Ohne Zivilgesellschaft geht es nicht – Zur aktuellen Bedeutung Solidarischer Wirtschaftsformen in Europa
Dr. Kristina Bayer
Inhalt
Einleitung
Ziele und Prinzipien Solidarischer Ökonomien
Sammelbegriff für verschiedene Strömungen
Bürgergenossenschaften: Solidarisch wirtschaften für das Gemeinwohl
Ausblick
Chance der spanischen EU-Ratspräsidentschaft
Literatur
Autorin
Redaktion
Einleitung
«Die Essenz von Solidarischer Ökonomie ist die Demokratie». So fasste Paul Singer, der erste brasilianische Staatssekretär für Solidarische Ökonomie, den gesellschaftlichen Beitrag dieser besonderen Wirtschaftsform zusammen (Exner 2020: 265f.). Und er wusste, wovon er sprach. In Brasilien, einem Schwellenland, in dem ca. 30 Prozent der Menschen in Armut leben, konnte sich die Solidarische Ökonomie seit Beginn der 2000er Jahre zivilgesellschaftlich so stark verankern, dass sie neben einem eigenen Staatssekretariat auch hohe internationale Ausstrahlung gewann. Durch eine landesweite Kartierung von Organisationen der Solidarischen Ökonomie zeigte Singer, dass die vielfältigen Organisationen von Müllsammler*innen, Schuhputzer*innen und Kleinproduzent*innen, aber auch größeren Betrieben, die in Selbstverwaltung von Arbeiter*innen geführt werden, einen wichtigen Beitrag zur Überlebenssicherung und sozialen Integration der von extremer Armut Betroffenen leisten und für ca. 3 Prozent des BIP verantwortlich sind.
Ziele und Prinzipien Solidarischer Ökonomien
Dabei verkörpert die Solidarische Ökonomie eine partizipative Demokratie, die stark auf persönlichen Beziehungen aufbaut. Selbstverwaltung gemeinsamen Besitzes durch gleichberechtigte Entscheidungsprozesse, sozial-ökologische Ausrichtung von Konsum und Produktion, Kooperation in Form von Ressourcenteilung und gegenseitiger Unterstützung, Aufbau solidarischer Netzwerke, Orientierung am Gemeinwohl und wirtschaftliche Tätigkeit sind zentrale Kriterien (Müller-Plantenberg & Stenzel 2008). Häufig finden sich diese Prinzipien in hybriden Formen wieder. Die «genossenschaftliche Sozialform» (Exner 2020), die nicht unbedingt in der Rechtsform der Genossenschaft realisiert sein muss, ist gekennzeichnet durch gemeinsames Eigentum und das Prinzip der Mitgliederförderung. Wesentlich sind weiterhin Demokratie, Rollenidentität und Solidarität. «Ökonomie ist dabei als die Gesamtheit aller Praktiken zu verstehen, die Güter und Dienstleistungen herstellen.» (ebd. 261). Spekulative Investitionen und Profitgier werden somit unmöglich. Vielmehr geht es um bedarfsorientiertes Wirtschaften, um gemeinschaftliche Grundversorgung mit hochwertigen Lebensmitteln, bezahlbarem Wohnraum, Gesundheit, guter Bildung und Kultur. Neu am Solidarischen Wirtschaften ist, dass es nicht nur ökonomisch messbare Aktivitäten umfasst, sondern gerade auch deren Vermeidung. Dies geschieht durch Kooperation (Tauschen, Leihen, Verschenken, gemeinsam Nutzen), Recycling (Wiederverwenden, Reparieren), intelligente Reduktion oder Selbstversorgung.
Das Konzept der Solidarischen Ökonomie steht gegen das konkurrenzorientierte Wachstumsmodell mit seinem Rendite- und Kapitalisierungsprinzip. Realisiert wurde es in unterschiedlichen historischen Zusammenhängen: zu Beginn der Industrialisierung von den Redlichen Pionieren von Rochdale, später durch die Arbeiterselbstverwaltung in Jugoslawien oder als Teil von Regierungspolitik, wie etwa in Brasilien, Frankreich oder aktuell in Spanien.
Sammelbegriff für verschiedene Strömungen
Inzwischen steht der Begriff für eine Vielzahl an Strömungen. In Deutschland brachte die Alternative Ökonomie Ende der 1960er Jahre hoch-innovative Kollektivbetriebe hervor, die erfolgreich gesellschaftliche Nischen wie die erneuerbare Energiegewinnung eroberten und mit neuen Lebensformen experimentierten. Die Genossenschaftsbewegung erlebt seit der Novelle des Genossenschaftsgesetzes 2006 eine starke Renaissance. Mit den demokratischen Grundprinzipen der Selbsthilfe, Selbstverantwortung und Selbstverwaltung gelingt es Genossenschaften zunehmend, in vielfältigen Sektoren regionale Wirtschaftskreisläufe zu stabilisieren, für lokale Beschäftigung zu sorgen und nachhaltige Geschäftsmodelle zu entwickeln. In der Commons-Bewegung steht die Ausrichtung am Gemeinwohl im Vordergrund. Nach dem Vorbild der mittelalterlichen Allmende werden Wirtschaftsformen etabliert, die Gemeingüter frei zugänglich machen. Anstelle des Tausches von Waren wird auf freiwillige Beiträge gesetzt. Die Gemeinwohl-Ökonomie (GWÖ) stellt ein innovatives, nachhaltiges Wirtschaftsmodell mit dem Ziel einer ethischen Wirtschaftskultur dar. Als Alternative zum gegenwärtigen Wirtschaftsverständnis baut sie auf den Werten Menschenwürde, ökologische Verantwortung, Solidarität, soziale Gerechtigkeit, demokratische Mitbestimmung und Transparenz auf. In all diesen Formen wird wertvolles Erfahrungswissen über solidarisches Zusammenleben generiert – nicht nur in Bezug auf Geschäftsfelder und - modelle, sondern auch auf den zwischenmenschlichen Teil der Solidarität: Kommunikation, Konfliktbewältigung und Wachstumsmöglichkeiten des Einzelnen in der Gemeinschaft (Bayer & Embshoff 2015). In den meisten Fällen wirken Strukturen Solidarischer Ökonomien über die Einzelinitiative hinaus als starke Motoren nachhaltiger Entwicklung in ihren jeweiligen Kommunen und Regionen, wie beispielhaft in der französischen Ardèche oder im baskischen Mondragón.
Bürgergenossenschaften: Solidarisch wirtschaften für das Gemeinwohl
Ein relativ junges Feld stellen die sog. Bürgergenossenschaften dar (Bayer et al. 2021). Hier erbringen Bürger*innen Aufgaben und Dienstleistungen in ihrem Gemeinwesen eigenverantwortlich. Sie sichern die Nahversorgung, retten den ehemaligen Bahnhof vor dem Verfall, etablieren neue Kultur- und Freizeitangebote, ergänzen den ÖPNV mit innovativen Geschäftsmodellen und organisieren Unterstützungsnagebote in der Nachbarschaft. An diesem Punkt gehen sie über das Prinzip der reinen Mitgliederförderung hinaus. Ihr Zweck ist vielmehr auf die Förderung des Gemeinwohls gerichtet.
Damit reagieren sie auf ein wachsendes gesellschaftliches Bedürfnis nach Mitsprache, Mitbestimmung und Mitgestaltung. Weltweit erfasst der Wunsch nach Offenheit, Transparenz und echter Partizipation immer stärker die politische Öffentlichkeit. Claus Leggewie spricht davon, dass angesichts des großflächigen Versagens von Markt und Staat, in angemessener Weise für die Grundbedürfnisse der Menschen zu sorgen, Bürgerinnen und Bürger ‚nolens volens‘ immer mehr Verantwortung übernehmen.
Dies gilt zunehmend für alle relevanten Politikfelder. Allein im Bereich der Energiewende sind seit 2007 in Deutschland mehr als 1000 neue Energiegenossenschaften entstanden – ein Vorzeigebeispiel ökonomischer Partizipation trotz vieler politischer Widersprüche. Projekte der Solidarischen Ökonomie ermöglichen über den reinen Diskurs hinaus breite ökonomische Teilhabe und damit gestaltendes «Unternehmertum» im besten Sinne. Ökonomie erfüllt so ihren eigentlichen Zweck, nämlich Vorsorge für das ganze Haus (griech. «oikos») zu sein.
Ausblick
Zurück zu Paul Singer. Solidarität ist zutiefst demokratisch, und Solidarisches Wirtschaften trägt nachweislich dazu bei, das demokratische Zusammenleben zu stärken und zu erhalten. Es schafft Selbstwirksamkeit. Erfahrungen von Entwertung können damit aufgefangen und umgekehrt werden, die – so viel wissen wir – eine zentrale Basis für rechtsextremistische und -populistische Haltungen bilden.
«Wer sich solidarisch verhält, nimmt im Vertrauen darauf, dass sich der andere in ähnlichen Situationen ebenso verhalten wird, im langfristigen Eigeninteresse Nachteile in Kauf.», definierte Jürgen Habermas den umstrittenen Begriff. Genau diese Haltung benötigen wir angesichts der Erkenntnis, dass uns das Weiter so an den Rand der Katastrophe gebracht hat und zunehmend bringen wird. Politik und Wirtschaft sind angesichts der immensen Herausforderungen, denen wir in Europa gegenüberstehen – Klimawandel und Rechtspopulismus, um nur die wichtigsten zu nennen – auf die Kompetenzen und Ressourcen aller Bürger*innen angewiesen. Es ist an der Zeit, dies endlich anzuerkennen.
Chance der spanischen EU-Ratspräsidentschaft
2011 hat das Europäische Parlament einen Bericht zur Förderung der solidarischen Ökonomie verabschiedet, die «Initiative für soziales Unternehmertum». Zum sozialen Unternehmertum zählen Genossenschaften, Vereine oder Stiftungen, die sozial oder gemeinnützig agieren. Um ihre sozialen Ziele zu erreichen, müssen sie ihre Gewinne überwiegend reinvestieren. EU-weit sind mehr als 11 Mio. Arbeitnehmer*innen in diesem Sektor tätig, ca. 6 Prozent der Beschäftigten. Eins von vier neu in Europa gegründeten Unternehmen ist inzwischen ein Sozialunternehmen. Zurecht rückt das Ökosystem der Sozialen Ökonomie zunehmend stärker in den Fokus europäischer Förderrichtlinien. Mit Victor Mesenger ist seit kurzem ein langjähriger Experte aus dem Europäischen Netzwerk der Sozialen und Solidarischen Ökonomie Staatssekretär im spanischen Arbeitsministerium. Die baskische Kooperative Mondragón, inzwischen das siebtgrößte Unternehmen Spaniens und die weltweit erfolgreichste Genossenschaft, kann als gesamteuropäisches Vorbild für den Aufbau eigenständiger Strukturen nachhaltiger Regionalentwicklung gelten.
Es bleibt zu hoffen, dass es der spanischen Ratspräsidentschaft gelingt, die Bedeutung der Solidarischen Ökonomien in und für Europa sichtbarer zu machen und noch flächendeckendere Unterstützungs- und Förderstrukturen aufzubauen. Vielen Initiativen fehlt es weiterhin an Ausstattung, Gründungskapital und Beratungsstrukturen. Dem Sektor insgesamt noch immer an der adäquaten gesellschaftlichen Anerkennung und Augenhöhe.
Auch hier bietet sich an, vom Süden zu lernen: in Brasilien gelang es der economía solidária, breite Unterstützungsstrukturen bis hinein in Bildung, Hochschulbildung und Wirtschaftsförderung zu etablieren. Auch in Europa kann ein solcher Weg den großen Zielen des Kontinents zur Umsetzung verhelfen, insbesondere der grünen Transformation und der sozialen Inklusion. Beide werden sich als wesentlich für die dauerhafte Stabilität unserer Demokratie erweisen.
Literatur
Bayer, Kristina, Flieger, Burghard, Menzel, Sonja, Thürling, Marleen (2021): Bürgergenossenschaften in den neuen Ländern - Engagiert für das Gemeinwesen. Studie im Auftrag des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie (BMWi). Berlin. Online
Bayer, Kristina und Dagmar Embshoff (2015): Der Anfang ist gemacht: Band I, Kultur der Kooperation, Die Gruppe. Ulm: AG SPAK.
Exner, Andreas (2020): Gabe statt Tausch: Mit Solidarischer Ökonomie zur sozial-ökologischen Transformation. In: PROKLA. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft, 50(199), S. 259–276. Online https://doi.org/10.32387/prokla.v50i199.1866.
Giegold, Sven, Dagmar Embshoff (Hrsg.) (2008): Solidarische Ökonomie im globalisierten Kapitalismus. Hamburg: VSA-Verlag.
Müller-Plantenberg, Clarita, Alexandra Stenzel (2008): Atlas der solidarischen Ökonomie in Nordhessen: Strategie für eine nachhaltige Zukunft. Kassel: kassel university press.
Beitrag im Newsletter Nr. 7 vom 27.7.2023
Für den Inhalt sind die Autor*innen des jeweiligen Beitrags verantwortlich.
Autorin
Dr. Kristina Bayer forscht und lehrt seit 15 Jahren an der Universität Kassel zu Solidarischen Ökonomien. Als Vorstandsmitglied der innova eG entwickelt sie genossenschaftliche Lösungen und berät Einzelinitiativen. Aktuell liegt ihr besonderer Schwerpunkt im ländlichen Raum.
Kontakt: kristina.bayer@uni-kassel.de
Weitere Informationen: https://www.uni-kassel.de/fb05/fachgruppen-und-institute/politikwissenschaft/fachgebiete/vergleichende-politikwissenschaft/team-1/lehrbeauftragte/dr-kristina-bayer
Redaktion
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