Beitrag in den Europa-Nachrichten Nr. 7 vom 27.7.2023

Ein soziales Europa: «Im Geiste der europäischen Solidarität» darf nicht nur während Krisen gelten

Christian Petry

Inhalt

Einleitung
Europäische Solidarität in Krisenzeiten
Solidarische Integrationsfortschritte verstetigen
Europäische Solidarität: Mehr als nur effektives Mittel zur Krisenbekämpfung
Autor
Redaktion

Einleitung

«Europa, näher» unter dieses Motto stellt Spanien seine fünfte EU-Ratspräsidentschaft und rückt damit die europäischen Werte in den Mittelpunkt. Das Motto betont die Bedeutung enger europäischer Zusammenarbeit und vertiefter Integration und greift damit eine zentrale Lehre der europäischen Krisenbewältigung auf: Nur ein gemeinsames und europäisch abgestimmtes Vorgehen erzeugt nachhaltige Wirkung. Eine Lehre, die sich in der COVID-19-Pandemie bewahrheitet hat und sich auch auf die Klimakrise übertragen lässt. Denn weder Pandemien noch die Folgen des Klimawandels stoppen an den Grenzen von Nationalstaaten. Der Umgang mit diesen Krisen kann deshalb nur grenzüberschreitend erfolgen, mit gemeinsamen Kraftanstrengungen und gebündelter europäischer Expertise.


Europäische Solidarität in Krisenzeiten: Erfahrungen aus der COVID-19-Pandemie

Zuletzt hat die COVID-19-Pandemie gezeigt, zu welchen wirkungsmächtigen Entscheidungen die Europäische Union (EU) in der Lage sein kann, wenn sie zusammensteht. Während noch zu Beginn der Pandemie nationale Alleingänge in Form von unkoordinierten Grenzschließungen oder Exportverboten für Schutzausrüstungen und kritische medizinische Güter der Solidarität innerhalb der EU stark geschadet haben, konnte ein «Impfstoffnationalismus» zwischen den Mitgliedstaaten vermieden werden. Zentral für das wirkungsvolle Agieren bei der Impfstoffbeschaffung war Art. 122 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV). Der Artikel appelliert an die Mitgliedstaaten in Krisen «im Geiste der Solidarität zu agieren» und ermöglicht unter anderem schnelle Entscheidungsfindungen durch Mehrheitsentscheidungen.

Diese sogenannte «Notfallklausel» erlaubt der EU zudem finanzielle Unterstützung zur Bewältigung außergewöhnlicher Ereignisse zu gewähren. In der COVID-19-Pandemie ermöglichte diese Bestimmung der EU, die sozialen und ökonomischen Folgen der Pandemie in den Mitgliedstaaten abzumildern. So wurde, basierend auf dem Grundsatz der europäischen Solidarität, unter anderem das Kurzarbeitsgeld-Programm SURE eingeführt. Dessen 100 Mrd. Euro haben dazu beigetragen, die sozialen und ökonomischen Folgen der Krise in den Mitgliedstaaten zu begrenzen und die Arbeitslosigkeit während des Gesundheitsnotstands einzudämmen. Das war ein wichtiger Schritt. Doch neben der Aussetzung der budgetären Restriktionen des Stabilitäts- und Wachstumspakts war die Schaffung des Wiederaufbaufonds NextGenerationEU für die Jahre 2021-2027 die bisher entschiedenste Krisenreaktion der EU.

Das Aufbauinstrument NextGenerationEU und sein Herzstück, die knapp €724 Mrd. Euro umfassende Aufbau- und Resilienzfazilität, hat es den Mitgliedstaaten ermöglicht, Zukunftsinvestitionen zur Abmilderung und Überwindung der durch die Pandemie ausgelösten tiefen wirtschaftlichen und sozialen Verwerfungen zu tätigen. Finanziert wird der Wiederaufbaufonds gemeinsam durch Mittel, die die Kommission im Namen der EU an den Kapitalmärkten aufnimmt. Die Auszahlungen erfolgen auf Grundlage von Wiederaufbauplänen, die die Mitgliedstaaten bei der Kommission einreichen, von dieser geprüft und vom Rat genehmigt werden. Die Mittel werden sowohl als Kredite als auch als nicht zurückzuzahlende Zuschüsse vergeben. Damit ermöglicht NextGenerationEU den Mitgliedstaaten, sich gemeinsam von den Auswirkungen der Pandemie zu erholen und durch Zukunftsinvestitionen Impulse für benötigte sozial-ökologische Transformationsprozesse zu setzen. Dieses solidarische finanzpolitische Krisenmanagement unterscheidet sich stark von der Bewältigung der Eurokrise, die die Mitgliedstaaten vorrangig alleine bewältigen sollten und bei der Austeritätsmaßnahmen im Vordergrund standen. Aus diesen Fehlern hat die EU gelernt und mit NextGenerationEU unter Beweis gestellt: Solidarische Wirtschafts- und Finanzinstrumente sind keine Utopie. Dieses Momentum muss nun genutzt werden.


Solidarische Integrationsfortschritte verstetigen

Jean Monnet prägte einst die These: «Europa wird in Krisen geschmiedet, und es wird die Summe der zur Bewältigung dieser Krisen verabschiedeten Lösungen sein». SURE und NextGenerationEU haben die EU näher zusammengerückt und zu einem sozialeren Europa gemacht. Doch damit beide Instrumente tatsächlich strukturbildenden Charakter entwickeln, müssen aus meiner Sicht diese Integrationsfortschritte verstetigt werden.

Um die notwendige Steigerung öffentlicher Investitionen in europäische Schlüsselbereiche zu gewährleisten und aktuelle Herausforderungen im Bereich Klima, Energie und Digitalisierung solidarisch zu meistern, braucht es eine Stärkung der Einnahmenseite. Die Debatte über neue Eigenmittel muss deshalb in den kommenden Monaten weiter forciert werden, wie es die spanische Ratspräsidentschaft angekündigt hat. Sie hat sich ebenfalls zu Ziel gesetzt, die Festlegung gemeinsamer Mindeststandards für die Unternehmensbesteuerung in allen Mitgliedstaaten voranzutreiben und die Steuervermeidung durch große multinationale Unternehmen stärker zu bekämpfen. Dies würde die Finanzkraft der Mitgliedstaaten stärken und könnte einen Beitrag dazu leisten, die Finanzierung der EU dauerhaft gerechter und eigenständiger zu gestalten.

Zusätzlich brauchen wir ein vereinfachtes, flexibleres und gleichzeitig verbindlicheres Rahmenwerk für die wirtschafts- und finanzpolitische Koordinierung. Das heißt, auf die individuelle Situation der Mitgliedstaaten zugeschnittene haushaltspolitische Anpassungspfade in Form mehrjähriger Ausgabenziele, die mit einheitlich greifenden Korrekturmechanismen zu kombinieren sind, sollten gemeinsam vereinbarte Zielvorgaben verfehlen werden. Um die künftigen Regeln verbindlicher und attraktiver zu machen, könnten meiner Meinung nach außerdem die notwendigen Reformen und fiskalischen Anpassungen mit Anreizen durch einen europäischen Investitionsfonds verbunden werden.

Stand jetzt werden die ausgesetzten Fiskalregeln des Stabilitäts- und Wachstumspakts ab 2024 wieder in Kraft treten, und damit wieder starre Grenzwerte für die Staatsverschuldung der Mitgliedstaaten gelten. In Konsequenz würde das für viele Mitgliedstaaten deutliche Kürzungen erzwingen, die sich in der Sozialpolitik niederschlagen oder Zukunftsinvestitionen in grüne Technologien und die Digitalisierung behindern könnten. Statt einer Rückkehr zu einer solchen Kürzungspolitik sollte aus meiner Sicht die gemeinsame Investitionspolitik Europas weiter vorangetrieben werden. Dabei muss es bei der Reform des Stabilitäts- und Wachstumspakts im Kern um den Balanceakt zwischen Haushaltsdisziplin und Zukunftsinvestitionen gehen. Es ist zu begrüßen, dass die spanische Ratspräsidentschaft angekündigt hat, den Reformprozess des Stabilitäts- und Wachstumspakts weiter voranzutreiben, mit dem Ziel, noch vor Jahresende zu einem Ergebnis zu kommen.


Umweltverbände: «Etappensieg» und «historischer Erfolg»

Trotz der Abschwächungen betonen Umweltorganisationen die historische Bedeutung der Verordnung zur Wiederherstellung der Natur und begrüßen, dass die Blockade der EVP verhindert werden konnte. Vernunft und Weitsicht haben gegenüber einer beispiellosen Desinformationskampagne konservativer Kreise gesiegt. Denn resiliente Wälder, lebendige Auen, nasse Moore und artenreiche Agrarlandschaften sind nicht nur entscheidend für die Biodiversität, sondern auch unsere überlebensnotwendige Versicherung gegen zukünftige Schäden durch Trockenheit, Dürre und Überschwemmungen.


Europäische Solidarität: Mehr als nur effektives Mittel zur Krisenbekämpfung

Die COVID-19-Pandemie ist so gut wie überwunden, doch der völkerrechtswidrige Angriffskrieg der Russischen Föderation auf die Ukraine, die damit einhergehende Energiekrise und der Umgang mit der Klimakrise sind und bleiben enorme Herausforderungen für uns. Auch diese benötigen ein abgestimmtes Krisenmanagement und europäische Lösungen, um ihnen wirksam zu begegnen. Doch europäische Solidarität sollte nicht nur als effektives Mittel zur Krisenbekämpfung verstanden werden. Auch um unseren eigenen demokratischen, sozialen und ökologischen Gestaltungsansprüchen gerecht zu werden, braucht es mehr Solidarität. Denn wachsende Ungleichheit bei Einkommen und erheblich unterschiedliche Standards bei Arbeitsbedingungen innerhalb und zwischen den Mitgliedstaaten können die soziale Stabilität und demokratische Legitimation der EU ebenso gefährden wie externe Krisen.

Neun von zehn interviewten Personen in der EU geben in jüngeren Umfragen an, dass für sie ein soziales Europa wichtig ist. Und 71% der Befragten halten einen Mangel an sozialen Rechten für ein schwerwiegendes Problem ( Vgl. Spezial-Eurobarometer 509 zu sozialen Fragen, März 2021). Umso erfreulicher ist, dass Spanien explizit die Stärkung der europäischen Einheit und die Förderung der sozialen und wirtschaftlichen Gerechtigkeit als zwei seiner vier Prioritäten während der Ratspräsidentschaft benennt. Denn es ist klar: Europäische Solidarität muss auch zur Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen sowie der Gleichwertigkeit der Lebensbedingungen aller Europäer*innen beitragen. Zentral sind dabei grundlegende gemeinsame europäische Arbeits- und Sozialstandards. Zwar liegen die Kompetenzen für die Sozialpolitik primär bei den Mitgliedstaaten, doch auf europäischer Ebene können gemeinsame Mindeststandards vereinbart werden, um unfairen Wettbewerb zulasten der Beschäftigten zu unterbinden. Ein großer Erfolg war hierbei die Verabschiedung der EU-Mindestlohnrichtlinie im September 2022, die sowohl Mindeststandards für die Verfahren zu Festsetzung von nationalen Mindestlöhnen vorgibt als auch die Tarifbindung in den Mitgliedstaaten stärken kann. Faire Wettbewerbsbedingungen und hohe Arbeits- und Sozialstandards in der EU sind die Grundlage für den Wohlstand und das Wohlergehen unserer Bürgerinnen und Bürger. Darauf richtet sich die spanische Ratspräsidentschaft und auch wir werden sie von deutscher Seite dabei tatkräftig unterstützen.


Beitrag im Newsletter Nr. 7 vom 27.7.2023
Für den Inhalt sind die Autor*innen des jeweiligen Beitrags verantwortlich.

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Autor

Christian Petry ist europapolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion und vertritt seit 2014 den Wahlkreis St. Wendel. Zudem ist er seit 2020 Mitglied der Parlamentarischen Versammlung des Europarats und seit 2021 Delegationsleiter der Bundestags-Delegation Konferenz über Stabilität, wirtschaftspolitische Koordinierung und Steuerung in der EU. Als Vizepräsident der Europäischen Bewegung Deutschland setzt er sich auch ehrenamtlich für die Förderung der europäischen Integration ein.

Kontakt: christian.petry@bundestag.de

Weitere Informationen: https://www.spdfraktion.de/abgeordnete/petry


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