Beitrag in den Europa-Nachrichten Nr. 4 vom 30.4.2020

Europa und die Gemeinnützigkeit. Zur europäischen Dimension eines heiklen Problems

Dr. Rupert Graf Strachwitz

Inhalt

Einführung
Die deutsche Situation
Gemeinnützigkeitsrecht als europäisches Gemeinschaftsrecht?
Modelle
Gemeinnützig in Europa?
Autor
Redaktion

Einführung

Spätestens seit den Urteilen des Europäischen Gerichtshofs in den Fällen Stauffer (Urteil vom 14. September 2006: Centro di Musicologia Walter Stauffer gegen Finanzamt München für Körperschaften) und Persche (Urteil vom 27. Januar 2009: Hein Persche gegen Finanzamt Lüdenscheid) ist für jedermann deutlich geworden, daß die Europäische Union auch in Fragen der Gemeinnützigkeit im Sinne einer Abgrenzung zivilgesellschaftlichen Handelns von wirtschaftlichem oder hoheitlichem Handeln ein Mitspracherecht beansprucht. Dies erscheint nicht übergriffig, denn auch die Lebenswelt der Bürgerinnen und Bürger Europas hat längst die Grenzen des Nationalstaates überschritten. Transnationale Zusammenschlüsse, zwischen Regionen und Kommunen sind dafür ein nicht zu übersehendes Beispiel, von den internationalen Verflechtungen der Wirtschaft ganz zu schweigen. Auch im persönlichen Bereich haben Staatsgrenzen außer in extremen Situationen weitgehend ihre Bedeutung eingebüßt. Und wenn sie plötzlich wieder in den Vordergrund rücken, wird dies überwiegend als seltsamer Anachronismus empfunden. In der aktuellen, durch einen Virus ausgelösten Krise unserer Gesellschaft wird von den meisten Menschen, wohlgemerkt zu Recht, mehr und nicht etwa weniger Europa eingefordert.
Auch in der Praxis der Zivilgesellschaft ist Europa längst angekommen. Die Unterschiede in den Strukturen spielen, wenn überhaupt, eine ganz untergeordnete Rolle. Ob ein österreichischer und ein deutscher Verein vergleichbar sind, was eine italienische ONLUS, eine britische charity, eine französische fondation d’entreprise sind, ob das polnische Gegenstück zum Verein im Einzelfall eine stowarzyszenie, ein związek oder ein zrzeszenie sein könnte oder ob mit einer schwedischen stiftelsen dasselbe gemeint ist wie mit einer deutschen Stiftung, ist für die praktische europäische Zusammenarbeit bedeutungslos. Noch sehr viel weniger schenken europäische soziale Bewegungen oder Protestbewegungen der Frage, welcher Nationalität die Mitglieder oder Teilnehmer haben, irgendeine Aufmerksamkeit. Eine europäische oder wohl sogar eine globale Zivilgesellschaft ist hier längst Realität.

Die deutsche Situation

Unter diesen Umständen ist der im deutschen Steuerrecht (§ 51 Abs. 2 AO) seit 2009 geforderte sog. strukturelle Inlandsbezug, wonach eine gemeinnützige Körperschaft ihre Zwecke nur dann im Ausland verwirklichen darf, wenn natürliche Personen, die ihren Wohnsitz oder ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Inland haben, gefördert werden oder die Tätigkeit neben der Verwirklichung der steuerbegünstigten Zwecke auch zum Ansehen der Bundesrepublik Deutschland im Ausland beitragen kann, mehr als nur aus der Zeit gefallen. Nicht nur eröffnet dies staatlicher Willkür Tür und Tor, denn, wie noch darzulegen sein wird, kommt der staatlichen Finanzverwaltung bei der Festlegung dessen, was überhaupt als gemeinnützig gelten kann und schon gar, was dem Ansehen der Bundesrepublik Deutschland im Ausland dient, die entscheidende Definitionsmacht zu.

Um die Frage, wie dieser Inlandsbezug im konkreten Einzelfall denn auszusehen habe, gibt es permanent Auseinandersetzungen, Fachleute halten sie für europarechtswidrig oder nicht vollziehbar. Darüber hinaus greift sie auf eine Logik zurück, die so alt ist wie die Anerkennung der Gemeinnützigkeit durch die Finanzverwaltung selbst: nicht viel mehr als 100 Jahre. Als in der Zeit vor dem 1. Weltkrieg die Steuern drastisch erhöht wurden, ergab sich die Notwendigkeit, gesetzlich zu verankern, welche Tätigkeiten davon befreit werden sollten, weil sie für das allgemeine Wohl auf bestimmten, dem Staat nützlich erscheinenden Gebieten, tätig wären. Im Blick waren vor allem die kirchlichen und anderen Organisationen im sozialen Bereich. Die Wirkung sollte denen zugute kommen, die den Steuerausfall zu kompensieren hatten, eine von Anfang an allzu simplistische Form der Aufrechnung. Die bis heute – leider – gebräuchlichen Begriffe der steuerlichen »Privilegierung« und »Steuerbegünstigung« stammen aus dieser obrigkeitsstaatlichen Zeit. Diese wirkte fort, obwohl die Parlamente, insbesondere seit den 1950er Jahren, die Liste der in diesem Sinne gemeinnützigen Zwecke beständig erweiterten. Die Erweiterungen waren zum Teil einem erweiterten Demokratieverständnis geschuldet, wonach auch Organisationen, die keine Dienstleistungen erbringen, sondern beispielsweise auf Mißstände aufmerksam machen, für das allgemeine Wohl einer demokratischen Gesellschaft wertvoll sind. Zum Teil allerdings war es auch schlichte Klientelpolitik, die die Liste der »gemeinnützigen« Zwecke immer länger, die Systematik hingegen immer lückenhafter werden ließ.
In jedem Fall hat dies zur Folge, daß die mit der Eintreibung von Steuern befaßte Staatsverwaltung zugleich zu entscheiden hat, welche Tatbestände nicht zu besteuern sind. Der damit einhergehende Interessenkonflikt und die offenkundige Überforderung in der Beurteilung einzelner Sachverhalte sind zudem deswegen besonders zu beklagen, weil der steuerliche Status eine ganze Fülle von Konsequenzen hat. Nur von der Finanzverwaltung als gemeinnützig anerkannte Organisationen können Zuwendungen von Stiftungen erhalten, sich an Freiwilligendiensten beteiligen, Räume in einem gemeindlichen Vereinsheim nutzen usw. Unter diesen Umständen ist es verwunderlich, daß manche Steuerrechtsexperten noch heute geradezu mit Stolz darauf verweisen, daß der Steuerstatus in Deutschland die primäre gesetzliche Grundlage dafür sei, ob eine Organisation als gemeinwohlorientiert zu gelten habe oder der Zivilgesellschaft angehöre.

Gemeinnützigkeitsrecht als europäisches Gemeinschaftsrecht?

Die schon erwähnte europäische Lebenswelt bringt es mit sich, daß man gern Überlegungen anstellt, ob nicht eine einheitliche europäische Handhabung angemessener wäre. Für letzteres hat die Europäische Union derzeit kein vertragliches Mandat. Und in der Tat: Die Mitgliedsländer hüten mit Bedacht ihre Eigenständigkeit im Umgang mit der Zivilgesellschaft. Dies ist leicht daran zu erkennen, daß die Vorlagen sowohl für ein europäisches Vereinsstatut als auch ein europäisches Stiftungsstatut im Europäischen Rat gescheitert sind oder jedenfalls nicht vorankommen. Nicht einmal eine mögliche zivilrechtliche Europäisierung für die beiden wichtigsten Rechtsformen zivilgesellschaftlicher, gemeinnütziger Organisationen ist von den Regierungen der Mitgliedsländer gewollt. Ein weiteres Indiz sind die in Europa sechs, nach dem Austritt Großbritanniens in der Europäischen Union immer noch fünf grundlegend verschiedenen Systeme für die Behandlung von Spenden an gemeinnützigen Organisationen. Dies reicht von der Besteuerung von Spenden (in Griechenland) und keiner Möglichkeit für Spender, diese steuerlich geltend zu machen (bspw. in Finnland) über die Möglichkeit der Zweckbindung eines kleinen Teils der Steuerpflicht (in Italien und den meisten mittel-osteuropäischen Ländern) bis zum Abzug von Spenden von der Steuerschuld oder vom steuerpflichtigen Einkommen. Die Verschiedenheit könnte kaum größer sein.
Diese Verschiedenheit läßt sich zudem trotz der eingangs erwähnten Gerichtsurteile sehr gut an der sehr unterschiedlichen Praxis in der Beurteilung von Spenden in andere EU-Länder ablesen, von der von Spenden in Drittländer ganz zu schweigen. Überwiegend sind Spenden an gemeinnützige Organisationen in der EU trotz der einschlägigen Urteile in der Praxis schwierig, sodaß viele Spender auch hierfür – wie jenseits der EU notwendigerweise – Mittlerorganisationen in Anspruch nehmen, die zweckgebundene inländische Spenden entgegennehmen, die gewünschte steuerliche Bescheinigung ausstellen und die Spende an den Empfänger im Ausland weiterleiten, nachdem sie sich davon überzeugt haben, daß dieser oder zumindest dessen Tätigkeit den Anforderungen an eine im Inland als gemeinnützig anerkannte Organisation entspricht. Für das seit 1999 bestehende Netzwerk Transnational Giving Europe und seine Partner in 20 europäischen Ländern gehört diese konkrete Mittlertätigkeit beispielsweise zu seinen wichtigsten Aufgaben. Dabei spielen die von Land zu Land verschiedenen gesetzlichen Vorschriften und die unterschiedliche Verwaltungspraxis in dem jeweils notwendigen Due-Diligence-Prozeß eine erhebliche Rolle. Von einer auch nur annähernd vergleichbaren Handhabung oder gar einer europäischen Gemeinnützigkeitsregelung ist die Europäische Union weit entfernt, eine Annäherung etwa im größeren Europa des Europarates, der im übrigen für derartiges erst recht kein Mandat hat, geradezu undenkbar.

Modelle

Es bleibt aber die Frage, ob man sich unter diesen Umständen nicht doch in Europa, vielleicht sogar darüber hinaus umsehen sollte, ob es nicht anderswo Beispiele für eine bessere Handhabung gibt. Das Beispiel der USA, oft ja als großes Vorbild gesehen, wenn es um Bedeutung und Tätigkeit der Zivilgesellschaft geht, ist vielleicht deswegen von Interesse, weil einerseits schon seit 1969 eine Verpflichtung für jede gemeinnützige Organisation (sog. 501 (c) (3)) besteht, jährlich eine Steuererklärung einzureichen (sog. Form 990), die der Öffentlichkeit von der amerikanischen Steuerverwaltung (IRS) zur Verfügung gestellt wird, während andererseits die Bescheinigungen, daß eine Organisation den 501 (c) (3) Status besitzt, bis zu einem ausdrücklichen Widerruf, das heißt zeitlich unbegrenzt gültig ist.
Das niederländische Recht gestattet Spendern den steuerlichen Abzug von Spenden an Organisationen in anderen EU-Ländern ohne Einschränkungen, aber nur dann, wenn diese in den Niederlanden registriert sind. Diese Registrierung ist auch für eine nicht-niederländische Organisation unproblematisch, setzt allerdings voraus, daß bestimmte Angaben und Nachweise auf der Webseite der Organisation stets aktualisiert einsehbar sind – ein akzeptables, pragmatisches Verfahren. Ein Beispiel aus Großbritannien erscheint von besonderem Interesse. Dort besteht, jeweils gesondert für England und Wales, Schottland und Nordirland, seit 1853 (!) eine sog. Charity Commission (in Schottland Office of the Scottish Charity Regulator genannt) als selbständige Regierungsbehörde im Geschäftsbereich des Innenministeriums (Home Office). Die englische Charity Commission beschreibt ihren gesetzlichen Auftrag wie folgt: »We register and regulate charities in England and Wales, to ensure that the public can support charities with confidence.« (Wir registrieren und regulieren gemeinnützige Organisationen in Engalnd und Wales, damit die Öffentlichkeit sie vertrauensvoll unterstützen kann.) Auch wenn dieses System in den letzten Jahren im Zuge einer zunehmenden Politisierung durch die Regierung Effizienz und Vertrauen eingebüßt hat, ist sie doch ein Beispiel dafür, wie die ohne Zweifel notwendige Registrierung und Regulierung so organisiert werden kann, daß zum einen die Bürgerinnen und Bürger konkret etwas davon haben und zum zweiten der unmittelbare Interessen- und Kompetenzkonflikt zwischen Steuereintreibung und sachgerechter Beurteilung zumindest stark abgemildert wird. Insbesondere wird in dieser Fachbehörde, übrigens im ständigen Dialog mit Experten und Verbänden, bspw. dem National Council of Voluntary Organisations (NCVO), das Thema Gemeinnützigkeit ständig sachorientiert fortgeschrieben. Daß gerade dieser beständige und informierte Diskurs staatlicherseits in Deutschland vollständig fehlt und jedes noch so absurde Vorurteil ein Publikum findet, läßt sich bei jeder parlamentarischen Debatte zu jedem angeblichen Reformgesetz aus der Finanzverwaltung schmerzlich beobachten.

Gemeinnützig in Europa?

Gibt es tatsächlich in Europa oder auch nur in Teilen Europas einen Konsens darüber, was letztlich als gemeinnützig zu gelten hat? Dazu ist es zunächst notwendig, eine Unterscheidung zwischen ‚gemeinnützig‘ im steuerrechtlichen Sinn und der Zugehörigkeit zur Zivilgesellschaft einzuführen. Das eine ergibt sich keineswegs aus dem anderen. Ob eine gemeinnützige Kapitalgesellschaft, deren Eigentümer ausschließlich öffentliche Gebietskörperschaften sind, der Zivilgesellschaft zuzurechnen ist, ist zumindest zweifelhaft. Andererseits ist bspw. der ADAC e.V. ohne Zweifel eine zivilgesellschaftliche Organisation. Den steuerlichen Status der Gemeinnützigkeit besitzt er nicht und hat ihn auch nie angestrebt.
Man könnte abstrakt Ziele von besonderer Bedeutung für die Gesellschaft formulieren und diese als gemeinnützig bezeichnen. Möglicherweise würde dann das Backen von Brot viel weiter oben auf der Liste stehen und als gemeinnützig eingestuft werden, anderes, das wir als gemeinnützig bezeichnen, hingegen die Schwelle nicht erreichen. Darunter wäre bspw. der Modellflug (§ 52 Abs. 2, Ziff. 23 AO), sofern man dieses Ziel als Maßstab nehmen würde. Anders würde das Ergebnis aber dann ausfallen, wenn es gar nicht um dieses Ziel im einzelnen ginge, sondern um die Bildung von freiwilligen Gemeinschaften zur Gestaltung der Freizeit als sozialer Kitt in einer zunehmend ausdifferenzierten und entpersonalisierten Gesellschaft. Dann allerdings würde die Nennung des Ziels der Gemeinschaftsbildung genügen. Noch mehr als in anderen europäischen Ländern ist man in Deutschland weit entfernt davon, die Prioritäten im Sinne solcher gesellschaftlicher Ziele neu zu setzen. So nimmt es nicht wunder, daß bürgerschaftliches Engagement, politische Mitwirkung und anderes mehr nicht oder nur sehr eingeschränkt als gemeinnützig im Sinne des Steuerrechts angesehen werden. Soweit erkennbar, klammert man sich europaweit an einen Katalog von Einzelzielen, über den in wesentlichen Punkten Konsens besteht, aber nicht in allen und mit zunehmenden Infragestellungen. Manches heiße Eisen, etwa Wettbewerbsverzerrungen durch ungleiche steuerliche Behandlung, wird politisch übertüncht oder verdrängt. Daß die bei den nationalen Regierungen beliebten gemeinnützigen Dienstleister aus übergeordneten Gründen nicht pauschal Opfer schematischer Vorstellungen von Marktzugang werden dürfen, ist andererseits ebenso unbestreitbar.
Die Gewährung von Hilfe für sozial Benachteiligte gehört dazu, ebenso Jugend- und Altenhilfe, Kultur, Bildung, Forschung, Natur- und Umweltschutz und einiges mehr. Sport wird nur in wenigen europäischen Ländern als gemeinnützig bewertet, überwiegend gilt er als nicht gemeinnützige Freizeitbeschäftigung, während in Deutschland die Laienmusik als Freizeitbeschäftigung gilt. Schulen in der Trägerschaft gemeinnütziger Organisationen sind in Deutschland unstrittig, in Großbritannien schon lange Gegenstand erbitterter politischer Auseinandersetzungen. In mehreren europäischen Ländern, bspw. Frankreich, Großbritannien und Deutschland wird die Frage, ob und inwieweit sich zivilgesellschaftliche Organisationen in politische Debatten einschalten dürfen, ohne ihren steuerlichen Status aufs Spiel zu setzen, von den Regierungen kritisch gesehen. Die Diskussion um Gemeinnützigkeit ist Teil der viel größeren Debatte um den Handlungsraum der Zivilgesellschaft, der Steuerstatus zu einem Instrument in der Hand der Regierungen zu dessen Einschränkung geworden. Um so wichtiger erscheint eine europaweite und grundlegende Thematisierung der Frage, welche Ziele sich Zivilgesellschaft setzen und warum sie wie steuerlich behandelt werden sollte.


Beitrag in den Europa-Nachrichten Nr. 4 vom 30.4.2020
Für den Inhalt sind die Autor*innen des jeweiligen Beitrags verantwortlich.

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Dr. Rupert Graf Strachwitz ist Vorstand der Maecenata Stiftung, München/Berlin und Direktor des Maecenata Instituts für Philanthropie und Zivilgesellschaft. Die Stiftung ist der deutsche Partner im Netzwerk Transnational Giving Europe.

Kontakt: rs@maecenata.eu


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