Beitrag in den Europa-Nachrichten Nr. 4 vom 30.4.2020

Plädoyer für die Stärkung der Europäischen Zivilgesellschaft und eine europäische Auslegung der Gemeinnützigkeit

Dr. Sergey Lagodinsky, MdEP

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Plädoyer für die Stärkung der Europäischen Zivilgesellschaft und eine europäische Auslegung der Gemeinnützigkeit
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Redaktion

Wenn uns die Corona-Krise in Europa eins vor Augen führt ist es doch dies: Die Antwort auf diese Krise kann nur europäisch erfolgen. Von der Koordinierung medizinischer Hilfsleistungen, über die grenzübergreifende Forschung an einem Impfstoff bis hin zum wirtschaftlichen Wiederaufbau – die großen Herausforderungen dieser Zeit können wir nur gemeinsam europäisch und solidarisch lösen.
Während sich die Regierungschef*innen der EU-Länder teils schwer tun, sich gänzlich dem europäischen Projekt hinzugeben und Solidarität als oberste Handlungsmaxime zu begreifen, stellt die europäische Zivilgesellschaft sich ganz in den Dienst der Solidarität und der Nachbarschaftshilfe. Überall in Europa tragen zivilgesellschaftliche Organisationen zur Krisenbewältigung bei. Vielerorts sprießen neue gemeinwohlorientierte Projekte aus dem Boden. Menschen stehen füreinander ein in dieser schwierigen Situation.
Gleichwohl stehen gemeinnützige Einrichtungen dieser Tage besonders unter Druck. Spenden brechen weg, die Corona-Einschränkungen erschweren die tägliche Arbeit, reguläre Einnahmen fallen aus und Mitarbeiter*innen und Freiwillige kommen an ihre Belastungsgrenzen. Viele betroffene Organisationen werden von Regierungen in ihrer Not allein gelassen.
Hinzu kommen Angriffe auf Rechtsstaatlichkeit und Demokratie in Ländern wie Ungarn und Polen, aber nicht nur dort. In vielen EU-Mitgliedsstaaten steht die Zivilgesellschaft bereits seit Jahren unter Beschuss. In Ungarn werden Nichtregierungsorganisationen massiv drangsaliert und die polnische Regierung stellte die Verteilung staatlicher Mittel unter unmittelbare Regierungskontrolle. In Bulgarien, Italien oder der Slowakei war die Zivilgesellschaft häufig Zielscheibe staatlicher oder vom Staat tolerierter Drohungen und Angriffe. Nun nutzen die Regierungen in Ländern wie Ungarn und Polen die aktuelle Krise, um die Demokratie weiter abzubauen. Für gemeinnützig tätige Vereine, die den Regierungen nicht in den Kram passen, wird die Lage noch prekärer.
Doch auch in Deutschland haben die vergangenen Monate gezeigt, dass sich gemeinnützige Vereine nicht in Sicherheit wiegen können. Eine diffuse Angst geht um seit einer Entscheidung des Bundesfinanzhofs im Jahr 2019, wonach mehreren Vereinen die Gemeinnützigkeit aberkannt wurde. Die irritierenden Vorschläge von Bundesfinanzminister Olaf Scholz, politische Betätigung von Vereinen zu sanktionieren, trugen ihr Übriges zur Verunsicherung bei. Auch dieses Gerede über Aberkennung der Gemeinnützigkeit passt in den globalen Prozess von Shrinking Spaces, in dem zivilgesellschaftliche Handlungsspielräume immer weiter eingeschränkt werden und freie politische Betätigung tabuisiert oder gar unterdrückt wird.
Nun stellt sich, unabhängig vom Einzelfall, die Frage: Was ist politisch? Wo ziehen wir die Grenze zwischen Engagement, das der Allgemeinheit zugutekommt, und politischer Agitation? Unsere Zivilgesellschaft ist genuin politisch. Sie zu stärken ist eine wichtige Aufgabe jedes modernen Staates.
Wir müssen jetzt handeln, um diejenigen zu schützen, die sich tagtäglich für den gesellschaftlichen Zusammenhalt einsetzen, als Gegengewicht zu staatlicher Macht agieren und die pluralistische Gesellschaft aktiv mitgestalten. Während jetzt konkret und unbürokratisch auch gemeinnützigen Vereinen und Organisationen finanziell unter die Arme gegriffen werden muss, müssen wir längerfristig bessere Rahmenbedingungen schaffen, die zivilgesellschaftliches Engagement unterstützen. Für mich bedeutet dies einerseits aktive Unterstützung europäischer Finanzierung der NGOs überall in Europa. Darüber hinaus gilt es, die Schaffung eines gesamteuropäischen Vereins- und Gemeinnützigkeitsrechts einzuleiten. Mehr denn je benötigen wir ein EU-Regelwerk, das der europäischen Zivilgesellschaft nützt, indem es sie schützt, verbindet und näher zusammenbringt. Mit einem europäischen Vereins- und Gemeinnützigkeitsrecht könnte die EU entschieden zur Absicherung zivilgesellschaftlichen Engagements beitragen, grenzüberschreitende zivilgesellschaftliche Zusammenarbeit stärken und ganz nebenbei den autoritären Tendenzen einiger Regierungen etwas Konkretes und Positives entgegenstellen.
Es geht darum, Gründung, Registrierung und Betätigung der NGOs in Europa europäisch zu regeln und auf diese Weise zahlreichen europäischen Aktivist*innen und Ehrenamtlichen eine Basis für Vernetzung und Absicherung zu schaffen.
Für die anstehende deutsche Ratspräsidentschaft bedeutet es insbesondere: Das Thema muss von der Bundesregierung auf die Agenda gesetzt werden und mit Nachdruck vorangetrieben werden. Im Sinne der Rechtsstaatlichkeit in der EU und im Sinne der europäischen Vernetzung und des Zusammenhalts der EU-Bürgerinnen und -Bürger.


Beitrag in den Europa-Nachrichten Nr. 4 vom 30.4.2020
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Dr. Sergey Lagodinsky ist Mitglied des Europäischen Parlaments (Bündnis 90/Die Grünen) und erster Vizevorsitzender des Rechtsausschusses.

Kontakt: sergey.lagodinsky@europarl.europa.eu


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