminister, seine persönliche Handynummer, und Zugang zu Whatsapp[6].

Und während ein einzelner in Deutschland bekannt gewordener Skandal zu einer weitreichenden Empörung der Zivilgesellschaft, schlechten Umfragewerten für die Union und nicht zuletzt Rück- und Austritten einzelner Politiker führte, so ist im Vereinigten Königreich bis dato kein Politiker zurückgetreten. Die Umfragewerte halten sich stabil[7]. Die Skandale häufen sich, doch die Empörung bleibt aus.

Denn müde ist der Brite geworden. Müde von den ständigen Skandalen der letzten zehn Jahre.

Müde von den fehlenden Konsequenzen für diese kleine, elitäre Gruppe, die das Land regiert. Eine Elite, die oft derselben Privatschule entspringt[8] und dieselbe Universität besuchte[9]. Eine Elite, die weiß, männlich und upper class[10] ist.

Dass die BBC seit geraumer Zeit von Freunden dieser elitären Gruppe[11] geleitet wird, hilft dieser Müdigkeit nicht. Denn in einem Land, in dem die deutsche Medienlandschaft vergleichsweise paradiesisch erscheint, war die BBC lange ein wichtiges Medium für gut recherchierte und kritische Berichterstattung. Doch auch die BBC ist in ihrer Unabhängigkeit geschwächt. Ihre Gelder werden seit Jahren gestrichen. Ihre Ausgaben für Fernsehformate werden begrenzt. Und der mit der Regierung befreundete Generaldirektor will BBC-Satireprogramme[12] nun mit mehr rechten Inhalten füllen.

Und so kommen über die Jahre immer mehr Puzzlestücke zusammen: eine Elite, die sich nimmt, was sie will, ohne die Konsequenzen dafür zu spüren. Eine Medienlandschaft, in der ausführliche, dicke Sonntagszeitungen ein Relikt der Vergangenheit sind – und somit auch die umfassende Auseinandersetzung mit politischen und gesellschaftlichen Themen. Ein Premierminister, dem seine Macht wichtiger ist als eine konstante politische Einstellung (wie Sonia Purnell detailliert in ihrem Buch[13] belegt). Eine Mittelschicht, die sich seit der Finanzkrise von 2008 kaum erholt hat. Und eine Arbeiterschaft, die mit dem weitreichenden Einsatz von _zero hours-_Arbeitsverträgen jeglichen Schutz innerhalb des Sozialstaats verloren hat.

So war das Wiedererwachen der _Black Lives Matter-_Bewegung vielleicht auch ein gefundenes Fressen für eine Regierung, die nun plant, das britische Demonstrationsrecht weitgehend einzuschränken. Zu rabiat seien diese Demonstrant*innen vorgegangen. Dass ihre Gegenbewegung offen gewaltbereit [[14] schien und unter anderem von Mitgliedern der rechtsradikalen Szene[15] heimgesucht wurde, hatte dieselbe Regierung jedoch nicht beanstandet.

Als Antwort auf die Umweltgruppe Extinction Rebellion[16] sowie Demonstrationen der Black Lives Matter-Bewegung hat die Innenministerin Priti Patel nun die Police and Protest Bill ins Leben gerufen. Ein 300-Seiten langer Gesetzesentwurf, der das Beschädigen einer Statue zukünftig mit zehn Jahren Gefängnis bestrafen soll. Ein Gesetz, welches Demonstrationen, die zu »öffentlicher Ärgernis« und »erheblichen Unterbrechungen« führen, zukünftig als Straftat definieren soll. Was dabei als »ärgerlich« oder »unterbrechend« wahrgenommen wird, ist dabei jedoch nicht genauer definiert und könnte somit subjektiv von Polizeikräften entschieden werden.

Die Police and Protest Bill würde das Beschädigen einer Statue mit zehn Jahren Gefängnis bestrafen. Die Leave Kampagne hingegen zahlte für ihren Verstoß gegen das demokratische Wahlrecht lediglich eine Strafgebühr von umgerechnet €68.000.

Doch ist der unterbrechende, störende Effekt einer Demonstration nicht gerade einer ihrer zentralen Bestandteile? Was wird aus zivilem Ungehorsam, wenn er gehorsam sein muss? Wie soll eine Zivilgesellschaft sich Gehör verschaffen, wenn sie den Verkehr nicht unterbrechen (was bei größeren Demonstrationen ohnehin schier unmöglich ist) und nicht mit lauten Pfeifen und Trommeln auf sich aufmerksam machen darf (denn das könnte ja zu Ärgernissen führen)? Und ist die bloße Anwesenheit tausender Demonstrant*innen auf offener Straße nicht ohnehin auch automatisch ein öffentliches Ärgernis für all jene, die den Zielen dieser Demonstration gegenüberstehen?

Eine Gegenbewegung zur Police and Protest Bill existiert bereits. Am Samstag, den 1. Mai (in UK kein Feiertag!), soll die nächste _Kill The Bill-_Demonstration stattfinden. Ob diese Gegenbewegung einen Erfolg gegen Priti Patels geplantes Gesetz verbuchen wird, ist noch nicht klar. Sollte sie scheitern, so wäre es ein harter Schlag für das demokratische Demonstrationsrecht in UK. Und von Beispielen wie Hong Kong wissen wir: Es fängt im Kleinen an und wächst in zunehmend größeren Schritten. Bis es irgendwann kein Demonstrationsrecht mehr gibt.

Und auch für Deutschlands Zivilgesellschaft könnte der Brexit Folgen haben.

Denn mit dem Austritt aus der EU ist das Vereinigte Königreich von einem wirtschaftlichen Partner zu einem Konkurrenten geworden. Ein Pull-Faktor sind die geringeren Unternehmenssteuern, und die weniger strengen Geldwäschegesetze. Auch britische Arbeitnehmerrechte waren schon vor dem Brexit schwächer als in vielen EU-Ländern. Auch das ist für viele Unternehmen attraktiv. Mit dem Brexit könnten diese Arbeitsregelungen nun weiter gelockert werden. Man könnte argumentieren, dass es zumindest den Wettbewerb innerhalb der EU ankurbeln und zu Reformationen führen könnte. Doch es könnte auch zur Folge haben, dass die EU nachzieht und ihre Arbeitsrechte entsprechend stark lockert. Wenn UK wiederum darauf reagiert, könnte es zu einem race to the bottom kommen. Und eine ungeschützte Arbeiterschaft hat weniger zeitliche und mentale Kapazitäten, um sich für die Zivilgesellschaft einzusetzen.

Sollte die Police and Protest Bill tatsächlich den Sprung vom Gesetzesentwurf zum vollen Gesetz schaffen, so könnte das Vereinigte Königreich bald zu einem Hong Kong-Singapur-Mischling mutieren: ein Freihandelsstaat mit geringen Arbeiterrechten, niedrigen Unternehmenssteuern und einer paralysierten Zivilgesellschaft, die nicht mehr gegen ungerechte Arbeitspraxen und Korruption kämpfen kann. Und ein solcher wirtschaftlicher Konkurrent an der Küste Europas wäre auch eine Bedrohung für die deutsche Zivilgesellschaft.

Vom Begriff der Pandemiemüdigkeit mag hierzulande dank der erfolgreichen Impfkampagne wenig zu spüren sein. Doch die zivile Müdigkeit wächst. Und sie ist eine tickende Zeitbombe – nicht nur für das Vereinigte Königreich, sondern für ganz Europa.


Endnoten

[1] BBC News (16 February, 2003): »›Million‹ march against Iraq war«: http://news.bbc.co.uk/2/hi/uk_news/2765041.stm

[2] ACFID: Strong & Effective Civil Society: https://acfid.asn.au/our-focus/strong-effective-civil-society

[3] DW: »Brexit ›Vote Leave‹ campaign fined and referred to police by Electoral Commission«: https://www.dw.com/en/brexit-vote-leave-campaign-fined-and-referred-to-police-by-electoral-commission/a-49750297

[4] https://sophieehill.shinyapps.io/my-little-crony/

[5] https://en.wikipedia.org/wiki/COVID-19_contracts_in_the_United_Kingdom

[6] The Guardian: »Hancock's former neighbour won Covid test kit work after WhatsApp message«: https://www.theguardian.com/world/2020/nov/26/matt-hancock-former-neighbour-won-covid-test-kit-contract-after-whatsapp-message

[7] https://twitter.com/BritainElects/status/1387411066129354755

[8] BBC News: »Why has Eton produced so many prime ministers?«: http://news.bbc.co.uk/2/hi/uk_news/politics/election_2010/8622933.stm

[9] https://en.wikipedia.org/wiki/List_of_prime_ministers_of_the_United_Kingdom_by_education

[10] https://en.wikipedia.org/wiki/Social_class_in_the_United_Kingdom#Upper_class

[11] BYLINE TIMES: »The public service broadcaster’s new figurehead is a prolific Conservative Party donor, reports Sam Bright« https://bylinetimes.com/2021/01/06/new-bbc-chairman-richard-sharp-donated-more-than-400000-to-conservative-party/

[12] The Guardian: »Unbiased jokes at the BBC? We've heard that one before, director general« https://www.theguardian.com/media/2020/sep/06/unbiased-jokes-at-the-bbc-weve-heard-that-one-before-director-general

[13] Sonia Purnell: »Just Boris: A Tale of Blond Ambition« https://www.amazon.com/Just-Boris-Tale-Blond-Ambition/dp/1845137167

[14] https://www.youtube.com/watch?v=JmekuniV7HI

[15] The Guardian: »Campaigners fear far-right 'defence' of statues such as Churchill's«: https://www.theguardian.com/world/2020/jun/10/far-right-protesters-plan-defence-of-statues-such-as-churchills

[16] Gov.UK (Updated 16 April 2021)Policy paper: Police, Crime, Sentencing and Courts Bill 2021: protest powers factsheet: https://www.gov.uk/government/publications/police-crime-sentencing-and-courts-bill-2021-factsheets/police-crime-sentencing-and-courts-bill-2021-protest-powers-factsheet


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Kat Massmann ist Politikwissenschaftlerin, Journalistin und Übersetzerin. Die halbe Britin zog 2009 nach dem Abitur nach London, studierte wenige Jahre später Sozial- und Kulturanthropologie an der SOAS und schloss vor kurzem ihren Master in Europäischer Politik an der University of Bath ab. Sie arbeitet für das Horizon 2020-Forschungsprojekt Newfamstrat, welches den Schnittpunkt zwischen Gender Pay Gap, Elternschaft und sozioökonomischer Klasse in Europa erforscht. Zudem betreut sie den Brexit-Blog der Heinrich-Böll-Stiftung, bewirbt sich aktuell auf Doktorstellen in Europa und arbeitet als freiberufliche Übersetzerin, u.a. für politische Dokumentarfilme.

Kontakt: @mongrelmusings



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